8. Türchen

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Abends saßen sie auf Julias Bett, nachdem sie vom Strand aus zuerst zu Nicholas Eltern gefahren waren, um ein paar Sachen für ihn einzusammeln, damit er bei ihr übernachten konnte. Nach einer heißen Dusche hatten sie sich in warme Schlabberklamotten geworfen, hatten die Kuschelsocken herausgeholt und sich einen heißen Tee gemacht. Julia hatte über beide Ohren gegrinst, als Nicholas aus seinem Rucksack eine seiner Jogginghosen gezogen und sie ihr gegeben hatte. Bei ihrer ersten Übernachtung bei ihm, als sie keine bequeme Sitzposition in ihrer engen Skinny-Jeans auf seinem Bett gefunden hatte, hatte er dies zum ersten Mal getan und irgendwann gehörte es einfach zu ihren gemütlichen Abenden dazu. Sie liebte seine Jogginghosen, aber Nicholas toppte das noch, als er auch noch eine große Tafel Schokolade aus dem Rucksack holte.

Die Schokolade war im Nu verschwunden und Julia lehnte sich mit vollem Magen entspannt in ihre Kissen zurück. Ihre Augen waren schon schwer und sie fühlte sich von der Kälte und dem Schwimmen sehr erschöpft. Daher beobachtete sie voller Unglauben, wie Nicholas plötzlich noch eine Flasche Wodka hervorzauberte und damit auffordernd vor ihrer Nase herumwedelte.

„Oh Nicholas", brummte sie, „Was soll das denn?"

„Ich dachte, wir betrinken uns", verkündete er vergnügt, wobei Julia seine Freude ganz und gar nicht teilen konnte.

„Ich will einfach nur schlafen und nichts trinken. Sonst wache ich morgen mit dem größten Brummschädel aller Zeiten auf", versuchte sie ihn abzuweisen, doch er ließ nicht locker.

„Komm schon", quengelte er, doch Julia blieb bei ihrem Standpunkt und schüttelte bloß mit dem Kopf. Da wurde er ernster und die gemütliche Stimmung verschwand so plötzlich, dass sie sich unwohl wieder aufsetzte. Sie kannte diesen Anflug von Betrübnis auf seinem Gesicht. Er hatte ihn immer dann gehabt, wenn etwas bei ihm zuhause mal wieder entsetzlich schiefgelaufen war. Er hatte ihr nie erzählt, was hinter verschlossenen Türen passiert war und irgendwie hatte sie das akzeptiert, aber es hatte sie immer wieder zu Tode erschreckt, wenn er zum Teil für Tage nichts gesagt hatte, weil ihn das Geschehene so sehr beschäftigte. Deshalb griff sie sofort nach seiner Hand, wollte nicht, dass er in die alte Stille wieder absank und drückte sie sanft.

„Bitte", flüsterte er leise, „es gibt etwas, dass ich dir nüchtern nicht erzählen kann."

Sie konnte hören, wie wichtig ihm diese Bitte war und sie wusste, dass er sie niemals um etwas gebeten hätte, was so eindeutig nicht ihren Wünschen entsprach, wenn es nicht wirklich wichtig gewesen wäre. Also eilte sie auf leisen Sohlen in die Küche, griff sich zwei Schnapsgläser und kehrte zurück, während ihr Herz unruhig gegen ihre Rippen polterte und sämtliche Schläfrigkeit verflogen war. Er wollte ihr etwas erzählen. Sie konnte es nicht fassen, dass sie auf einmal ihr Ziel erreicht haben sollte, woran sie früher Monate lang gearbeitet hatte. Sie hatte sich immer gewünscht, dass er sich irgendwann öffnen würde, damit sie ihn besser verstand und sie mehr über ihn wusste, als die Geschichten, die sie selbst mit ihm erlebt hatte. Er hatte stets betont, dass dies ausreichen würde, dass sie damit schon mehr über ihn wisse, als der Rest der Welt. Nur war es nicht genug. Julia hatte ihm von den Streitigkeiten ihrer Eltern erzählt, er wusste nicht jedes Detail, aber immerhin genug. Er hingegen war ein Buch mit sieben Siegeln, welches sie nie, selbst mit Engelszungen, zu lösen vermocht hatte. Und jetzt saß sie auf ihrem Bett, mit einem ordentlichen Schuss Wodka in der Hand und ließ den brennenden Alkohol ihre Kehle hinabfließen. Ein Husten ließ sich nicht vermeiden, das erste Studiumsjahr hatte sie lange hinter sich gelangen und die langen Abende mit unzähligen Shots waren nur noch peinliche Geschichten, die man sich gerne erzählte. Sie war nichts mehr gewohnt und es würde nicht lange dauern, bis ihr der Alkohol zu Kopf steigen würde.

Nicholas schien es in der Hinsicht nicht anders zu ergehen, doch er befüllte ihre Gläser immer weiter und Julia kämpfte tapfer mit, bis er den Rest der Flasche endlich abstellte und er sich völlig fertig mit seinem Kopf in ihren Schoß sinken ließ. Sofort schossen ihre Hände in seine Haare, ein alter Reflex, der sich herrlich gut anfühlte. Nur wo früher lange Locken gewesen waren, stieß sie an diesem Tag nur auf kurze stoppelige Enden. Es machte nur ein bisschen etwas aus. Es waren immer noch Nicholas Haare.

Sie atmete angespannt, möglichst leise, damit er in Ruhe seine Worte fassen konnte, wo jetzt jedes kleinste Geräusch plötzlich so furchtbar laut in der Stille erschien. Beinahe schien jede Sekunde in ihrem Zimmer widerzuhallen, nur übertönt von ihrem Herzschlag, den sie selbst in ihrer Kehle spürte. Sie war bereit, bereit Worte zu hören, auf die sie schon Jahre wartete.

„Ich habe einen Freund", flüsterte er leise.

Und sie mochte mit allem gerechnet haben, aber dieser Beginn war in ihre Überlegungen nicht mit eingeflossen. Sie blinzelte irritiert und schielte zu ihm hinab, doch er lag nur still auf ihren Beinen und machte keinen Ansatz weiterzusprechen, sondern sah sie einfach nur an und sie sah einfach zurück. Ihr Herzschlag weiter wild, der Atem weiter angespannt, es blieb jedoch nur Stille zu hören. Nichts weiter.

„Ich bin schwul", fügte er noch leiser hinzu.

Es überraschte sie nicht. In keinster Weise. Er hatte bloß eine Wahrheit ausgesprochen, derer sie sich schon Jahre zuvor bewusst geworden war. Der Grund für die Warnungen ihrer Mutter, der Grund, weshalb sie es sich nicht erlauben durfte, ihr Herz ein weiteres Mal an ihn zu verschenken. Nicht auf diese Art. Es war so offensichtlich für sie gewesen, dass sie niemals gedacht hätte, dass es diese Information seien würde, die er mit so viel Wodka einleiten würde.

„Ich weiß", erwiderte sie nur, als die Anspannung von ihr abfiel und ihr bewusst wurde, dass er auf eine Reaktion ihrerseits wartete.

„Du weißt es?", wiederholte er ungläubig.

„Und dafür musste ich so viel trinken", stöhnte sie und lachte dabei halb, als sie ihm liebevoll durch das Haar strich.

„Seit wann?"

„Irgendwann, noch zu Schulzeiten, hat es Klick gemacht", murmelte sie nachdenklich, „es war einfach klar. Ich hoffe, du hast keinen Gedanken daran verschwendet, dass das etwas an unserer Freundschaft ändern könnte?"

„Du bist die Erste, der ich es erzähle", flüsterte er, „Meine Eltern wissen nichts davon."

Den Grund dafür kannte sie nur zu gut. Ihre Hände hielten inne und zitterten leicht. Die Vorstellung genügte.

„Ich werde es ihnen nicht sagen", versprach sie ihm sanft, „Aber ich hoffe, ich werde die Ehre haben, deinen Freund vorgestellt zu bekommen."

Da grinste er, so breit und so strahlend, wie sie es bei ihm nie zuvor gesehen hatte, als würde er aus dem Innersten heraus vor Glück leuchten und sie gönnte es ihm, auch wenn ihr Herz in diesem Moment ein weiteres Mal brach. Es war okay, weil es für ihn brach und weil sie es hatte kommen sehen. Sie konnte es schaffen zu lächeln, für ihn zu lächeln.

„Du wirst ihn kennenlernen", antwortete er, bevor er sich hochwuchtete und sie für eine lange Zeit nicht aus einer Umarmung herausließ.

Sie hoffte, er würde ihn lieben, so lieben, wie sie es tat. Weniger hatte er nicht verdient.



Noch einmal fliegenOnde histórias criam vida. Descubra agora