5. Türchen

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Ein paar Tage später war es soweit und jener erste Tag mit einer ominösen Ziffer von Nicholas Liste hatte begonnen. Er hatte ihr natürlich weiterhin nichts verraten, nicht einmal einen Tipp hatte sie bekommen. Draußen war es kalt und nass. Der Regen hatte in der Nacht begonnen und machte nicht den Eindruck, als ob er heute noch ein Ende finden würde. Zusätzlich zischte ein frischer Wind durch die Bäume und doch wurde Julia das Gefühl nicht los, dass es Nicholas heute nach draußen ziehen würde. Dementsprechend hatte sie sich von der Thermoleggings, bis zu den dicken Handschuhen und der Wollmütze bestens ausgestattet. Lieber zog sie später etwas aus, als dass sie da draußen erfror. Ihr Herz schlug aufgeregt und schnell, beinahe als wartete sie auf ihr erstes Date. Nur war es das nicht. Es war nur Nicholas. Kein Grund zur Nervosität.

Von ihrem Fenster aus sah sie sein Auto vorfahren und wie er das Fenster herunterfahren ließ, um sie zu sich zu winken. Sie musste grinsen, als sich ihre Vermutung damit bewahrheitete. Natürlich nach draußen. Er hatte noch nie verstanden, warum sie bei Kälte nicht nach draußen wollte und sie hatte sich irgendwann damit abgefunden, dass er wohl ein gestörtes Kälteempfinden besaß. Eilig lief sie zu ihm hinunter und stürzte sich schnell auf den Beifahrersitz um dem Wind zu entgehen, der schonungslos gegen ihr Gesicht blies, um ihr die Wärme zu nehmen. Zum Glück hatte er die Güte besessen die Klimaanlage bereits angeschaltet zu haben. Zufrieden schloss sie für einen Moment die Augen, als sie sich in dem warmen Sitz zurücksinken ließ, bevor sie zu ihm schielte.

„Hey", begrüßte er sie grinsend.

„Sagst du mir jetzt, was wir vorhaben?", erwiderte sie brummend, was ihn zum Glucksen brachte.

„Das ist nicht witzig", fügte Julia hinzu, „Falls du es nicht gemerkt hast, ist das Wetter ekelerregend und ich habe wirklich keine Lust, ohne Plan durch die Weltgeschichte zu laufen und womöglich komplett zu durchnässen."

„Keine Sorge, ich habe dich nicht abgeholt, um mit dir wandern zu gehen", antwortete er amüsiert, „das hat letztes Mal schon nicht besonders gut geklappt."

Das war noch nett ausgedrückt. Julia hatte Wandern schon immer gehasst, aber sie hatte es nicht übers Herz gebracht nein zu sagen, als Nicholas damals vorgeschlagen hatte über Ostern einen Wanderurlaub zu machen. Dieser hatte schon am zweiten Tag sein Ende gefunden, nachdem sie nach zehn Kilometern das Handtuch geworfen hatte und Nicholas sie bis zur nächsten Unterkunft hatte tragen müssen, weil ihre Beine so geschmerzt hatten. Anstatt sich auf die Suche nach neuen Unterkünften zu suchen, waren sie einfach dortgeblieben. In einer einsamen Holzhütte. Mitten im Wald. Es war einer ihrer schönsten Urlaube gewesen.

„Wenn die Wanderung also glücklicherweise rausfällt, was hast du dann vor?"

„Wenn du glaubst, ich würde dir irgendetwas verraten, bis wir da sind, dann liegst du falsch", informierte er sie entschieden und wendete den Wagen, „Und jetzt mach die Augen zu."

Seufzend kam sie seiner Aufforderung nach, aber nur weil sie zuvor aus den Augenwinkeln gesehen hatte, dass er sich freute wie ein Kind an Weihnachten. Er hatte eindeutig Spaß an dieser Sache und den würde sie ihm niemals nehmen. Also versuchte sie sich bestmöglich zu entspannen und lauschte dem leisen Radio im Hintergrund. Die Fahrt dauerte nicht lange, gerade einmal eine halbe Stunde, dann brachte er den Wagen zum Halten und berührte sie am Arm. Ihr Zeichen die Augen wieder zu öffnen. Sie standen am Straßenrand und als sie zu ihrer Seite blickte, sah sie ein paar Bäume hinter denen sich bis zum Horizont das Wasser erstreckte.

„Das Meer", flüsterte sie leise, „Du hast uns ans Meer gefahren."

Ein Luxus ihrer Heimat war gewiss der, dass sie so nah am Meer lag. Früher war sie oft mit Nicholas hier gewesen, sie hatten viele Nächte an der Feuerschale verbracht, bis alle Funken versprüht und die Glut erloschen war. Jene Nächte waren ihr noch so gut in Erinnerung, dass es sie erschreckte. Sie konnte heute noch sehen, wie sie Nicholas stundenlang nur angestarrt und die Reflektion des Feuers in seinen Augen bewundert hatte. Sie konnte noch spüren, wie sich seine Arme um sie gelegt hatten, wenn es wieder später geworden war, als geplant. Sie konnte noch schmecken, wie das halbrohe Stockbrot eine Note von Rauch in sich gehabt hatte. Das war genug für sie, um die Beifahrertür zu öffnen und hinaus in den Regen zu springen. Hier am Strand war der Wind heftiger und er schlug ihr mit aller Macht entgegen, aber sie hieß ihn willkommen, weil er mit seiner Kraft auch in der Lage war, ihre Erinnerung mit sich zu nehmen. Er ließ nur sie zurück. Sie und Nicholas, der ihr langsam folgte, nachdem er aus dem Kofferraum einen riesigen Picknickkorb hervorzauberte.

„Du willst bei diesem Wetter picknicken?", fragte sie ihn entsetzt, worauf er nur mit einem Schulterzucken antwortete und sich ohne ein weiteres Wort daran machte, weiter ans Meer zu laufen.

„Sturkopf", murmelte sie, setzte sich aber trotzdem in Bewegung. Als sie das Wasser erreichte, hatte Nicholas bereits eine Decke ausgebreitet und packte gerade verschiedene Sachen aus dem Korb. Er hatte ihr Schokofrüchte mitgebracht, also konnte sie nicht anders, als sich zu ihm zu setzen.

„Das ist ein beschissener Plan", sagte sie dennoch, aber sie stockte, als er seinen Blick abwandte und hinaus aufs Meer sah.

„Mag sein. Aber im Sommer bin ich nicht mehr hier, dann werde ich nie mehr die Chance haben hier mit dir zu sitzen, wo es doch unser Platz ist. Und wärst du nicht nach Hause gefahren über die Weihnachtszeit, wäre ich zu dir gekommen und hätte dir auf deinem Balkon ein Planschbecken aufgebaut, nur um mit dir noch einmal am Wasser zu sitzen."

Seine Worte rührten sie auf eine ganz eigene Weise, die ihr die Tränen in die Augen trieb und wenn sie einen Wunsch gehabt hätte, dann hätte sie sich in ein Universum gewünscht, indem sie die Chance gehabt hätte, diesen perfekten Menschen ihren Partner nennen zu dürfen. Aber manchmal war Liebe grausam. Und manchmal bedeutete Liebe auch jemanden ziehen zu lassen und darum hatte sie sich so sehr bemüht. Dass sie jetzt hier mit ihm saß, war zu einem gewissen Teil bitter süße Folter. Doch wie konnte sie sich dieser entziehen, wenn jeder Moment mit ihm so wertvoll war.

„Du bist nicht aus der Welt, Nicholas", sagte sie leise, „Wir sind nicht zum letzten Mal hier. Wir werden bestimmt noch oft hier sitzen."

Daraufhin lachte er und sein Lachen berührte sogar seine Augen, nur klang es rau und stumpf.

„Hier hast du mir zum ersten Mal gesagt, dass ich nicht alleine bin", fuhr sie weiter fort, „Ich weiß noch, dass es auch Winter war und du meine Hand genommen hast, weil ich meine Handschuhe vergessen hatte und sie langsam blau wurden. Du hast gesagt, dass alles gut wird und dann hast du mich auf deinem Gebäckträger bis zum nächsten Cafe gefahren, um mir eine heiße Schokolade auszugeben."

„Ja, das weiß ich noch", stimmte er ihr zu und ein Hauch von Melancholie lag auf seinen Zügen.

„Das hat mir damals alles bedeutet."

„Die heiße Schokolade?"

„Nein. Du. Dass du da warst, wo es niemand anderes war. Dass du aus irgendeinem Grund, den ich noch immer nicht kenne, damals beschlossen hast, mich zu retten."

Er ergriff ihre Hand und selbst durch die Handschuhe spürte sie seinen festen Handdruck.

„Wenn du wüsstest."

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Bin gerade unterwegs und schaffe es daher kaum zu posten, am Wochenende gibt's dann einmal 2 Türchen, dafür dass gestern eins ausgefallen ist.


Noch einmal fliegenOù les histoires vivent. Découvrez maintenant