6. Türchen

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Es war definitiv die falsche Idee gewesen zu kommen. Die Schwimmhalle war bis zum Bersten gefüllt und die Mischung aus Hintergrundmusik und Stimmengemurmel der anderen Menschen beinahe so laut, dass es ihr in den Ohren wehtat. Für ihren Geschmack waren es zu viele Menschen auf einem Haufen. Zu nah. Zu eng. Zu unangenehm. Sie passte nicht hier hin und dass war auch für jeden sichtbar, schließlich war sie scheinbar die Einzige, die ohne Begleitung gekommen war. Sie konnte ein paar Schüler aus der Sportlerklasse einen Jahrgang über ihr über sie tratschen hören und sie konnte nicht verhindern, dass ihre Ohren vor Scham rot leuchteten. Sie hätte es wissen müssen, dass so viele Sportler aus ihrer Schule anwesend waren, immerhin startete Matze an diesem Tag und dieser war mit einer der beliebtesten Schüler überhaupt. Nicht zu vergessen ein guter Freund von Jonas. Dumm und dumm gesellt sich gern, pflegte Nicholas stets zu sagen. Nur wegen dem Schwarzhaarigen saß sie überhaupt in diesem zu warmen, nach Chlor stinkenden Raum. Nicholas war zwar eigentlich Triathlet, aber hin und wieder startete er auch im Schwimmen. Er war gut darin, es war auch seine beste Disziplin. Es wunderte sie nicht, immerhin besaß er riesige Hände, um das Wasser vor sich zu verdrängen. Am Strand hielt er oft ihre Hand, die in seiner beinahe ertrank und kam sich neben ihm wie ein Kleinkind vor. 

Er hatte Dank seiner Leistungen schon die ein oder andere Medaille mit nach Hause gebracht, nur gab es dort niemanden, der sich mit ihm über diesen Erfolg freute. Julia wusste, dass Nicholas Zuhause in einem ähnlich zerstörten Zustand war, wie das ihre. Sie sprachen nie über Details, weil Nicholas zuvor jedes Mal das Thema wechselte, aber sie bemerkte seine Ausdruckslosigkeit, wenn er von zuhause sprach. Den Sport machte er nur für sich. Als Ausgleich. Er hatte einmal gesagt, dass sich außer ihm niemand darum scheren würde und diese Äußerung hatte sie traurig gemacht. Schließlich strahlte er immer über das ganze Gesicht, wenn er mal vom Training erzählen konnte. Deshalb fragte sie ihn oft danach. Nicht weil es sie besonders interessierte. Sie verstand von Triathlon nicht viel und guckte auch nicht gerne Sport, aber als er sie gefragt hatte, ob sie ihm bei diesem Wettkampf zusehen würde, hatte sie sich seinem Wunsch ergeben. Mittlerweile bereute sie das. Sie konnte die kritischen Blicke der anderen im Rücken spüren, während sie sich zwang, sich ganz darauf zu konzentrieren, dass Nicholas gleich dran sein würde.

Er stand bereits auf dem Startpodest und als der Startschuss fiel, sprang er blitzschnell ins Wasser, so dass sie sich anstrengen musste, seine Badekappe von denen der anderen zu unterscheiden. Wasser spritzte und einige Menschen sprangen vor Spannung von ihren Plätzen, auch Julia war unter ihnen, aber mehr, weil die Leute vor ihr ihr die Sicht auf Nicholas versperrten. Dieser schoss mit aller Kraft durch das Becken. Einen Hauch vor allen anderen. Sie biss sich auf die Lippe und hoffte, schickte ihm stumm alle Unterstützung, die sie ihm geben konnte, bis das Ende der zwei Bahnen erreicht war. Sie traute sich nicht auf die Anzeigentafel zu sehen, aber als der Stadionsprecher die Ergebnisse verkündete, gab es keinen Zweifel mehr. Ihr Grinsen sprach für sich.

Irgendwann nach den Siegerehrungen hatten sich die Platzreihen geleert. Obwohl sie getrödelt hatte, war von Nicholas immer noch nichts zu sehen. Vielleicht war er auch einfach schon gegangen, weil er davon ausgegangen war, dass sie ohnehin nicht kommen würde. Also erreichte sie allein den Ausgang und öffnete schon die Tür, als hinter ihr Schritte erklungen.

„Julia!"

Wie erstarrt blieb sie stehen und drehte sich dann freudestrahlend zu Nicholas um.

„Ich dachte, du wärst schon weg."

„Quatsch. Ich musste bloß länger bei den Duschen warten, weil alle besetzt waren. Als ob ich abhauen würde, wo du doch extra gekommen bist."

„Herzlichen Glückwunsch zum Sieg", unterbrach sie ihn sanft und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, wobei sie das Kribbeln ihrer Lippen gekonnt ignorierte.

„Danke", antwortete er errötend, bevor er hastig nach seinem Rucksack griff, „wo wir gerade dabei sind..."

Aus einem Seitenfach des Rucksacks fischte er seine Medaille hervor und hielt sie ihr entgegen. Als sie nicht reagierte, schien er bemüht nicht zu lachen, sondern nahm das Band der Medaille in beide Hände und legte es ihr tatsächlich um den Hals.

„Nicht, es ist deine", sagte sie und versuchte ihn davon abzuhalten, doch Nicholas schüttelte nur mit dem Kopf.

„Sie ist deine, ich habe sie für dich gewonnen", sein Blick glitt zu Boden, „Dass ist das erste Mal seit Jahren, dass mir jemand zusieht, der mir etwas bedeutet. Die Medaille ist das Mindeste, was ich dir dafür geben will."

Tatsächlich lud er sie daraufhin auch noch zu einem Eis ein und es war schwer zu sagen, wer von ihnen breiter lächelte.



Noch einmal fliegenWhere stories live. Discover now