10. Jede Erinnerung hat ihren Ursprung im Schnee

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„Jep, das ist es!" Zufrieden mit sich selbst betrachtete Po sein Werk. „Das sind jetzt deine Gegner."
Xia starrte ihn entgeistert an. „Und ich soll was tun? Du hast dir so viel Mühe gemacht. Ich kann sie doch jetzt nicht einfach so kaputt machen."
„Oh, kein Problem. Die werden so oder so irgendwann wegschmelzen."
Xia zählte durch. Insgesamt standen fünf Schneemänner auf dem Feld. Einige von ihnen hatten die Gestalt eines Krokodils oder eines Wolfes.
Mit schüchterner Haltung ging sie auf den am Nächststehenden zu und beäugte das Schneegesicht.
„Jetzt hau ihm eine runter!", rief Po ihr zu und schwang die Arme.
„Wie? Mit dem Flügel?"
„Flügel oder Fuß. Das ist im Moment unwichtig. Stell dir einfach vor, das wäre ein böser Typ, der dir dein Geld stehlen will."
„Und ich soll ihn schlagen? Ähm, das hab ich noch nie gemacht. Das ist... ist das nicht ein bisschen grob?"
„Es ist nicht grob, wenn du um deinen Besitz oder um dein Leben kämpfst."
„Mein Leben?"
„Natürlich. Es gibt viele böse Buben, die dich aus irgendeinem Grund töten würden."
Sie schluckte. Po versetzte ihr einen leichten Seitenstoß.
„Komm schon! Zeig ihm was du kannst und dass du es ihm nicht erlaubst. Verpass ihm einen harten Schlag."
„Na gut."
Vorsichtig ging auf den ersten Schneemann zu und stupste ihn an.
„Komm schon!", feuerte Po sie an. „Versuch es!"
„Muss ich dazu wirklich meine Flügel benutzen? Oder kann ich noch etwas anderes benutzen?"
„Nun, du kannst auch einen Holzstock verwenden. Ich werde es dir zeigen."

„Und stellt sicher, dass es dem stärksten Sturm standhält", rief Shen seinen Dienern zu, die damit beschäftigt waren das Zelt aufzubauen. „Sieht ganz danach aus, dass Neuschnee in der Nacht zu erwarten ist."
Er schaute zum Himmel hoch und beobachtete die Wolken.
Ein plötzlich erschallendes „Woahhai!" ließ ihn zusammenfahren, bis er die vertraute Stimme von Po erkannte.
„Dieser Panda", murmelte er grimmig. „Was auf der weißen Erde, macht er jetzt schon wieder?"
Empört über diese Ruhestörung schritt der Lord an den Bäumen entlang. Genau zu der Stelle, wo die Schreie hergekommen waren.
„Er ist wie dein dummes Kind", dachte der Kriegsheer.
Langsam spähte er um eine Baumgruppe. Zuerst verwirrten ihn die seltsamen Figuren auf dem verschneiten Feld, bis er merkte, dass sie nur aus Schnee bestanden. Ihre Umrisse warfen lange Schatten in dem roten Licht der Abendsonne.
In der nächsten Sekunde schoss eine schwarz-weiße Figur durch die Schneemodelle und schwang den Stock in sämtliche Richtungen, dass der Schnee nur so durch die Luft wirbelte.
Wie vom Blitz getroffen begannen Shens Lider heftig zu flackern.
Nein!
Er schnappte nach Luft und schrak zurück. Er hatte Mühe zu atmen.
Mit weitaufgerissenen Augen starrte er nach vorne.
Wie er! Nein! Das ist er!
Schnell wandte er sich ab und rannte davon.
Mittlerweile hatte Po den Stock auf die Schulter geschwungen und betrachtete seine besiegten „Feinde".
„So ungefähr könntest du es machen."
„Bei dir sieht das so einfach aus", meinte Xia voller Bewunderung. „Aber ich weiß nicht, ob ich das jemals könnte so gut zu sein wie du."
„Mit ein bisschen Übung, kannst du alles schaffen."
Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Ja, vielleicht. Aber nicht heute. Es ist schon spät."
Po sah auf. Der Himmel hatte sich bereits verdunkelt. „Okay. Gehen wir zurück."

„Shen? Ist alles in Ordnung?"
Besorgt schaute die alte Ziege den Lord von der Seite an, der keuchend gegen dem Zelt lehnte.
„Mir... mir geht es gut", wich er ihrer Frage aus.
Er bedeckte sein Gesicht mit einem Flügel und rieb sie die Stirn. „Es war nur..." Energisch schüttelte er den Kopf. „Nichts!"
„Deine Angst hat einen Grund."
„Ich habe keine Angst! Und bevor du noch mehr sagst, dann sprich mich nicht an! Kein Wort!"
Niedergeschlagen sah sie dem weißen Prinzen nach wie er in seinem Zelt verschwand.

Die Nacht brach an und der Wind wurde stärker, aber in den Zelten war es warm. Shen beanspruchte ein Zelt für sich alleine, während der Rest in einem größeren Zelt zusammen campte. Nach dem Essen gingen sie schlafen. Es wurde schnell ruhig im Lager. Nur der starke Wind blies um den Stoff der Bezüge. Aber alles in allem war die Umgebung leer und einsam. Trotzdem konnte Shen keinen Schlaf finden. Egal was er tat, immer wieder hatte er diese Bilder im Kopf und ließen ihn nicht mehr los. Sie quälten ihn, verfolgten ihn. Er warf den Kopf hin und her.
Es war kalt gewesen.
Eine windige Nacht wie heute.
Überall herum lag Schnee.
Dunkle Schatten und rotes Feuer.
Geheule von Wölfen. Schreie von sterbenden Pandas.
Auf einem Feld stand ein weißer Pfau. Umgeben von Wölfen.
Der Kriegsherr blickte geradeaus. Nicht weit von ihm entfernt saß ein kleiner Panda vor einer Hütte.
„Tötet sie alle!"
Seine Wölfe gehorchten. Mit weit aufgerissenen Mäulern stürzten sie sich auf das Baby.
Plötzlich tauchte eine andere große Figur auf und schwang etwas durch die Luft. Es traf die Wölfe mit voller Wucht und schleuderte sie zurück. Nur sehr knapp verfehlte ihr Aufprall den Lord.
Der Pfau wich aus.
Wer war das gewesen?
„Lauf davon mit unserem Sohn!", rief der große Panda.
Niemand soll mir entkommen! Niemand darf entkommen.
„Tötet sie! Hinterher!"
Weite Wölfe tauchten auf. Wie bedrohliche Schatten jagten sie durch den Wald.
„Du wirst sie nie kriegen!"
Der große Panda rannte auf ihn zu. Nein, er konnte nicht gewinnen.

Der Kampf war kurz, aber hart.
Noch immer konnte er die Schneeflocken auf seinem Gesicht fühlen und die Asche in Mund und Nase riechen und schmecken. Kalter Schnee unter seinen Füßen, die Hitze der brennenden Häuser rundherum. Der große Panda hatte wie verrückt gegen ihn gekämpft.
Völlig verkrampft öffnete Shen die Augen.
Könnte das wieder passieren?
Könnte dieser Panda ihm wirklich vergeben?
Plötzlich meinte Shen draußen im Schnee Schritte zu hören. Er hob den Kopf. Irgendjemand schlich um das Zelt herum. Dann verstummte es abrupt. Als sich nach einer Weile nichts mehr tat, legte er sich wieder hin.
Muss wohl der Wind gewesen sein. Das alles machte ihn nervös. Wieso hatte er diesem Panda nur erlaubt mitzukommen?
Da war eine Bewegung am Zelteingang.
„Wer ist da?!", rief Shen sichtlich erschrocken.
Das konnte nicht der Wind sein. Er hatte die Vorhänge zuvor gut verschlossen.
Ein Gefühl des Nicht-Allein-Seins befiel den Lord. Irgendjemand stand mit ihm im Raum. Er war nicht mehr allein.
Ein Schatten tauchte in der Ecke auf.
Schnell drehte er sich um.
Rotes Licht erleuchtete den Raum.
Nein! Das kann nicht sein!
Es war der große Panda. Vor ihm stand der große Panda.
„Du wirst sie niemals bekommen!"
Der Lord war wie gelähmt.
Das war unmöglich. Er war doch tot gewesen.
Plötzlich veränderte sich das Gesicht.
War das...?
Der Drachenkrieger.
Po gab dem Kriegsherrn einen düsteren Blick.
„Wooahai!"
Er schwang den Stock und ließ ihn auf ihn niedersausen.
„AHHHH!"
Mit rasendem Puls riss der Lord die Augen auf. Er brauchte mehr als zwei Sekunden, um zu begreifen, dass das Zelt leer war. Er blinzelte. Er stand fast in seinem Bett. Sein Keuchen war das einzige Geräusch, was den Raum belebte. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Es hatte alles so echt ausgesehen. Er hatte den Panda reinkommen sehen.
Allmählich flauten die Wellen seines Traums ab. Die Realität umwickelte ihn wie eine führsorgliche Mutter. Schließlich wagte er einen tiefen Atemzug und Erleichterung breitete sich in ihm aus. Langsam rieb er mit seinen Flügeln über seinen Kopf. Ein Seufzer neben ihm ließ ihn urplötzlich zusammenfahren.
„Ah!"
Shen hielt sich die Brust, geschockt und froh zugleich, dass es nicht der Panda war, der sich an ihn herangeschlichen hatte.
„Shen, es ist okay, es war nur ein Traum gewesen", beruhigte ihn die alte Ziege.
„Ich weiß", murmelte der Pfau düster. Er hasste ihr Mitleid.
„Nur keine Sorge, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Der Panda schläft."
„Woher weißt du, was ich geträumt habe?"
„Du hast laut genug im Schlaf geredet."
Noch immer schwer atmend ließ er seine starren Blicke auf sie niedersausen, während ihre Augen sanft auf ihn ruhten. Dann, ohne ein Wort, verließ der Pfau das Bett und ging nach draußen.
Kalter, eisiger Luft trat ihm entgegen. Der Wind wehte immer noch erbarmungslos über die Felder, doch es war schon fast morgen.
Müde und noch immer innerlich aufgewühlt marschierte Shen durch den hohen Schnee. Nach ein paar Meter hielt er an. Der kalte Wind gab ihm wieder einen klaren Kopf. Er schloss die Augen und ließ seinen Geist von der Stille um ihn herum auf sich einwirken.
Der Schnee weckte in ihm Erinnerungen. Erinnerungen aus weiter Ferne und vor sehr langer Zeit.
Er lächelte bitter. So viele Dinge waren im Schnee geschehen. Die Schlacht im Panda-Dorf. Und das in den hohen Bergen...
Sein Blick wanderte nach vorne. Die ersten Sonnenstrahlen eines neuen Tages erleuchteten den Himmel und hüllten die Landschaft in ein sanftes Rot. Der nächste Tag war geboren. Ein neuer Tag im Schnee.
Es ist wunderschön.
Du hast den Schnee gemocht.

Nein, das war nicht in der Morgensonne, es war in der Abenddämmerung gewesen...

Vor 17 Jahren...

Sie stand da. Sie stand da wie eine Statue. Sie tat nichts. Sie stand nur da und blickte in die Ferne zu den Bergen.
Der Lord befand sich im Inneren der Höhle und beobachtete sie. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Sie stand im Eingang der Höhle und betrachtete den Sonnenuntergang.
Langsam kam er näher. „Stimmt etwas nicht? Was gibt es dort zu sehen?"
Die Pfauenhenne zuckte zusammen und zog den Kopf ein, als Shen sich neben sie begab. Ihre Augen trafen sich. Sie hatte immer noch Angst vor ihm.
„Also, was machst du hier?", wiederholte er seine Frage.
„Ich dachte... frische Luft würde mir guttun. Und..." Wieder fiel ihr Blick auf die sterbende Sonne. „Ich mag es den Sonnenuntergang zu beobachten."
Der Lord schenkte ihr einen flüchtigen Blick. „Wie jeden Tag vor der Nacht."
„Jeder Sonnenuntergang ist etwas Besonderes. Er ist wunderschön." Sie seufzte leise. „Ich wünschte, ich könnte es sehen."
Überrascht hob er die Augenbrauen. „Mm?"
Sie hielt den Atem an, doch in derselben Sekunde senkte sie den Kopf. „Nichts."
Ihre Stimme klang heiser, aber gleichzeitig sanft und weich. Der Prinz konnte sich nicht erklären weshalb er es mochte ihre Stimme zu hören. Doch es gelang ihm sehr gut keine Gefühlregung in seinem Gesicht aufkommen zu lassen. Noch immer betrachtete sie die Sonne. Schließlich überwand er sich und schaute nun ebenfalls dorthin.
Stille umgab sie. Der Sturm war vorbei, aber der Lord wusste, der Nächste würde kommen.
„Es ziehen Wolken auf."
Ihre Augen schwenkten zu ihm rüber. „Was?"
„Siehst du's nicht?" Er winkte mit dem Kopf auf die rechte Seite. „Die Wolken bringen neuen Schnee. Morgen wird die Sonne nicht zu sehen sein."
Sie beobachte ihn schweigend. „Du scheinst das Wetter hier sehr gut zu kennen."
„Ich lebe hier schon sehr lange."
„Warum gerade hier? So ganz alleine?"
„Unwichtig", schmetterte er ihre Frage ab.
Sie wich seinem Blick aus.
Sie verhält sich immer noch wie ein verängstigtes Kind, dachte er. Doch warum sollte ihm das kümmern?
Eine Weile lang sprach keiner von beiden ein Wort. Man hätte meinen können sie wären zu Eis erstarrt, doch irgendetwas fühlte der Ex-Herrscher. Er wusste nicht wieso, doch eine Anspannung in seinen Flügeln und Schultern baute sich in ihm auf. Was auf der Erde, sowas hatte er noch nie gefühlt. Der Lord schielte zu ihr rüber. War sie nervös? Was sollte er sagen? Wieso sollte er überhaupt etwas sagen? Er war nicht verpflichtet etwas zu sagen. Doch er hatte das Gefühl etwas sagen zu müssen. Er schüttelte über sich selber den Kopf.

Was machst du da?
Er räusperte sich, doch er war unfähig zu sprechen. Warum nicht?
Plötzlich hustete sie furchtbar. Jetzt waren seine Augen komplett auf sie gerichtet. Sie rieb sich den Hals.
„Alles in Ordnung?", fraget er unsicher.

Warum fragst du?
Erneut musste Shen den Kopf schütteln.
„Nur ein Kratzen im Hals", sagte sie mit einem Keuchen. „Das geht vorbei."
Sie sahen sich an, bis der weiße Pfau den Augenkontakt unterbrach.
„Zeit zum Schlafen."
Er drehte sich weg und begab sich ins Innere der Höhle. Als er merkte, dass sie ihm nicht folgte, gab er sich einen Ruck und winkte sie beruhigend zu sich, allerdings ohne sich dabei nach ihr umzudrehen.
„Keine Sorge. Du musst nicht in meinem Bett schlafen."
Sie konnte es nicht sehen, aber für einen kurzen Moment überschattete sein Gesicht Reue und Bedauern. Schließlich drehte er dann doch den Kopf in ihre Richtung. Wieder trafen sich ihre Blicke und er konnte es nicht ertragen ihr länger in die Augen zu schauen.
„Komm rein. Du erkältest dich noch."


„Du erkältest dich noch. Shen? Shen?"
So langsam wachte der Pfau aus seiner Trance auf. „Mm? Was?"
„Es ist kalt, Shen", drang die Stimme der alten Ziege zu ihm durch. „Du wirst dir noch eine Erkältung holen. Komm rein."
Der Pfau verengte die Augen.
Sich erkälten. Nur eine Lüge.
Verärgert wandte er sich ab. „Du bist nicht meine Mutter."
„Wo willst du hin?", fragte sie, während Shen sich zum zweiten größeren Zelt begab. Doch er äußerte sich nicht für sein Tun. Mit einem heftigen Schwung öffnete er die Zeltvorhänge und trat ein.
„Panda! Aufwachen!"
„Mm, was?" Po war immer noch nicht ganz wach. „Was ist los? Werden wir überfallen?"
„Wir brechen auf!"
Verschlafen rieb sich der Panda die Augen und drehte sich auf die andere Seite. „Es ist noch früh. Nur noch fünf Minuten."
Mit einem gnadenlosen Wink seines Fingers, deutete der Lord zuerst auf den schon wachen Schwager der Wahrsagerin, anschließend auf den maulenden Panda. Und es dauerte nicht lange und der Drachenkrieger in Schwarz und Weiß flog durch die Luft und landete draußen im kalten Schnee.
Mit rudernden Armen und Beinen setzte sich der Panda auf. „HEY! Wofür war das denn jetzt?"
Doch Shen schenkte seinem Morgenfrust keine Beachtung, sondern blickte mit schadenfroher Miene auf ihn herab. „Und ich werde dich im Auge behalten."
Damit ging Shen an ihm vorbei und ließ den irritierten Panda einfach sitzen.
„Warum?"
„Alles und jeder ist in 15 Minuten fertig!"
Noch immer völlig verwirrt stand der Panda auf. „Hey? Und was ist mit Frühstück?"

Der letzte KriegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt