13. Türchen

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Es waren ein paar Wochen vergangen nach jenem Tag, als Julia in Emilios Laden von Jonas beklaut worden war und anschließend Nicholas kennen gelernt hatte. Ihre Pausen hatte sie weiter in der Bibliothek oder auf der Suche nach Schokolade verbracht, doch Nicholas hatte sie nun immer dabei begleitet und war ihr nicht von der Seite gewichen. Sie hatte nie geglaubt einmal einen Menschen zu finden, dessen Gegenwart sie so angenehmen finden würde. Nicholas war von Anfang an ihr bester Freund gewesen. Er war von heute auf morgen für sie da gewesen, hatte ihre Launen akzeptiert, über ihre Witze gelacht und sie sich an seiner Schulter ausheulen lassen. Dass war an diesen Tagen, in denen die Scheidung ihrer Eltern kurz bevorstand, häufig vorgekommen. Er hatte wie kein anderer gewusst, was sie brauchte, dass sie keine tröstenden Worte hören wollte, weil diese ohnehin nichts ändern würden und dass es genügte, ihr stillschweigend über den Rücken zu streichen. Und draußen auf dem Schulhof, wenn ihre Tränen getrocknet waren, da hatte er sie beschützt. Nicholas war nicht so beliebt gewesen wie andere Sportler, aber dennoch hatten die meisten Respekt vor ihm gehabt und so hatten die anderen sie in Ruhe gelassen, sobald er es nur gefordert hatte. Natürlich war sie überglücklich darüber gewesen, denn sie konnte sich ab da an plötzlich wieder frei und sorglos auf dem Schulhof bewegen und selbst die Blicke der anderen prallten mittlerweile an ihr ab, weil sie nicht mehr alleine anders gewesen war, sondern jetzt gemeinsam einsam sein konnte.

Aber wenn das Leben sie eines gelehrt hatte, dann dass es grundsätzlich nach seinen eigenen Regeln spielte und so hätte sie schon ahnen müssen, dass die glückliche Blase, in der sie sich bewegte, irgendwann würde platzen müssen. Ihr strahlendes Lächeln hatte gehalten, bis Nicholas an einem Mittwoch unerwartet länger beim morgendlichen Training hatte bleiben müssen und ihr in einer kurzen Nachricht schrieb, dass er die erste Hofpause verpassen und erst später zur Schule kommen würde. Es war ihre erste Hofpause ohne ihn gewesen. Erst zu diesem Zeitpunkt war ihr aufgefallen, wie stark sie sich an ihn gewöhnt hatte und was ohne ihn fehlte. Die Einsamkeit hatte sie fast erschlagen, doch sie hielt sich tapfer daran fest, dass er gewiss bald kommen würde. Dieser Hoffnung hatte Jonas schnell ein Ende gesetzt.

Kaum, dass er sie allein auf dem Flur auf dem Weg zu ihrem Klassenzimmer gesehen hatte, hatte er sie an ihrer Tasche gepackt und brutal zurückgezogen. Er hatte sie gegen die Wand gestoßen und seinen Unterarm dabei gegen ihre Kehle gepresst, so dass sie große Probleme damit hatte Luft zu holen. Schwarze Punkte waren vor ihren Augen auf und ab gehüpft, als er sich zu ihr vorgelehnt hatte, um ihr ins Ohr zu flüstern.

„Wie ich sehe, hast du deinen Schoßhund heute gar nicht dabei", hatte er gesagt, „Zu schade. Niemand da, der mich davon abhalten könnte, dir weh zu tun. Ich habe dich schon viel zu lange nicht mehr ärgern können."

Sie hatte gekeucht und irgendwie versucht sich aus seinem Griff zu winden, doch er war viel stärker als sie gewesen. Julia hatte nicht den Hauch einer Chance gehabt, als seine flache Hand gegen ihr Gesicht schlug und der Schall der Ohrfeige in ihrem Trommelfell nachhallte. Sie hatte keine Zeit gehabt, sich von dem Schlag zu erholen, weil er ihr sogleich noch einen in den Magen versetzt hatte, so dass sie nur noch schlaff an der Wand hing und ohne die Kraft seines Armes zu Boden gegangen wäre. Sie hatte sich damals gefühlt, als hätte er sie mit Eiswasser übergossen, sie aus ihrem warmen Schutzmantel gezerrt und sie in das Loch zurückgeworfen, aus dem sie gerade erst gekrochen war.

„Dreck bleibt Dreck", hatte er ihr ins Ohr gezischt und sie anschließend fallen lassen.

Das Aufkommen auf dem Boden hatte mehr als alles andere geschmerzt, weil sie den Fall nicht hatte kommen sehen und so ohne sich abfangen zu können, auf die Fliesen krachte. Sie hatte einige der Umstehenden nach Luft schnappen hören können, manche von ihnen hatten aber auch gelacht und sie hatte nur dort gelegen und sich gewünscht, der Boden würde sich auftun und sie verschlucken. Doch er war ihrem Wunsch nicht nachgekommen. Mit letzter Kraft hatte sie sich aufgerappelt und war hinausgelaufen. Weg von der Hölle, die sich Schule nannte.

Irgendwann war sie im Stall angekommen, dem wohl einzigen Ort, der sie immer glücklich zu machen vermochte. Sie hatte sich in eine der Decken eingehüllt und hatte sich in die Box ihres Pferdes verzogen, ohne zu bemerken, wie das Blut aus ihrer Nase geflossen war. Weiche Nüstern hatten sie angestupst, wohl in der Hoffnung sie aus ihrer Starre erwecken zu können, doch Julia hatte sich nicht gerührt. Nur gezittert. In ihren Gedanken war immer wieder Jonas Gesicht aufgetaucht. Die Ohrfeige. Der Schmerz, aber vor allem die Demütigung. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wie viele Stunden vergangen waren, bis jemand in der Stallgasse ihren Namen rief. Auch darauf hatte sie nicht reagiert, bis dieser jemand die Boxentür geöffnet und sich zu ihr gesetzt hatte. Natürlich war es Nicholas gewesen. Er hatte noch seine Trainingssachen angehabt und war genau wie sie an diesem Tag nicht zum Unterricht erschienen, um nach ihr zu suchen. Keine Sekunde hatte er gezögert, bis er sich sein T-Shirt ausgezogen und es gegen ihre Nase gepresst hatte. Es war der Augenblick gewesen, in dem sie das Blut sah und ihm schniefend von allem erzählt hatte. Nicholas hatte sich alles angehört. Er hatte genickt, gewartet bis sie sich beruhigt hatte, dann hatte er sich ein Halfter geschnappt und sie waren zu dritt spazieren gegangen. Julia mit seinem T-Shirt an der Nase und er mit einem Pferd am Strick, wo er doch noch nie eines geführt hatte. Am Ende des Spazierganges hatte er alle Hände voll gehabt. Die eine mit dem Strick, die andere mit ihrer Hand. Und während die ganze Schule am Tag darauf, als an allen Türen und Wänden der Schule peinliche Kinderbilder von Jonas hingen, gerätselt hatte, wer wohl dahinter stecken konnte, hatte Julia bloß ein Stück ihrer Schokolade abgebrochen und es mit Nicholas geteilt. Jonas hatte es nie wieder gewagt, ihr zu nahe zu kommen. Nicht ein einziges Mal.



Noch einmal fliegenWhere stories live. Discover now