11. Türchen

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Freiwillig wäre sie wohl niemals an diesen Ort zurückgekehrt, war er doch mit so vielen schlechten Erinnerungen verbunden. Aber jetzt stand sie wieder vor dem grünen Metallzaun, der das ganze Schulgelände umgab und kam nicht umhin, auch die schönen Momente ihrer Schulzeit wieder zu erinnern. Zur Schule zu gehen hatte auch immer bedeutet Nicholas zu sehen und jede Ecke des Schulhofes brachte ein anderes Bild mit ihm zurück, ein Erlebnis, eine Geschichte. Es war gerade Pausenschluss, als sie den Schulhof betraten und die Schüler sich hektisch daran machten, zurück in ihre Klassenräume zu gelangen. Vor wenigen Jahren war sie noch einer von ihnen gewesen und nun erschien es wie eine Ewigkeit, die sie von den grünen Tafeln, den Klassenarbeiten und den Hausaufgaben trennte. Während sie den Eingang des Schulhofes mit dem großen Basketballkörben hinter sich ließ und zu der großen Grünfläche mit den Schaukeln und Klettergerüsten wanderte, auf der sich an diesem Tag eine leichte Schneedecke abzeichnete, lief Nicholas nur schweigend neben ihr her. Sie schob es darauf, dass er seinen eigenen Gedanken nachhing, wobei er an diesem Tag auch so blass war, dass er dem Schnee beinahe Konkurrenz machte und sie sich wirklich fragte, ob es für ihn eine gute Idee gewesen war, dass Bett zu verlassen.

Hinter der Grünfläche erstreckte sich der riesige Sportplatz, der Ort, den sie neben der Turnhalle wohl am meisten gemieden hatte. Jonas hatte sich hier gerne herumgetrieben und außerdem hatte ihr Sport nie Spaß gemacht, außer das Reiten, welches ihr Herz erobert hatte. Sie konnte sich erinnern, wie Nicholas einmal versucht hatte, sie für Federball zu begeistern und wie kläglich er damit gescheitert war. Anlässlich des Sportfestes hatte er sie mit zwei Schlägern überrascht, die er ihr vor die Nase gehalten hatte. In der nächsten halben Stunde hatte sie nicht einen Ball getroffen und ganz nebenbei dafür gesorgt, dass Nicholas hunderte Abschläge vollführt hatte, bis sie es beide schulterzuckend aufgegeben hatten. Er hatte es danach nicht noch einmal versucht und sie waren sich im Stillen darüber einig geworden, dass es besser war, wenn sie nur zusah. Daran hatte sie irgendwann nach jenem ersten Schwimmwettkampf auch wirklich Spaß gefunden. Nicholas war einer der schnellsten Schüler gewesen und sie hatte es geliebt, wenn er siegte und sich mit einem Daumen hoch in ihre Richtung dafür bedankte, dass sie ihn von der Tribüne aus angefeuert hatte. Es war eine schöne Zeit gewesen.

Bis Nicholas sich kurz vor dem letzten Schuljahr schwer verletzt hatte. Es war einer der ersten Wettkämpfe im Jahr gewesen. Julia konnte sich nur zu gut daran erinnern, wie schrecklich das Wetter gewesen war und der Regen die ganze Nacht vor dem Wettkampf und am Wettkampfs Tag selbst, nicht hatte enden wollen. Daher hatte sie sich extra mit einem Schirm ausgestattet. Im Wasser selbst hatte Nicholas das natürlich nicht gestört und so hatte er den ersten Teilwettkampf erfolgreich hinter sich gebracht und sich dabei sogar in einer Spitzengruppe absetzen können. Julia war anschließend mit ein paar Zuschauern weitergefahren, um ihn an einem Teilabschnitt der Radstrecke anzufeuern, doch dort war Nicholas nie angekommen. Erst hatte sie geglaubt, dass er einfach etwas zurückgefallen war. Doch als das Mittelfeld an ihr vorbeigezischt war, hatten sich erste Zweifel in ihr geregt und sie hatte bemerkt, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. So war sie zum nächsten Streckenposten geeilt, hatte Nicholas Startnummer durchgegeben und war darüber informiert worden, dass er zu Beginn der Radstrecke in einer Kurve gestürzt war. Man hatte ihr noch sagen können, dass für ihn ein Krankenwagen bestellt worden war und dieser ihn bereits in das nahegelegene Krankenhaus gebracht hatte.

Sie wusste noch allzu gut, wie sie losgelaufen war, kaum, dass man ihr diese Nachricht übermittelt hatte. Die Strecke war weiträumig abgesperrt, so dass sie zu Fuß bis zum Krankenhaus lief. Der Wind hatte ihren Schirm irgendwann zerstört, der Regen ihre Klamotten bis auf die unterste Schicht durchnässt und ihre Kondition hatte sich auch irgendwann verabschiedet, aber sie hatte es schnaufend und triefend zum Krankenhaus geschafft. Zu diesem Zeitpunkt hatte man Nicholas bereits geröntgt und festgestellt, dass sein Bein, sowie zwei Rippen gebrochen waren. Für das Bein hatte man die OP auf den Abend angesetzt und so fand sie Nicholas wartend in einem Zimmer, das Gesicht voller getrockneter Tränen. Aufgrund seiner Rippen hatte sie es vermieden, ihn zu umarmen, aber sie hatte seine Hand ergriffen und diese fest gedrückt, als er erneut in Tränen ausgebrochen war und ihr erzählte, dass diese Saison für ihn gelaufen war.

Keiner von ihnen hatte zu diesem Zeitpunkt gewusst, dass es nicht nur bei dieser einen Saison bleiben würde. Nicholas hatte nie wieder in den Leistungssport zurückgefunden, auch wenn sie wusste, dass er es mittlerweile für besser hielt. Es hatte ihm die Möglichkeit gegeben zu erkennen, wer er ohne seinen Sport war, auch wenn es gewiss keine leichte Zeit gewesen war. Er hatte einen Balanceakt zwischen dem Stress zuhause, dem eigenen Frust und den Anstrengungen in der Schule hinlegen müssen, der ihm nur mit Mühe gelungen war. Doch es hatte ihn auch stärker gemacht und klarer in seinen Ansichten, was er sich für sich selbst wünschte.



Noch einmal fliegenWhere stories live. Discover now