Teil 17

16.7K 162 9
                                    

„Konntest du deine dringende Aufgabe noch erledigen?" Wiederwillig hob ich den Blick von meinem Buch, in das ich seit gut einer Stunde vertieft war, sodass es mir gerade vorkam, als wäre ich aus einem Film rausgerissen worden. Nathan stand vor dem bequemen Lesesessel in dem riesigen Freizeitraum, einer von vieren, die im gesamten Internatsgebäude verteilt waren.
Lange konnte ich ihm für seine Unterbrechung nicht böse sein, denn sein breites Lächeln steckte mich automatisch an.
„Ja, hat alles einwandfrei funktioniert" und das war keine Lüge. Obwohl es merkwürdig war, so über den vergangenen Nachmittag zu reden, schließlich wusste er nicht, was genau ich hatte erledigen müssen. Und das war natürlich auch gut so. Trotzdem spürte ich ein leichtes Stechen irgendwo tief in mir. Ein Anzeichen für ein schlechtes Gewissen. Wahrscheinlich nur, weil ich seine nette Einladung habe abblitzen lassen.
„Das freut mich." Er deutete auf das Buch. „Shakespeare?". Seine Augenbrauen schnellten überrascht nach oben.
„Jap. Seine Stücke helfen mir die damalige Zeit mit all ihren Weltanschauungen und Werten besser zu verstehen." Ich klappte das Buch zu.
„Kann ich verstehen. Er verdeutlicht die gesellschaftlichen Zusammenhänge im Elisabethanischen Zeitalter sehr bildhaft." Ich musste zugeben, dass ich durchaus beeindruckt war. Es gab nicht viele Jungs, die sich für Geschichte und dann auch noch englische Geschichte und Literatur interessierten.
„Macbeth ist einer meiner favorisierten Tragödien."
„Dann verraten mal nicht so viel, sonst ist die Spannung weg, obwohl bei Shakespeare ja sowieso bis zum Ende die meisten ihr Leben lassen müssen." Nathans grinsen wurde breiter und er nickte zustimmend.
„Wenn man genauer drüber nachdenkt, hat man als eine Figur Shakespeares wirklich keine großen Zukunftschancen." Er kratzte sich am Hinterkopf. „Apropos, habe ich noch eine Chance auf einen Kaffee mit dir?"
„Ausnahmsweise." Ich zwinkerte ihm zu, stand auf und ließ Shakespeare in meine Tasche gleiten.
Im kleinen Café unsere Schule, das ebenfalls einen Kiosk beinhaltete bestellte Nathan einen Cappuccino für sich und einen Latte Macchiato für mich.
„Warst du bevor du hier hin gekommen bist auch auf einem Internat?", fragte er und aß dabei den kleinen Keks, der auf seinem Unterteller gelegen hatte.
„Nein. Ich war auf einer stinknormalen Schule und du?"
„Wieso bist du hier her gewechselt? Hat es dir dort nicht gefallen", fragte er weiter, ohne auf meine Gegenfrage einzugehen.
„Doch. Es war schön dort. Die Lehrer waren freundlich, größtenteils zumindest. Und das Selbe galt auch für meine Mitschüler." Mir war es etwas unangenehm darüber zu reden.
„Also warum?" Er ließ einfach nicht locker.
„Das selbe könnte ich dich fragen", entgegnete ich auffordernd. 
„Ich hatte auf meiner alten Schule die falschen Freunde. Sie taten mir und meinen Noten nicht gut. Also habe ich die Notbremse gezogen, bin aus meinem früheren Umfeld ausgebrochen und hier her gewechselt." Er zuckte mit den Schultern als sei das das normalste der Welt. Augenblicklich fragte ich mich, was  für Freunde er damals gehabt hatte und ob er vielleicht nicht immer so war, wie er jetzt vor mir saß.
Ich spürte, dass er auf meine ausstehende Antwort wartete.
„Ich wollte einfach nur weg von Zuhause." Sprach ich es endlich aus. Es war schwer für mich über den verkorksten Teil meines Lebens zu sprechen. Vor allem mit jemanden, den ich gar nicht richtig kannte. Offensichtlich hatte er mit einer weniger bedrückenden Antwort gerechnet oder er wusste generell nicht, wie er darauf reagieren sollte, denn er brachte nur ein „oh, das tut mir leid" heraus, unschlüssig, ob es unhöflich war eine weitere Frage zu stellen. Doch jetzt wo ich schon ein Mal angefangen hatte, konnte ich ihm auch die Wahrheit erzählen - oder zumindest einen Teil davon.
„Ich habe meinen Vater relativ früh verloren. Einige Jahre später hat meine Mutter einen anderen Mann kennengelernt und geheiratet. Mit dem gemeinsamen Umzug in ein größeres Haus habe ich dann zwei Stiefbrüder bekommen, die dem Haussegen leider nicht so gut getan haben." Schon der Gedanke an die zwei Jungs, die beide mit 24 und 20 Jahren älter waren als ich, ließ in mir eine höllische Wut aufkochen.
„Und du bist weggegangen, um ihnen zu entfliehen?"
„Letztendlich nicht nur vor ihnen, aber das ist eine längere Geschichte."
Nathan war wohl bewusst, dass ich ihm momentan nicht mehr erzählen wollte, denn er beließ es dabei. Alleine diese Information waren schon ziemlich schwer über meine Lippen gekommen. Ihm noch mehr von diesen Unmenschen und ihren Taten zu erzählen, würde vermutlich nicht nur mein Gemüt noch mal erschüttern.
„Kennst du die Ruine hier in der Nähe", wechselte er das Thema.
„Bie hat mir da mal was erzählt, aber gesehen hab ich sich nicht."
„"Das trifft sich gut! Ich nämlich auch nicht. In einer Stunde wird es anfangen zu dämmern. Wenn wir uns beeilen könnten wir sie noch im hellen sehen." Ohne meine Antwort abzuwarten stand er auf, brachte das Tablett mit unseren leeren Tassen zu dem dafür vorgesehenen Wagen und machte sich auf den Weg Richtung Tür.
„Ich würde sagen wir holen schnell unsere Jacken und treffen uns dann am Haupteingang."

Lehrer meiner LustWhere stories live. Discover now