Kapitel 28

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Tränen.

Nichts weiter als Tränen, immer diese verdammten Tränen. Unaufhaltsam rennen sie über meine Wangen, sie scheinen zu brennen, kein Wasser, sondern Säure zu sein. Der Duft von billigem Raumspray umgibt mich, ich stehe vor dem gigantischen, fast glänzend silbernen Schreibtisch meines Onkels, welcher in dem riesigen, schwarzen, ledernen Chefsessel sitzt, die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, die Finger als nachdenkliche Geste auf den Mund gelegt.

"Ich weiß, wir haben nicht viel Zeit miteinander verbracht, Onkel Jinyoung, aber ich will nicht zurück nach Deutschland, bitte... Es ist so viel schöner hier und die Jungs sind mir so wichtig geworden... Ich könnte in ein Apartment hier in de Nähe ziehen und bei dir arbeiten, um Geld zu verdienen... Bitte, Onkel Jinyoung, ich würde sogar als Putze hier anfangen!", bettle ich in einem mittlerweile etwas verzweifelten Ton. Seit mehr als zehn Minuten rede ich nun schon auf meinen Onkel ein, doch hat er bis auf das "Herein!", als ich geklopft habe, noch kein Wort von sich gegeben.

"Haruka...", beginnt er dann, seine aufgestylten schwarzen Haare glänzen im grellen Licht. "Ich würde dich gerne hier behalten und die Jungs sicherlich auch, Chan ist ganz vernarrt in dich..." Er schmunzelt und ordnet dann einige Papier auf seinem Schreibtisch. "Aber ich habe mir die Rechtslage von deutscher Seite angesehen. Sollte ich mich weigern, dich zurückzuschicken, zu deinen Erziehungsberechtigten, dann bekomme ich ziemlichen Ärger. Ich müsste einen Entzug des Sorgerechts beantragen, dich adoptieren und mich mit dem deutschen Jugendschutzgesetz einverstanden zeigen. Und auch das ist auf so großem, internationalem Raum nur schwer machbar. Und selbst wenn- ich würde tagtäglich gegen dieses Gesetz verstoßen, weil ich nicht auf dich aufpassen kann, nicht für dich sorgen kann. Wenn die mich erwischen, bin ich dran. Und auch so könnte ich ein Mädchen deinen Alters, welches mir auch noch so am Herzen liegt, das vollkommen alleine in der Welt klarkommen muss, mit meinem Gewissen nicht vereinbaren." Er seufzt und verstaut den Stapel Papiere in einem roten Pappordner. "Die Antwort ist nein, meine Süße... Tut mir leid."

Ich habe die ganze Zeit, während er gesprochen hat, auf den Boden gesehen. Natürlich wusste ich, dass die rechtliche Lage meinen gesamten Plan unmöglich macht, aber irgendwas muss ich doch tun können... Ich will nicht für zwei lange Jahre hier weg, nicht von den Jungs und schon gar nicht von Felix.

"Ich habe deinen Vater um einen Anruf per FaceTime gebeten." Mein Onkel deutet auf einen großen Monitor, der an der oberen linken Ecke des Raumes an der Wand befestigt ist. "Er ruft gerade an, darf ich rangehen? Er sieht dich dann."

"Nur zu", sage ich und unterdrücke dabei nur sehr schwer den zickigen Unterton. Aber ich bin nicht sauer auf meinen Onkel, eher auf meinen Vater.

Und plötzlich sehe ich sein Gesicht, nach so langer Zeit. Wie immer trägt er einen schwarzen Rollkragenpullover, dazu einen gräulichen Mantel. Er kommt also gerade von der Arbeit. Seine schwarzen Haare sind leicht zur Seite und nach hinten gestylt, seine Augenbrauen sehen makellos aus, ebenso wie seine Lippen und seine gesamte Haut. Mein Vater war schon immer so. Jeden Tag gutaussehend, ohne eine einzige Bartstoppel, ohne einen einzigen Pickel, der ins Auge sticht.

"Hallo, Haruka", sagt er auf deutsch und lächelt mich an. Aber ich will jetzt kein deutsch sprechen, ich antworte ihm nur auf koreanisch.

"Sieh mich nicht so mitleidig an", sage ich tonlos. 

Auch er steigt auf koreanisch um. "Kleines, ich-"

Meine Hände ballen sich zu Fäusten, meine Fingerknöchel werden schneeweiß und mein Kopf so rot wie damals, als ich so wütend auf Felix war. "Nenn mich bloß nicht so!", fauche ich. Mein Vater macht große Augen und hält beschwichtigend die Hände vor den Körper. Seine silberne Armbanduhr blitzt auf.

"Ich kann verstehen, dass du wütend bist- sicherlich ist dir Jinyoung sehr ans Herz gewachsen-"

"Ich war nie da, Seonghwa", gibt mein Onkel leise aus dem Hintergrund zu. Er klingt beschämt und ein wenig traurig. Vielleicht ja darüber, dass er keine Zeit mit seiner Nichte verbracht hat, als er die Chance dazu hatte.

"Bitte was?" Mein Vater sieht meinen Onkel mit gerunzelter Stirn an. Mein Gott, sogar seine Nachdenkfalten sehen asymmetrisch und perfekt aus.

"Ich war in China, weil es Komplika-"

"Das weiß ich", fällt mein Vater ihm ins Wort, was sowohl meinen Onkel, als auch mich irritiert. Normalerweise ist mein Vater ein sehr geduldiger Mensch und lässt andere aussprechen. "Aber ich dachte, du bist nach ein paar Tagen wieder da gewesen."

"War ich ja auch. Ich hatte sie bei einer meiner Gruppen untergebracht, die momentan nicht allzu viel an einem Comeback zu arbeiten haben. Als ich wiederkam, haben sie mich dazu überredet, Haruka weiterhin dort leben zu lassen. Ich hätte nicht viel Zeit für sie gehabt."

"Ich habe dich doch nur ein einziges Mal darum gebeten, dich um deine Nichte zu kümmern!" Durch den Monitor erkennt man, wie das Gesicht meines Vaters einen rötlichen Teint annimmt. Ob ich genauso aussehe, wenn ich wütend bin?

"Dann hast du dir das falsche Familienmitglied ausgesucht!", blafft mein Onkel zurück.

"Das sehe ich!", kontert mein Vater und erhöht dabei seine Lautstärke noch ein wenig mehr. Ich sehe zu meinem Onkel, indessen Augen eine Spur von Schmerz liegt. Ich entscheide mich dafür, einzuschreiten.

"Hey!", schreie ich. "Mir ging es gut, Dad! Wesentlich besser als in Deutschland! Die Jungs haben so gut für mich gesorgt, Chan hat mir mehr übers Kochen beigebracht als Mom in ihrem ganzen Leben! Diese 9 Typen waren mir eine bessere Familie als ihr im vergangen halben Jahr. Um Weiten besser."

Nun ist es mein Vater, dem der Schmerz ins Gesicht geschrieben steht. Eine Gemeinsamkeit zwischen ihm und Jinyoung. Wenn sie verletzt sind, sehen ihre Gesichter genau gleich aus. Bleich.

"Haruka..."

"Nein. Ich will in Seoul bleiben." Ich sehe ihn entrüstet an. Und dann, ganz plötzlich, wird aus der Trauer wieder Wut.

"Du fliegst übermorgen mit dem späten Flugzeug zurück! Und wehe ich höre hier auch nur ein Wort über Seoul!" 

Aufgelegt.

Keiner sagt ein Wort, weder ich, noch Jinyoung.

Dance With Me » Stray KidsWhere stories live. Discover now