12. Türchen

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„Vermisst du es manchmal?!", fragte sie ihn leise.

„Was meinst du?"

„Den Sport, dass Einlaufen ins Ziel, das Laufen?", fasste sie ihre Gedanken zusammen, „Alles irgendwie."

„Selten", antwortete er nach einer kurzen Pause, „Ich habe damals nur mit dem Leistungssport angefangen, damit mein Vater irgendeinen Grund hatte, sich mit mir zu beschäftigen. Es war toll für ihn einen Sohn zu haben, mit dem er angeben konnte, aber irgendwann hat es ihn nicht mehr interessiert. Als er nicht mehr zu den Wettkämpfen kam, hatte ich das Gefühl irgendwie weiter machen zu müssen und dann warst du immer zum anfeuern da." Er schenkte Julia ein Lächeln. „Aber das warst du immer. Mit oder ohne den Sport."

Wenn es einen Menschen gab, den sie mehr als alle anderen hasste, dann war es Nicholas Vater. Sie kannte niemanden, der gefühlskälter war als er und gleichzeitig so arrogant. Er hatte Nicholas immer mit Missachtung gestraft und hatte ihn dennoch in die Rolle des perfekten Sohnes pressen wollen. Sie würde nie vergessen, was geschehen war, nachdem Nicholas einmal bei der Deutschen Meisterschaft mit einem anderen Radfahrer aus Versehen kollidiert war und die verlorene Zeit zur Spitze nicht hatte aufholen können. Als er am nächsten Tag zur Schule gekommen war, hatte sie geglaubt, dass er während des Wettkampfes gestürzt war, das erzählte er jedenfalls allen anderen, um ihnen einen Grund für sein blaues Auge zu liefern. Doch Julia hatte das verräterische Zucken seiner Mundwinkel erkannte und mit Erschrecken festgestellt, dass er gelogen hatte. Daraufhin hatte sie ihn nach dem Unterricht zur Rede gestellt. Es hatte etwas Zeit gebraucht, aber dann hatte er sich ihr anvertraut und ihr gebeichtet, dass sein Vater ihn aufgrund seines Misserfolges geschlagen hatte. Sie wusste noch, wie sie damals angefangen hatte zu weinen. Noch nie zuvor war sie so wütend gewesen. Sie hatte nicht verstanden, wie er in der Lage gewesen war, seinem eigenen Sohn so etwas anzutun. Während sie sich vor Nicholas zusammengerissen und sein Auge vorsichtig mit Eis gekühlt hatte, als ihre Tränen versiegt waren, hatte sie klamm heimlich einen Plan geschmiedet, den sie auch sogleich umgesetzt hatte, als Nicholas nachmittags zum Training aufgebrochen war.

Die Wut hatte ihr genug Mut verliehen, an jener Haustür zu klingeln, die zu dem Monster gehörte. Sie würde ihn fortan nur noch so nennen, es geschah ihm nur recht. Sie hatte nicht ängstlich gezittert, wie sie es befürchtet hatte, sondern hatte mit Erstaunen feststellen müssen, dass sie vollkommen ruhig gewesen war. Nach dem Klingeln waren Geräusche im Inneren des Hauses erklungen und nur Sekunden später war die Tür aufgerissen worden. Sie hatte ihm ins Gesicht gesehen. Noch immer ganz ruhig, aber voller Hass. Er hingegen hatte sie mit hochgezogenen Augenbrauen angesehen, als habe er es nicht fassen können, dass sie es gewagt hatte, seine Zeit in Anspruch zu nehmen.

„Was willst du?", hatte er sie angeblafft, wie sie es von ihm erwartet hatte. Sie hatte ihn bis zu diesem Tag schon vieles zu getraut. Wirklich viele Gemeinheiten, aber er hatte eine Grenze überschritten. Das würde er verstehen müssen. Nach allem was Nicholas für sie getan hatte, war sie ihm dies hier schuldig gewesen. Er hatte sie so oft beschützt und getröstet, jetzt hatte sie die Chance ergriffen, für ihn stark zu sein.

„Nicholas ist nicht da", hatte er hinzugefügt und hatte sich nicht die Mühe gegeben, so zu tun, als sei er nicht genervt, „Ich weiß nicht, wo er ist."

Natürlich hatte er das nicht gewusst. Woher auch? Es hätte bedeutet, dass er sich mit seinem Sohn hätte auseinandersetzen müssen.

„Ich weiß, was du getan hast", hatte sie geantwortet und ihm dabei fest in die Augen gesehen, „Und es wird das letzte Mal gewesen sein, dass du es getan hast."

Er hatte sie für einen Moment nur angestarrt, offenbar hatten ihre Worte ihn überrumpelt und er hatte nicht gewusst, wie er reagieren und auf ihren offensichtlichen Angriff eingehen sollte. Er hatte den Weg gewählt, den er immer wählte. Konfrontation. Drohend war er ihr näher gekommen, die Hände zu Fäusten geballt, als würde er ihr auch einen Schlag zu versetzen, nur um ihr zu zeigen, dass es ihn einen Dreck interessierte, was sie ihm sagte.

„Pass auf, mit wem du dich anlegst", hatte er gezischt, „Und in wessen Angelegenheiten du dich einmischst."

„Es ist mir egal, was du mir zu sagen hast", hatte sie erwidert, „Ich bin nur hier, um dich wissen zu lassen, dass ich nicht zögern werde, zur Polizei zu gehen. Ich weiß, dass du Nicholas genug Angst eingejagt hast, damit er genau das nicht tut. Aber mich kannst du nicht 24 Stunden lang unter Druck setzen und kontrollieren. Sollte er also jemals wieder etwas in diese Richtung erzählen, werde ich dich anzeigen. Also lass ihn in Ruhe!"

„Das traust du dich nicht!"

„Und ob ich das tue", damit hatte sie ihm den Rücken zugewandt und war mit rasendem Herzen von dannen gezogen, in der Hoffnung, dass nun alles besser werden würde.

Es war besser geworden. Nicht alles und er hatte sich komplett aus Nicholas Leben herausgenommen, aber dafür hatte er seinen Sohn nicht mehr geschlagen. Immerhin ein kleiner Erfolg. Nicholas hatte sich zwar darüber gewundert, warum dieses Verhalten so plötzlich eingetreten war, doch überrascht hatte es ihn nicht. Er war nie dahintergekommen, dass es Julia bei seinem Vater gewesen war und es war bis heute eines der wenigen Geheimnisse, dass sie vor Nicholas verborgen hielt. Sie hielt es für das Beste. Er würde ohnehin bloß außer sich sein und ihr Vorwürfe machen, wie gefährlich ihr Handeln gewesen war. Sicherlich hatte er damit nicht ganz Unrecht, bloß war es nötig gewesen.

„Julia?", holte sie da seine Stimme zurück in die Realität.

„Hmm?"

„Ich wollte dir noch sagen, warum wir wirklich hier sind", murmelte er leise und zog aus seiner Jackentasche einen Umschlag, den er ihr überreichte, „Mach ihn auf."

Behutsam kam sie dieser Aufforderung nach und riss den Umschlag an der oberen Seite auf. Zwei blaue Karten mit Eisbären darauf kamen zum Vorschein. Karten für den Polarball. Jener Ball, der an der Schule jedes Jahr zur Weihnachtszeit stattfand, um Geld für den eigentlichen Abiturball im Sommer zu sammeln. Ein Ball, der auch allen ehemaligen Schülern offenstand und den sie nie besucht hatte, zum einen, weil sie Jonas und seinen Leuten aus dem Weg gehen wollte, zum anderen, weil sie niemand gebeten hatte die Begleitung zu sein. Auch wenn sie es immer abgestritten hatte, war es ihr geheimer Traum gewesen, doch auf diesen Ball zu gehen und einen schönen Abend zu verbringen, so wie all die anderen. Auch sie hatte einmal das glückliche Mädchen aus den Filmen sein wollen, welches von ihrem Traumpartner über die Tanzfläche gewirbelt wurde. Sie hatte vergebens darauf gewartet. Bis jetzt. Bis sie dem Umschlag auch noch einen kleinen Zettel entnahm.

Du und ich?



Noch einmal fliegenWhere stories live. Discover now