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Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug war es noch dunkel draußen.

Ach nein. Ich hatte gestern Abend nur die Rollladen runtergemacht, weil ich durch die Lichter der vorbeifahrenden Autos und das Geschrei ein paar besoffener Jugendlicher nicht hatte einschlafen können.

Das Piepsen meines Handyweckers störte meinen Versuch wieder einzuschlafen. Missmutig machte ich ihn aus und schwang die Beine aus dem Hotelbett.

Dann ging ich zum Fenster, zog die Rollladen hoch und öffnete es, um den miefigen Schlafzimmergeruch wegzulüften.

„Scheiße, ist das kalt!", fluchte ich und hechtete zurück unter die warme Daunenbettdecke.

Um nicht gleich wieder einzuschlafen, schaute ich auf mein Handy. 23 Anrufe in Abwesenheit, 7 ungelesene Nachrichten. Vielleicht hätte ich doch Bescheid sagen sollen, dass ich nach London abhaute. Seufzend tippte ich auf die entgangen Anrufe.

10 von Papa, 13 von Maria, meiner älteren Schwester. Natürlich, die wussten ja auch nicht wo ich war.

Ich löschte die Anrufliste und öffnete die erste SMS.

Gestern, 13:34 „Sophia, warum bist du nicht zuhause und warum sind die Koffer weg? Wag es nicht abzuhauen, komm sofort wieder! Papa."

Definitiv eine SMS zum Löschen. Die zweite war ähnlich.

Gestern, 14:01 „Wo zur Hölle bist du? Komm wieder! Papa."

Ich hatte ja gedacht, er hätte ein bisschen schlechteres Gewissen nach allem was passiert war.

Gestern, 14:35 „Ich weiß, dass du denkst, dass ich an allem Schuld bin, aber lass uns doch nochmal reden. Bitte! Papa."

Das war eher, was ich erwartet hatte.

Gestern, 14:55 „Gut, dann eben nicht. Ich hoffe, wir können das irgendwann mal klären. Ich werde dir auf jeden Fall jeden Monat 700 Euro überweisen, als kleinen Zuschuss. Glaub aber ja nicht, ich würde das ganze unterstützen! Papa."

Ts, sollte sich dieser Penner seine 700 Euro sonst wo hinstecken.

Gestern, 15:23 „Phia, wo bist du? Warum gehst du nicht an dein Handy? Wir machen uns Sorgen! xx Maria"

Gestern, 15:45 „Ich hab grad mit Papa gesprochen. Du bist abgehauen? Wo bist du? Melde dich, Ria"

Gestern, 15:59 „Bitte Phi, Papa tut das alles unglaublich Leid! Er ist schon total mitgenommen gewesen, als du nicht mehr mit ihm geredet hast, und jetzt bist du weg. Bitte, ruf an. Ria"

Maria, Ria. Meine wundervolle große Schwester. Mit ihr konnte man jeden Scheiß machen, obwohl wir uns nicht wirklich ähnlich waren. Einmal hatten wir zusammen, basierend aus Pippi Langstrumpf, das Wohnzimmer geputzt. Bedeutete, wir hatten einen Eimer Seifenwasser ausgekippt und waren mit Bürsten unter den Füßen über den Boden geschlittert.

Grinsend schüttelte ich den Kopf über diese Erinnerung. Mamma war ausgerastet. Das teure Parkett war komplett durchgeweicht gewesen und musste neu abgeschliffen und versiegelt werden. Mehrere Tage hatten wir das Wohnzimmer deswegen nicht betreten dürfen.

Ich beschloss, dass es nicht schaden konnte Ria ein Lebenszeichen zu schicken, schließlich hatte sie mit der ganzen Sache ja nichts zu tun. Auch wenn ich nicht verstehen konnte, wie sie unserem Vater hatte verzeihen können.

„Hey Ria, es ist alles gut, aber ich brauch jetzt echt erstmal Zeit um das alles zu verdauen. Ich werd mich ab und an melden. Bitte sucht mich nicht. Lieb dich xx Phia"

Das musste genügen. Ich warf einen Blick auf die Uhr. 10:15 Uhr. Echt, so spät schon? Verdammt, ich wollte was schaffen heute.

Ich zog also die Decke weg und lief zitternd zum Fenster um es zu schließen. Der Blick von hier auf London war nicht besonders schön, im Grunde genommen sah man nur die Straße und das Haus gegenüber des Hotels. Aber es war ja auch nur eine Übergangslösung.

Dann zog ich meine Joggingsachen an und lief runter zur Rezeption um zu fragen, ob irgendwo in der Nähe ein Park war.

Glücklicherweise musste ich nur zehn Minuten laufen, um in einen wirklich schönen Park zu kommen. Klar, meine geliebten deutschen Wälder und Wiesen konnte er nicht ersetzen, aber es war ein kleines Stück Natur in dieser riesigen Betonmetropole, deren eintöniges grau nur durch flackernde Werbeplakate und gelegentlich durch ein bemitleidenswertes Bäumchen unterbrochen wurde. Na gut, das war vielleicht etwas übertrieben, aber für ein Landkind wie mich?

Tief atmete ich die frische Luft ein und beobachtete wie eine Entenmama mit ihren vier kleinen Küken über eine gemähte Grasfläche zu einem künstlich angelegten See lief. Süß.

Langsam lief ich los, während ich noch immer die Entenfamilie beobachtete. Der Weg führte an dem See vorbei in ein kleines Wäldchen, das so offensichtlich von einem Gärtner angelegt war, dass man sich fragte, ob ebendieser Gärtner keine Ahnung hatte, wie ein echter Wald aussah oder einfach nur dumm war.

Gerade rechnete ich aus, wie hoch die Überlebenschancen der vier süßen Entenküken zwischen diesen ganzen Autos und Bussen hier waren, als ich volle Kanne in einen schwarzhaarigen Typen rein rannte. Er stolperte und flog fast über seine eigenen Füße. Ups.

„'tschuldigung, hab' nicht aufgepasst", nuschelte ich und war schon wieder weitergelaufen, als der Typ hinter mir mich zurück rief.

„Ey, bist du nicht diese Sophia? Die Kleine, die Harry ein Autogramm verpasst hat? Ja klar, das bist du. Er hat gestern alle möglichen Freunde und Bekannte angerufen, ob sie Kernseife hätten. Hatte keiner, dann hat er versucht das abzuschrubben, ohne Scheiß, sein Arm ist so rot, als wär er in der Sonne eingepennt oder so." Er grinste, als ob er den Witz des Jahrhunderts gerissen hatte.

„Ja. Schön." Das interessiert mich überhaupt nicht, lauf weiter, du Idiot!

„Na ja, auf jeden Fall war er erst ziemlich sauer auf dich, aber ich find's eigentlich gut, dass ihn mal wieder wer auf den Boden holt, er ist in letzter Zeit ein bisschen eingebildet geworden."

Wenn der hier in der Nähe lebte, wusste ich auf jeden Fall schon mal wo ich nicht hinzog. Was für eine Labertasche!

„War nett mit dir zu plaudern, ich erzähl auf jeden Fall Harry, dass du hier warst, ich glaub nämlich du bist voll sein Typ und ihr wärt doch auch ganz süß zusammen." Er zwinkerte mir zu.

Plaudern? Wenn das seine Definition von ‚Plaudern' war, dann sollte er die ganz dringend nochmal überdenken. Und dazu, also ehrlich, ich und Harry Styles? Er sollte auch seine Definition von ‚Zusammen passen' nochmal überdenken.

Endlich, endlich, endlich drehte er sich um und lief weiter. Vielleicht hatte er ja gemerkt, wie sehr er sich vertan hatte mit mir und Harry Styles. Ich kam da gar nicht drüber weg, wieso dachte der Type ich würde zu diesem... Pudel passen? Oder andersherum?

Nach einer ausgiebigen Dusche, die all meine Gedanken an eingebildete Pudel und schwarzhaarige Plappermäuler aus meinem Kopf verschwinden ließ, saß ich nun mit einem Nutellabrötchen und einem Cappuccino im hoteleigenen Restaurant und las die Wohnungsanzeigen in einer Tageszeitung, die ich an der Rezeption gekauft hatte.

Nop, kein WG-Zimmer. Ich strich die entsprechende Anzeige durch.

3-Zimmer-Wohnung? Zu groß, ich wollte ja nicht gleich eine Familie gründen. Auch durchgestrichen.

1-Zimmer-Wohnung... Das klang gut. 20 Kilometer außerhalb? Ich hatte ja noch nicht mal ein Auto. Durchgestrichen.

Helle 1-Zimmer-Wohnung, Nähe Richmondpark. Das klang gut. Ich schaute auf den Preis. Wirklich gut.

Ich schluckte den letzten Bissen meines Brötchens runter und trank meinen Cappuccino aus. Dann ging ich wieder nach oben in mein Zimmer, holte mein Handy und rief die in der Anzeige angegebene Nummer an, um einen Termin für die Wohnungsbesichtigung auszumachen.

Tit for Tat | h.s.Where stories live. Discover now