9. Türchen

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Ein paar Tage später saß Julia in einem Café in der Stadt und beobachtete gedankenverloren das Treiben um sie herum. Es war ein Samstagnachmittag und die Stadt daher entsprechend voll. Zwischen Familien mit quengelnden Kindern, Freundinnen, die gemeinsam shoppen oder Paaren, die zusammen Händchen hielten, kam sie sich wie ein Exot vor, wie sie allein an ihrem Tisch saß und lustlos in ihrer heißen Schokolade herumrührte. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, warum sie sich hierauf eingelassen hatte, sicher hatte sie gute Gründe dafür gehabt, doch diese waren im Moment nicht greifbar. Eigentlich wollte sie nur wieder nach Hause, raus aus der Stadt, raus aus dem Café, bevor es zu spät war und ein Rückzieher unmöglich wurde. Wo am Anfang Ungewissheit gewesen war, was es mit dem Fragezeichen in Nicholas Liste auf sich hatte, herrschte nun die Erkenntnis, dass er es von langer Hand geplant hatte, ihr seinen Freund vorzustellen. Vielleicht hatte er auch einfach nur damit gerechnet, dass sie ihn danach fragen würde, nach jener wodkareichen Nacht der Enthüllung. Ehrlich gesagt, hätte sie den Wodka diesem Treffen mittlerweile vorgezogen, auch wenn der Kater am nächsten Tag grauenvoll gewesen war. Aber hier alleine an diesem Tisch musste sie sich fragen, ob sie wirklich so stark war, wie sie geglaubt hatte und mit jeder Sekunde schwand ihre Chance, dem ganzen noch zu entgehen.

Alles was sie bisher von Nicholas erfahren hatte war, dass sein Freund Louis hieß und er ihn im Studium kennengelernt hatte. Sie waren im selben Semester und waren einander durch Freunde vorgestellt worden. Und natürlich sei Louis wundervoll. Sie hatte sich bemühen müssen, dabei nicht mit den Augen zu rollen. Sie hatte nie geglaubt, dass Nicholas sich irgendwann einmal zu einem kitschigen Romantiker entwickeln würde, oder sie hatte es nicht wahrhaben wollen. Nun stand ihre erste Begegnung mit Louis also kurz bevor und ihr Magen zog sich bei diesem Gedanken schmerzvoll zusammen. Julia hasste es ohnehin sich zu dritt zu treffen, passte doch einer immer nicht so richtig dazu, doch sich mit einem Paar zu treffen war eine ganz andere Liga der Peinlichkeit. Womöglich würden sie sich küssen und sie wusste nicht, ob sie genug Kraft haben würde, ihr Herz zusammenzuhalten.

Sie kamen Hand in Hand und nahmen ihr die letzte Möglichkeit zur Flucht. Sie lächelten einander an. Dieses Lächeln, wo man wohl den Rest der Welt vergisst und sich ansieht, als sei man in seiner ganz eigenen Planetenkonstellation und würde nur umeinanderkreisen. Julia gehörte nicht zu diesem Universum, sie war bloß ein Zuschauer, der sich wünschte, dass zu haben, was Louis an seiner Seite hatte. Sie hatte sich versucht auszumalen, wie Louis wohl aussehen würde, aber keine ihrer Vorstellungen reichte an die Realität heran. Er war nicht der schöne Prinz, an den sie geglaubt hatte nicht heranreichen zu können. Kein Sportler wie Nicholas und auch kein Mensch, der einem sofort ins Auge fiel. Louis war der Inbegriff eines Durchschnittsmenschen mit braunen Augen und Haaren, einem Allerweltslächeln und einem langweiligen Haarschnitt. Er umarmt sie, nachdem Nicholas dasselbe getan hatte, obwohl er sie nicht kannte und sie hoffte, dass er nicht merkte, dass es ihr unangenehm war.

Dann redeten sie. Über Gott und die Welt, vor allem über das Paar und ihre Kennenlerngeschichte und Julia lächelte tapfer. So tapfer, dass sie glaubte, es würde ihr irgendwann aus dem Gesicht fallen müssen. Ihr Kiefer schmerzte vom Aufeinanderpressen ihrer Zähne und das Gespräch strengte sie enorm an. Doch sie hörte ihnen zu. Weil kein Zweifel daran bestand, dass diese beiden sich gesucht und gefunden hatten und auch wenn sie es nicht verstehen konnte, so akzeptierte sie es doch und fand mit der Zeit auch Dinge an Louis, die ihr gefielen. Nicht seine Vorliebe für Comics oder seine Leidenschaft für das Reisen. Sie war nie gerne umhergereist. Es war die Art, wie er seinen Arm um Nicholas Schultern schlang, wie er ihn hin und wieder an sich drückte, die bescheuerten Blicke des ein oder anderen Vorbeilaufenden ignorierend. Wie er Nicholas küsste und mit ihm sprach, ihn stets korrigierte, wenn Nicholas einmal schlecht von sich selbst sprach. Es gab ihr die Gewissheit, dass ihre Hoffnungen nicht umsonst gewesen waren und es ließ ihr Tränen in die Augen schießen, die sie eben so tapfer wie ihr Lächeln wegblinzelte. Es war nicht mehr schlimm, dass sie zur Außenstehenden mutierte, während Nicholas und Louis nur noch sich wahrnahmen. Es tat weh und es riss sie auseinander, aber es war okay. Sie würde damit leben können und mehr konnte sie nicht verlangen, außer vielleicht irgendwann dasselbe zu finden, was Nicholas in Louis gefunden hatte.

„Ich denke, ich sollte jetzt gehen", kam es ihr irgendwann nach einer Stunde über die Lippen.

„Aber wir sind doch noch gar nicht lange hier", warf Nicholas ein.

„Nur habe ich noch einiges vor und habe meiner Mutter versprochen, noch einkaufen zu gehen", erklärte sie und drückte ihn zum Abschied.

Danach wandte sie sich Louis zu und zog ihn dieses Mal von sich aus in eine Umarmung. Dabei lehnte sie sich vor, so dass ihr Mund fast sein Ohr streifte und murmelte ihm leise, so dass Nicholas es nicht hörte, etwas zu. Danke. Es war nur ein Wort, bedeutet für sie jedoch alles und es spielte keine Rolle, ob Louis es verstanden hatte oder nicht. Sie ließ die beiden eilig im Café hinter sich und fand sich draußen auf der Straße wieder. Tränen liefen ihr jetzt über das Gesicht. Aber es waren Tränen des Glücks.


Noch einmal fliegenWhere stories live. Discover now