19. Der falsche Brief und alte Erinnerungen

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Okay, das Kapitel ist etwas zu lang geworden, wollte es aber auch nicht in zwei Teile teilen.
Hinweis: Das Kapitel enthält ein paar intime Wörter und ein wenig Erotik.


Po musste sich sein Ohr putzen, nur um sicher zu gehen, dass er richtig gehört hatte. Aber es erweckte den Anschein, dass Xinxin genau das gesagt hatte, was er gehört hatte. Verwirrt starrte er herum und beobachtete wie Shen abrupt aufstand. Seine Tränen waren verschwunden, sein Ärger jedoch war geblieben. Er machte einen harten Schritt auf sie zu.
„Das ist unmöglich!", erwiderte er verbittert. „Niemand außer uns beiden wusste über uns Bescheid."
„Und außer mir", fügte Xinxin hinzu. „Trotzdem erzählte sie mir alles nachdem sie herausgefunden hatte, dass sie schwanger war. Aber kurz danach wusste auch eine andere Person darüber Bescheid. Das war ein schwarzer Tag für sie gewesen."
Shen fauchte sie wütend an. „Steck dir deine Lügen dorthin..."
„Shen!", mahnte ihn Po. „Hör doch mal zu." Der Panda legte die Handflächen aufeinander. „Bitte!"
Der Pfau wandte sich ab. Er wollte ihr nicht ins Gesicht sehen.
Xinxin machte das nicht aus und begann.
„Nach ihrer Rückkehr nach Hause, war sie die meiste Zeit sehr still. Völlig verschlossen. Das war nichts Neues für mich gewesen. Ich kenne sie seit sie ein kleines Kind war. Aber am nächsten Tag wurde sie nervös und sehr verzweifelt. Sie bat mich darum sie zu untersuchen. Ich war Hebamme bevor ich ein Dienstmädchen wurde. Und wir fanden heraus, dass sie schwanger war."
Sie machte eine Pause. Shen mittlerweile schaute sie immer noch nicht an.
„Was war ihre Reaktion?", fragte Po neugierig.
Die Füchsin fuhr mit ruhiger Stimme fort: „Nun, zuerst, war sie sehr glücklich darüber, aber im selben Moment auch sehr schockiert."
„Warum?"
„Ihre Eltern wussten nichts von all dem. Sie hatte ihnen nie erzählt, was in den Bergen vorgefallen war."
„Wieder eine Lüge", zischte Shens Stimme düster. „Sie behauptete, ihre Eltern wären tot."
Xinxin seufzte. „Für sie waren sie schon vor langer Zeit gestorben. Sie existierten nicht mehr für sie. Sie hatten sie nie als ihre Tochter akzeptiert."
Po rieb sich den Kopf. „Warum?"
„Weil sie ein Mädchen ist."
Po machte große Augen. „Nur aus diesem Grund?"
„Sie hatten sich einen Jungen gewünscht, doch stattdessen bekamen sie ein Mädchen. Sie wollte jedoch nie das gleiche mit ihrem Kind machen. Sie geriet in Panik. „Wer wird für das Kind sorgen?", hatte sie sich immer wieder gefragt. Sie war sich sicher, wenn ihre Eltern davon erfuhren, dass es das Ende von allem bedeuten würde. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass es zwei Kinder werden würden. Schließlich kam sie zu dem Entschluss Ihnen einen Brief zu schreiben."
In diesem Moment drehte sich der Pfau zu ihr um. Die Füchsin wich etwas zurück und hob schützend ihre Pfoten vor sich, als seine wutentbrannten Augen sie trafen. Po spannte seine Muskeln an, nur für einen Kampf bereit zu sein. Aber Shen hielt seinen Wutausbruch gerade noch zurück.
„Glaubt mir, mein Herr", sagte Xinxin. „Sie benötigte mehrere Anläufe um diesen Brief zu beginnen. Ich stand direkt neben ihr. Sie weinte, während sie schrieb. Doch noch bevor sie den Brief beenden konnte, kam ihre Mutter ohne Vorwarnung ins Zimmer. Sie pflegte stets ihre Tochter zu kontrollieren, wann immer sie wollte. Doch dieser Moment hätte nie ungünstiger sein können. Sie entriss ihr den Brief. Ich dachte zuerst, mein Herz würde stehen bleiben, wusste ich doch ungefähr was sie geschrieben hatte. Ich wurde gezwungen den Raum zu verlassen, aber ich werde nie vergessen wie wütend sie gewesen war. Ich erinnere mich noch so gut daran, als wäre es erst gestern gewesen."

Vor 17 Jahren...

„Gib mir den Brief zurück!"
Doch ihre Mutter hielt das Papier nur noch höher, sodass die junge Pfauenhenne es nicht erreichen konnte.
„Du wirst ihn nie wiedersehen!", schrie ihre Mutter. „Du bist eine Schande! Dich mit einem Dahergelaufenen einzulassen und verleumdest deinen zukünftigen Ehemann?! Ich schäme mich dich meine Tochter nennen zu müssen! Du bist eine Enttäuschung für deine Familie! Und diese Artbastarde, ich werde schon dafür sorgen, dass niemals jemand davon erfahren wird!"
Die junge Pfauenhenne kreuzte sich schützend die Flügel über ihren Körper. „Das ist mein Kind! Du kannst es mir nicht wegnehmen!"
„Weißt du nicht was passiert, wenn herauskommt, dass du Missgeburten von einem unverheirateten Liebhaber in dir trägst?"
Das Mädchen schwieg betroffen, während ihre Mutter auf und ab ging.
„Niemand wird von diesem unehelichen Kind erfahren. Es wird passieren bevor es schlüpft. Es wird schmerzlos sein. Keine Sorge. Es wird nichts spüren. Du hingegen wirst sicher sein, und wir vermeiden, dass es den Platz auf der Welt verschwendet."
Yin-Yu konnte nicht glauben, was ihre Mutter da sagte. „D-das kannst du nicht tun!"
„Artbastarde haben keinen Platz in der königlichen Familie!"
Das Mädchen schnappte nach Luft. Sie wandte sich ab und bedeckte ihr Gesicht mit den Flügeln.
Ihre Mutter kam näher. „Tochter, ich will doch nur das Beste für dich. Denk doch nur was passiert, wenn jemand erfährt, dass du ein Ungeheuer von einem anderen Mann in dir trägst. Du weißt, was du dann zu erwarten hast. Ich möchte dich nur vor der Todesstrafe bewahren. Besser es als du."
Das junge Mädchen hatte keine Kraft mehr sich auf den Beinen zu halten. Sie sank zu Boden, ihre zitternden Flügel hatten Mühe sie aufrecht zu halten. Aber ihre Mutter zeigte kein Verständnis und zerknüllte den Brief.
„Du wirst heute noch zu Xiang reisen", sagte sie eisig und wandte sich ab. „Und sorge dafür, dass er es nicht erfährt. Und wenn es soweit ist, werde ich den Rest erledigen."
Damit warf sie den Brief in eine mit flammengefüllte Feuerschale.


„Noch nie habe ich jemanden solange weinen hören wie an diesem Tag", erzählte Xinxin. „Sie verließ ihre Heimatstadt noch am selben Tag. Zusammen mit ihrer Mutter. Wir mussten sie gewissermaßen in die Kutsche tragen. Ich reiste mit ihnen." Sie stand von der Bank auf. „Doch bevor sie die Stadt verließ, bekam ich noch mit, wie ihre Mutter einen anderen Brief schrieb und ihn durch einen anonymen Boten wegschickte. So wie ich das sehe, hat dieser Brief Euch erreicht... unglücklicherweise."
Sie beäugte den Lord, aber dieser bewegte nicht einen Gesichtsmuskel.
Die Frau seufzte erneut. „Am nächsten Tag hatte sie ihn dann geheiratet."
Sie senkte den Blick. Aber Shen gab sich damit noch nicht zufrieden. Po versuchte ihn abzulenken.
„Aber wenn ihre Mutter wusste, dass sie schwanger war, wie konnte sie sie dann am Leben erhalten?"
Die Füchsin presste die Handflächen aufeinander.
„Nun, ihre Mutter... sie starb unter mysteriösen Umständen."
Nun starrten beide ihrer Zuhörer sie an, aber Po war der Einzige, der etwas sagte.
„Unter mysteriösen Umständen? Hat sie etwa...?"
„Ich sage nichts", unterbrach Xinxin. „Und ich sah nichts. Sie starb kurz nach ihrer Ankunft in der Stadt. Vielleicht war es ein Herzinfarkt." Sie sprach es so langsam aus, dass jeder heraushören konnte, dass sie nicht an einen natürlichen Tod glaubte. „Kurz nachdem sie etwas getrunken hatte."
Po sah Shen an. Doch der Vogel stieß nur ein schnaubendes Geräusch von Abscheu aus, aber jetzt begann auch er eine Frage zu stellen.
„Und woher willst du wissen, dass sie nicht von Xiang stammen?" Seine Stimme war hart, aber ruhiger als vorher. „Ich könnte mir vorstellen, dass er sich mit ihr nach der Hochzeit verbinden wollte, oder etwa nicht?"
Xinxin nickte betroffen. „Sie war ja bereits schon schwanger. Und ja, er tat es. Doch sie hatte sich nie glücklich mit ihm gefühlt. Nach der Hochzeit zwang er sie dazu, was er wollte. Sie sagte, er habe sie mehr vergewaltig als sie zu lieben. Es war Glück genug für sie, dass sie ihm sofort danach sagte, dass sie schwanger sei. Er sollte glauben, dass sie von ihm kommen." Sie ging langsam auf und ab. „Nachdem sie die Eier gelegt hatte, belästigte er sie wieder."
Shen verengte die Augen. „Und wie kommt es dann, dass sie keine weiteren Kinder bekommen hatte?"
Die Frau schnappte leise nach Luft. „Sie fragte eine alte Frau, die ihr ein Mittel gab, das sie unfruchtbar werden ließ für eine Weile. Sie wollte keine Kinder von ihm bekommen. Niemals. Wenigstens hatte es gewirkt. Danach wurde sie nie mehr schwanger."
Sie schwieg wieder für eine Weile.
„Als weitere Kinder ausblieben, stufte er sie als wertlos ein. Danach hatte er nie mehr Sex mit ihr gehabt. Verzeiht mir meine Wortwahl."
Sie verneigte sich entschuldigend.
„Das ist schon okay", meinte Po.
Xinxins Augen wanderten wieder zurück zu Shen.
„Aber sie konnte Euch nie vergessen. Umso mehr war sie innerlich zerbrochen, als sie von Eurem Tod erfuhr."
Po erinnerte sich daran, was Xia ihm erzählt hatte.
„Ich vermute mal, unsere Unterhaltung ist damit beendet."
Der Panda beobachtete wie Shen seine lange Robe schwang und zur Tür deutete.
„Die Tür ist offen."
„Wartet!", flehte Xinxin. „Bevor Ihr mich fortschickt, möchte ich Euch das hier noch geben."
Sie griff unter ihren Mantel und holte eine Schriftrolle hervor, die sie Shen überreichte.
„Das ist der richtige Brief. Ich brachte es nicht über mich ihn zu vernichten. Noch nie hab ich solche Worte gelesen. Vergebt mir, dass ich einen Blick reingeworfen hatte, aber ich wusste nicht, dass es so Privates ist, das sie an Euch schrieb."
Skeptisch betrachtete der Pfau das Papier. „Ich dachte, ihre Mutter hätte ihn verbrannt."
„Sie warf den Brief ins Feuer, aber es ist an den Flammen abgeprallt und daneben gelandet. Sie hatte sich nicht weiter darum gekümmert. Dafür war sie zu sehr voller Wut gewesen, um es zu bemerken. Aber ich hab es gesehen."
Sie schwenkte es in seine Richtung. Aber er war unwillig danach zu greifen. Als er sich weiterhin anhaltend weigerte, legte sie es auf den Tisch. Dann legte sie die Pfoten unter ihrem Mantel zusammen und drehte sich zur Tür.
„Es ist Eure Entscheidung."
Damit öffnete sie die Tür und verließ die beiden.
Po wusste nicht, was er tun sollte und tippte seine Finger zusammen.
„Mm, nun, ich denke, ich denke, dass du jetzt alleine sein willst, oder?"
Shen erwiderte nichts. Er starrte nur auf das Papier, welches immer noch unberührt auf dem Tisch lag. Po fragte nicht weiter und verließ nun ebenfalls den Raum. Draußen konnte Shen hören, wie Po Xinxin hinterherrannte und sie nach dem Inhalt des Briefes ausfragte. Dann wurde es wieder still.
Shens Augen hingen an dem Brief, der in ihm wieder Erinnerungen an das schreckliche Gefühl aufkommen ließ, die er beim Öffnen des ersten Briefes durchlebt hatte.
Plötzlich griff er danach und wollte ihn zerreißen, doch im letzten Moment zögerte er. Er schloss die Augen, seine Flügel eng um das Papier gedrückt. Wie viel schlimmer könnte es jetzt noch werden?
Er verweilte über zwei Minuten in dieser Position. Dann lockerte er seinen Griff und öffnete es. Das Papier war ein bisschen angesenkt. Er nahm einen tiefen Atemzug, bevor er es entrollte und zu lesen begann:
„Shen – ich finde keine Worte diesen Brief zu beginnen und es schmerzt mich mehr, dass du meinen ersten Brief unter diesen Umständen erhältst. Ich schäme mich für das, was ich getan habe. Ich hab so viel falsch gemacht. Zu dir. Am meisten von allen bereue ich, dass ich dich ohne ein Wort verließ. Ich war nur ein Idiot, du hast nichts falsch gemacht. Ich bin diejenige, die sich schämen muss. Bist du mir böse? Du hast recht. Ich war nicht ehrlich zu dir in einigen Dingen. Ich hasse mich selber dafür, doch ich muss dir was gestehen.
Mein wirklicher Name ist nicht Fang. Meinen eigentlichen Namen hatte ich aufgegeben. Ich dachte, ich hätte eine Chance meiner Vergangenheit zu entfliehen. Aber jetzt sehe ich, dass es unmöglich ist.
Die Wahrheit ist, ich komme aus Jingang. Vielleicht ist dir dieser Name ein Begriff und ich bin die Tochter der dort regierenden Eltern. Mein wirklicher Name ist Yin-Yu. Aber es hat keine Bedeutung mehr für mich. Trotz allem Geld und Gold, war ich ein niemand für alle, für jeden. Entweder wollte ich mein Leben ein Ende setzen oder wegrennen. Ich wurde einem Mann versprochen, den ich nicht liebe und auf mich mit voller Verachtung herabschaut, dass ich darunter zusammenbrechen könnte. Ich war so voller Hoffnung ein neues Leben zu finden nach meiner Flucht aus der Stadt. Ich hatte gehofft, sie würden mich nie finden, aber sie hatten es. Es hätte mein Herz gebrochen bei der Vorstellung, dass sie dich entdeckten. Ich dachte, es wäre das Beste meine Freiheit zu opfern, um dich zu verschonen. Vergib mir, aber ich hatte zu viel Angst. Ich bin es nicht wert, dass du dein Leben an mich verschwendest. Ich hatte mir gewünscht deinen Sieg zu sehen. Ich glaube, du wirst ein starker Herrscher sein. Aber es ist das Beste, wenn du deinen Weg ohne mich fortsetzt. Ich bin zu schwach. Ohne dich, bin ich nur ein Schatten meiner selbst, welches sich nur vor seinem eigenen Schatten fürchtet. Du hingegen bist die Stärke in der Welt. Nachdem ich dich getroffen habe, gabst du mir neues Leben. Es war mehr als was du mir gabst – deine Wärme, deine Hingabe, deine Liebe. Das Universum war gesegnet, als es dich erschuf. Du bist rein wie der Schnee. Und was bin ich? Jemand, der nicht mal seine eigenen Farben sehen kann? Alles was ich sagen will ist... mein Verlangen für Vergebung für das, was ich getan habe. Ich kann dich nicht um mehr als das bitten und ich würde sagen, es wäre das Beste, dass ich mich selber aufgebe und mich dafür bestrafte. Aber du sollst wissen, dass du Vater wirst. Es flößt mir Angst ein, das zu schreiben. Es fällt mir schwer die Feder zu halten..."

An dieser Stelle war das chinesische Schriftzeichen verschwommen, so als wäre ein Wassertropfen draufgefallen.
„Ich habe Angst um mein Kind. Unser Kind. Es ruft die Erinnerungen unserer Nacht zurück. Es war die beste Zeit meines Lebens. Ich vermisse dich so sehr. Ich schaue mich jedes Mal nach dir um, in der Hoffnung, du wärst in meiner Nähe. Ich fühle dich stets an meiner Seite wie die vergangenen Tage du mir warst. Noch nie habe ich jemanden wie dich getroffen. Innerlich war ich tot, aber du gabst mir neues Leben. Ich war ein Nichts bevor ich dich traf. Aber ich wünsche wirklich zu sehen, wie du unser Baby in den Flügeln hältst."
Ein dicker Strich überquerte den Rest der Zeile. Der Stift hatte das Papier fast zerrissen. Erst im nächsten Absatz hatte sie sich wohl dazu überwunden, wieder im normalem Text zu schreiben, aber ihre Handschrift war hier zittrig und schnell geschrieben.
„Hol mich hier raus! Ich möchte ein neues Leben anfangen – mit dir! Ich möchte mit dir leben wie ich es dir in unserer Nacht versprochen hatte. Bitte, hol mich hier raus! Ich kann es nicht alleine durchstehen. Ich habe einen Fehler gemacht... nenn mich eine Närrin, aber es würde nichts ändern für das, was ich für dich empfinde. Ich werde nie einen anderen Mann ansehen, dir treu ergeben sein. Aber wenn du glaubst, ich bin es nicht mehr wert, dann bestraf mich wenigstens. Besser von dir als von jemand anderen. Ich würde lieber eine Gefangene für dich sein als einen anderen Mann zu heiraten. Aber vielleicht verdiene ich nicht jemanden wie dich. Du besitzt die innere Stärke, die ich nicht habe. Nicht mal ein Feuersturm könnte dich niederreißen. Aber wenn es dein Wille ist mich keines Blickes mehr zu würdigen, dann nimm wenigstens unser Kind. Es wird dich glücklicher machen als ich es könnte. Ich bin zu schwach..."
Hier endete der Brief. Vielleicht hatte ihre Mutter an dieser Stelle ihr das Papier entrissen.
Um Shen herum wurde es still. So still. Langsam ging er ans Fenster. Schnee fiel draußen. Kalter Schnee.

Vor 17 Jahren... Vor dem Brief

Er kam zurück. Sie schaute auf. Schon seit vielen Stunden hielt sie sich in seinem Privatraum auf und wartete nur auf ihn. Schließlich öffnete sich die Tür. Er trug zwei Roben. Schneeflocken hingen in seinen Federn und rieselten auf den Holzboden.
Sie erschrak. Er hinkte.
„Was ist mit Euch passiert?"
Er warf die erste Robe weg. „Nichts!"
Ihre Augen wanderten runter zu seinen Füßen. „Ist das eine Brandwunde?"
„Ich hab nur etwas Neues ausprobiert."
„Habt Ihr Euch geschnitten?"
„Ich hab nur meine neue Erfindung getragen."
„Was für eine neue Erfindung?"
„Metallkrallen. Und ich muss zugeben, dass die sehr scharf sind. Aber ich werde lernen in diesen Dingern zu laufen, ohne mich daran zu schneiden."
„Wenn sie so scharf sind, warum tragt Ihr sie dann?"
„Zu meinem Schutz."
„Aber Ihr hab euch selbst verletzt."
„Das ist mir egal. Die Hauptsache ist, dass mein Projekt läuft."
Sie blickte ihn besorgt an. „Gestattet Ihr mir, dass ich es reinige?"
Seine scharfe Antwort ließ sie zusammenfahren. „Ich kann immer noch für mich selber sorgen!"
Sie zog entschuldigend den Kopf ein. „Aber gibt es denn gar nichts, was ich für Euch tun kann?"
„Nur still sein und keine Frage stellen."
Sie blieb still. Er wollte nicht mehr länger darüber reden und ging weg. „Ich werde jetzt ein warmes Bad nehmen."
Damit verschwand er in einem Nebenraum.


Nach über einer halben Stunde öffnete sich wieder die Tür. Sie stand immer noch dort, wo er sie zurückgelassen hatte. Jetzt stand er im Türrahmen. Sie beobachtete ihn. Er hatte sich eine neue frische Robe übergezogen. Seine Federn wirkten etwas flauschiger als vorher. Er strich sich über den Kopf mit einem kleinen Handtuch und trat ein.
„Du kannst jetzt auch ein Bad nehmen."
Sie sah ihn überrascht an. „Ich?"
Er verdrehte die Augen. „Wie lange lebst du schon hier? Wenn du mit mir unter einem Dach leben willst, kann ich ja wohl verlangen, dass du dich auch mal wäschst."
Nach einer Weile nickte sie. „Na gut."
Langsam ging sie an ihm vorbei.
„Und nimm das hier."
Sie betrachtete das, was er vor ihr hinhielt. Es war eine weiße Robe mit dunklen Stickereien. Schüchtern strich sie sich über ihren braunen Umhang, den sie trug.
„Ich verlange es", befahl er.
Vorsichtig nahm sie es. „Äh, danke." Scheuch deutete sie auf das Muster. „Was hat es für eine Farbe?"
„Silber-weiß mit blauen Einstichen."
„Blau", wiederholte sie nachdenklich. „Ist das dieselbe Farbe wie der Himmel, den Ihr mir gezeigt habt? Es ist kalte Farbe, stimmst?"
Aber Shen ging nicht darauf ein. „Ich brauche es nicht mehr. Du kannst es haben."
Die Pfauenhenne wollte noch mehr fragen, aber seine Augen befahlen ihr jetzt still zu sein. Sie nickte langsam, dann drehte sie sich um. Aber bevor sie die Tür hinter sich schließen konnte, rief er ihr noch etwas nach.
„Neues Wasser ist schon drinnen."
Sie hielt überrascht inne. Woher hatte er gewusst, dass sie ein Bad akzeptieren würde?


Noch nie hatte sie ein Bad so sehr genossen wie an diesem Tag. Keine Bediensteten in der Nähe. Niemand der ihr sagte, wann sie es zu verlassen hatte.
Das Badezimmer war nicht das Nobelste, aber besaß alle Art von Komfort. Eine große Holzbadewanne, welches ein regelrechtes Kunstwerk war, Handtücher und einen großen Spiegel.
Nachdem sie dachte, sie hatte genug, kletterte sie aus der Badewanne raus und nahm ein großes Handtuch zur Hand, welches direkt daneben hing. Sie rubbelte ihre Federn trocken so gut sie konnte und wickelte es sich anschließend um ihren Körper. Dann ging sie zu dem großen Spiegel rüber, der fast von der Decke bis zum Boden reichte, sodass sie sich von Kopf bis Fuß betrachten konnte. Dabei fiel ihr Blick auf die silber-blaue Robe. Blau war bis jetzt die einzige Farbe gewesen, wofür Shen bis jetzt kein passendes Beispiel dazu gefunden hatte, um es ihr zu erklären. Er hatte ihr nur erzählt, dass sie kalt ist, aber nicht so ganz kalt wie der Schnee. Eine kalte Farbe soll sie warmhalten.
Mit einem sanften Lächeln nahm sie es.


Shen zischte. Er saß auf Kissen vor einem Feuer und war gerade damit beschäftig die Wunden an seinen Füßen zu reinigen. Die Brand- und Schnittwunde waren nur wenige Zentimeter auf dem gleichen Fuß voneinander entfernt. Die Metallkrallen waren wirklich sehr scharf gewesen. Er tunkte ein kleines Tuch in eine mit Flüssigkeit gefüllte Schüssel und tupfte es auf die wunden Stellen. Verdammt, es brannte! Danach wickelte er einen Verband um das Bein. Er war fast damit fertig, als die Tür zum Bad sich öffnete.
Er sah auf. Sein Blick blieb an ihr hängen. Vielleicht lag es auch nur daran, dass sie in der neuen Robe besser aussah, als in der braunen, die sie zuvor getragen hatte. Schüchtern strich sie sich über die Haarfedern und blickte auf ihre neu-alte Robe herab. „Blasst sie mich auch nicht aus?"
Er schüttelte langsam den Kopf. „Nein, es gefällt mir... äh... Setz dich."
Sie ging zu ihm rüber, verneigte sich noch einmal respektvoll, bevor sie Platz auf einem der Kissen vor dem Feuer nahm, sodass sie rechts von ihm saß. Vorsichtig streckte sie die Füße aus, die immer noch ein bisschen feucht vom Badewasser waren. Shen kümmerte sich nicht mehr weiter um seinen verwundeten Fuß und starrte in die Flammen. Ihre Augen wanderten auf sein bandagiertes Bein.
„Tut es weh?"
„Nicht mehr."
Wieder trat Stille ein, die schwer auf ihrer Seele lastete.
„Was macht Eure Arbeit?", versuchte sie einen neuen Anlauf.
Seine Augen wanderten höher, immer noch in die Flammen starrend. „Ich werde eine Menge Metall benötigen."
„Könntet Ihr es nicht kaufen?"
Er schüttelte den Kopf. „Meine Eltern haben mir sämtliche Geldmittel gestrichen. Für sie bin ich ein Nichts."
Sie beobachtete ihn. „Haben sie Euch geschlagen?"
„Viel schlimmer."
Wieder schwieg er.
Sie schluckte leise, bevor sie es wagte ihre Schnabellippen zu bewegen. „Was hat man Euch angetan?"
Seine Augen erschrecken sie, als er sie auf sie richtete.
„Sie verbannten mich aus meinem eigenen Zuhause."
Nervös rieb sie ihre Flügel aneinander. „Wieso sollte man Euch verbannen?"
Er zögerte mit seiner Antwort und senkte etwas seinen Blick. „Ich... ich musste... töten."
Als er merkte, wie sich ihre Augen weiteten, fügte er hastig hinzu: „Sie haben mir gedroht mir was anzutun. Ich hab sie nur beseitigt, bevor sie mir dasselbe antun konnten."
Ihr angsterfüllter Ausdruck wandelte sich in ängstliche Verwunderung. „Warum sollte man Euch bedrohen wollen?"
Er hob den Kopf und verengte die Augen. „Um meinen Traum zu zerstören."
Er wandte seinen Blick von ihr ab und starrte zurück auf die Flammen im Feuer. „Niemand hat je verstanden, was ich wollte. Aber ich werde wieder aufstehen. Jeder sollte zu mir aufsehen anstatt auf mich herab. Jeder soll sehen wie stark ich bin. Trotz meiner Färbung. Aber sie werden es eines Tages tun. Und ich werde mir zurückholen, was sie mir genommen haben."
Eine schwere, traurige Atmosphäre umgab sie.
„Ich kenne so ein Gefühl."
Er sah sie an, während sie weitersprach.
„Es ist wie ein Ort ohne Tag und wie in einem inneren Gefängnis."
Shen legte den Kopf schief. „Hast du eine Familie?"
„N-nein, wie gesagt, meine Eltern existieren nicht mehr, aber sie haben mich gehasst."
„Weshalb sollten sie dich hassen?"
Sie schluckte. „Ich bin ein Mädchen, aber meine Eltern wollten einen Jungen."
„Oh, das ist wirklich... schlimm."
Sie zog ihre Robe enger um sich herum. „Ist das schlimm?"
Der Pfau verstand nicht. „Was?"
„Ist es so schlimm eine Frau zu sein?"
„Warum sollte es? Du bist doch schön, ähm..."
Die Pfauenhenne seufzte tief und erhob sich. Schweigend beobachtete der Pfau, wie sie sich ein paar Schritte von ihm entfernte.
„Aber ich möchte mehr als etwas sein, was man nur die ganze Zeit anstarrt", sagte sie verbittert. „Aber mehr als das habe ich ja nicht."
Der Pfau verfluchte sich für seine Worte und stand ebenfalls auf. Er verschränkte die Flügel hinter seinem Rücken und ging zu ihr rüber. „Aber du hast etwas, was sonst keiner hat."
Sie warf ihm einen überraschten Blick zu. „Und was?"
„Dass du keine Farben sehen kannst." Er ließ seinen Blick durch den Raum wandern. „Farben existieren, um das Leben zu verschönern. Das ist auch der Grund, weshalb meine Familie das Feuerwerk erschuf."
Doch dann in der nächsten Sekunde wurde sein Blick wieder ernst und seine Gesichtszüge verstraften sich. „Aber die meiste Zeit tun sie es nicht. Es klassifiziert uns. Die Welt wäre besser dran, wenn sie keine Farben sehen können."
Ein Hauch von Bewunderung überzog ihr Gesicht. „Denkt Ihr wirklich so?"
Er verengte die Augen. „Ich weiß es."
Beeindruckt stand sie steif da und wusste für einen Moment nichts zu sagen. Schweigend ging er auf sie zu. Gefangen in ihrem Augenkontakt.
Plötzlich schmetterte ein lauter Schlag. Ein kalter, eisiger, starker Wind fegte durch den Raum. Beide waren so erschrocken, dass Shen nach vorne sprang, seine Flügel um sie legte und sie in eine Ecke zog. Mit weiten Augen starrten beide auf das Fenster, welches aufgeflogen war. Als niemand zu sehen war, entspannten sich ihre Haltungen wieder.
„Nur der Wind", murmelte Shen erleichtert.
Er zuckte zusammen, als er bemerkte, dass er ihr über den Kopf streichelte. Hastig entließ er sie aus seiner Umklammerung und rannte nach vorne, um das Fenster mit Mühe zu schließen. Nachdem er es blockiert hatte, lehnte er sich dagegen. Jeder hörte die schnelle Atmung des anderen. Dann kicherten sie.
„Oh, meine Güte. Hab ich mich erschrocken", sagte sie und rieb sich verlegen über den Hals.
Shen erhob sich. „Ich denke, ich sollte mal ein ernstes Wort mit dem Fensterbauer reden."
Sie lächelte und ging auf ihn zu. „Du solltest nicht zu streng sein."
Er räusperte sich und rief sich eine Ernsthaftigkeit zurück. „Ohne Strenge verliert man schnell."
Sie seufzte und umfasste seine Flügel. „Du bist stark."
„Meister Shen!", rief eine laute Stimme.
Im selben Moment wurde die Tür geöffnet und ein einäugiger Wolf stürmte herein. „Ich hörte ein lautes Poltern. Ist alles in Ordnung?"
Der Pfau wich ihren Flügeln aus und wandte sich an ihn.
„Keine Sorge, es ist alles in bester Ordnung. Es war lediglich nur der starke Wind."
„Wir befinden uns in einem Schneesturm", erklärte der Wolf. „Aber wir haben alle Türen verbarrikadiert."
„Außer dieses Fenster", murmelte Shen bei sich.
„Bitte?"
Der Pfau ging nicht darauf ein weiter. Sein Seitenblick fiel auf die Pfauenhenne, sie gerade den Schnee aus ihrer Robe abschüttelte.
„Ähm, das ist okay. Ich benötige deine Dienste für heute Nacht nicht mehr."
Der Wolf schien ein bisschen verwirrt zu sein und schaute von einem zum anderen. Schließlich zuckte er die Achseln. „Na dann. Gute Nacht."
„Gute Nacht", antworteten beide Vögel wie aus einem Munde.
Schnell hielt sie sich ihren Schnabel zu. „Oh, verzeiht."
Er schmunzelte insgeheim. Mit einem Lächeln betrachtete er die glitzernden Schneeflocken in ihren halb getrockneten Federn, die allmählich begannen langsam zu schmelzen.
„Du hast Schnee in deinen Federn", sagte er und strecke seinen Flügel nach ihr aus. Sie bewegte sich nicht, als er sie etwas freirubbelte. Sie ließ ihn einfach gewähren. Auf einmal hielt er inne und starrte sie an. Langsam zog er seinen Flügel zurück. Ihr Blick war seltsam. Kein Lächeln, keine Traurigkeit, nur ein unbeschriebenes Blatt.
Zögernd hob sie jetzt ihren Flügel. „Ihr auch."
„Wirklich?"
Er berührte seine Wagen und kalte Schneeflocken fielen herab.
„Ja."
Er zuckte zusammen, als ihr Flügel sein Gesicht berührte. Seine Augen bleiben auf sie gerichtet. Als sie seinen wachsamen Blick bemerkte, senkte sie den Flügel schnell wieder.
„Verzeiht mir das."
„Nein, das ist..."
Er schüttelte den Kopf.
Ein leichter kalter Hauch lag noch in dem Raum, den der Wind mit reingeweht hatte.
„Ich hab ehrlich gesagt nicht vor noch ein zweites Bad zu nehmen", murmelte er. „Ist dir kalt?"
„Ein bisschen."
Er winkte mit den Kopf nach rechts. „Gehen wir zurück."
Damit setzten sie sich wieder auf die Kissen. Doch kaum hatten sie Platz genommen, erhob Shen sich erneut und holte eine Decke.
„Das wird dich aufwärmen."
Mit diesen Worten legte er einen Teil davon über sie, dann setzte er sich neben sie und wickelte die andere Hälfte um sich selber. Kaum hatte er die Decke geschlossen, kuschelte sie sich automatisch an ihn. Sie erschauderte ein wenig, doch dann ließ es nach, als die mollige Wärme sie umgab und er fühlte, wie sie sich wieder entspannte.
„Euer Verband ist verrutscht."
Er sah auf seinen Fuß. In der Tat. Das Tuch um seine Wunde hatte sich gelockert. „Oh."
Er beugte sich nach unten, doch bevor seine Flügel seinen Fuß berühren konnten, kreuzte ein anderer Flügel seinen Weg. Seine scharfen Augen ermahnten ihre Aktivität, aber diesmal hielt sie seinem Blick stand.
„Bitte, lasst es mich fixieren."
Sein Vorhaben ihre Flügel wegzuschieben wurde schwächer. Schließlich ließ er sie gewähren. Vorsichtig nahm sie die Enden des Verbandes und zog ihn erst mal vollständig runter. Sein Fuß zuckte unter ihrer Berührung. Sie unterdrückte den Wunsch etwas zu sagen. Stattdessen betrachtete sie die Wunden für einen Moment, dann wickelte sie die Verbände drum herum und befestigte es mit einem festen Knoten.
Die ganze Zeit über sah sie ihm nicht ins Gesicht. Doch sie konnte seine wachsamen Augen spüren.
„Das müsste genügen", sagte sie und setzte sich wieder zurück an ihren Platz, immer noch seinen Blick ausweichend. Sie beobachtete wie er sein Bein wieder enger an sich zog.
Langsam wanderten ihre Augen zu ihm hoch. Doch sein Gesichtsausdruck blieb ein versiegeltes Buch. Er zeigte keine Emotionen. Schnell mied sie seinen Blick und hielt zwischen sich und ihm etwas mehr Abstand. Als Shen ihre Augen nicht mehr sah, blinzelte er. Eine sanfte Traurigkeit bedeckte sein Gesicht. Er seufzte leise. Diese Frau machte es ihm schwer seine stolze Würde zu wahren. Nachsicht war bis jetzt ein unakzeptables Wort in seiner Denkweise gewesen. Aber dies ist in letzter Zeit ziemlich oft passiert. Alles nur wegen ihr. Er war besorgt nachzugeben. Das wäre Schwäche. Er konnte keinen Schwachpunkt zulassen. Und es war zu gramvoll.
Sein Schnabel zitterte.

Komm nie wieder zurück!
Er sollte nie mehr zurückkommen.
Das war es, was ihm sein Vater direkt ins Gesicht gesagt hatte.
Sein eigener Vater.
Jeder, von dem er dachte, man würde ihn lieben, hatte ihm den Rücken zugekehrt.
Jeder.
Er spannte sich an.
Niemand sollte das je wieder wagen.
Sein Blick fiel auf sie, als sie ihre Flügel um sich schlang.
„Ist dir immer noch kalt?", fragte er.
Sie warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. „Nein, das ist okay für mich."
Mit schnippischer Geste zog er die Nase hoch. „Das sehe ich."
Er rückte etwas näher an sie heran. Steif blieb sie auf ihrem Platz sitzen. Dann legte er langsam einen Flügel über ihre Schulter und zog die Deckenenden um sich und sie zu. „Besser?"
Zögernd nickte sie.
„Na fein", sagte er von oben herab. „Tu mir den Gefallen und sei nicht so verkrampft. Es macht mich nervös."
„Oh, das tut mir leid."
Hastig kuschelte sie sich an ihn. „Ist es so besser für Euch?"
Er gab ihr einen verächtlichen Seitenblick. „Nah genug."
Damit rieb er sich die Stirn. Zu seiner Erleichterung schloss sie die Augen. Dann wurde es um sie herum still. Nur das Knacken im Feuer war zu hören.
Nach einer Weile lehnte sie ihren Kopf an seinen langen Hals. Diese ungewohnte Berührung ließ ihn hellwach werden, fühlte sich aber gleichzeitig wie gelähmt. Für einen kurzen Moment konnte er nicht mehr denken, nur fühlen. Sein Flügel ruhte immer noch auf ihrem Rücken. Sanft strich er über ihren Rücken. Sie seufzte tief.
Gefiel ihr das?
Auf einmal kam er sich vor wie ein kleiner Junge, der nicht wusste wie eine Sache lief. Wo lag die Grenze? Er hatte mit seinen Eltern nie über solche Dinge gesprochen. Er sah auf sie runter und atmete ihren Duft von frischer Seife ein. Noch nie war ihm eine Frau so nahe gewesen wie jetzt. Außer vor wenigen Tagen, wo sie krank gewesen war, aber das hier war etwas völlig anderes. Es war irgendwie anders als beim letzten Mal.
Ihr Kopf wanderte weiter hoch. War das ein gutes Zeichen?
Ihre Stirn berührte sein Kinn. Eine Hitze stieg in ihm auf. Langsam schlang er seinen anderen Flügel um sie.
Ob ihr wieder kalt war?
Leise atmete er durch. Er durfte sich nicht gehen lassen. Wo blieb seine Kontrolle? Aber es fühlte sich so gut an. Wen kümmerte es? Weder seine Eltern, noch ihre Familie. Wen würde es überhaupt kümmern?
Er zuckte zusammen. Ihr Flügel ruhte auf seiner Schulter. Er zitterte innerlich. Er genoss es regelrecht umgarnt zu werden. In seinen Teenager-Jahren hatte er oft versucht ein Mädchen zum Spaß zu küssen, aber alles was er damit erhielt waren Ohrfeigen oder Wegstoßen, obwohl er ein Prinz war. Keine Frau wollte ihn in ihrer Nähe haben.
Sie schmiegte sich an seinen Hals. Der Pfau war wie gelähmt. War ihr nicht klar, was sie da tat? Aber sie schien es zu mögen. Seine Fingerfedern verkrampften sich.
Verdammt, lass es einfach geschehen!
Er drehte sie sachte um, ihre Oberkörper berührten sich fast. Doch dann lehnte er sich vor und drückte sie an sich. Sie reagierte wieder. Seine Augen waren auf ihren Schnabel fokussiert.
Nur ein bisschen... nur ein einziges Mal.
Er drückte seine Schnabellippen auf ihre. Sein Verstand setzte aus. Er konnte nicht glauben, was er da tat. Würden seine Eltern ihn so sehen, wären sie nicht davon begeistert. Er küsste eine unbekannte, fremde Frau. Sie strich über seinen Rücken. Es fühlte sich so gut an. Er wollte mehr.
„Nein!"
Sachte stieß sie ihn von sich und flüchtete in den entgegengesetzten Teil des Raumes. Noch immer wie in Trance sah er ihr nach. Nach und nach wurde sein Verstand wieder klar. Dann folgte er ihr.
„Was ist los? Was hast du?"
Er sah wie sie zitterte. Er seufzte. „Es tut mir leid..."
Hatte er die Grenze überschritten?
„Ich wollte nur deine Lippen berührten, nichts weiter."
Er biss sich auf die Zunge. Vielleicht waren das die falschen Worte, aber verdammt, was redete er da überhaupt?
Noch immer zitterte sie.
Er schnaubte. „Ich bin nicht gut genug für dich, nicht wahr?"
Er gab sich innerlich eine Ohrfeige dafür. Was hatte er ihr doch versprochen?
„N-ne-in, nein", stotterte sie. „I-ich... es hat mir schon gefallen..."
Überrascht starrte er sie an. „Wirklich?"
Er trat ein bisschen näher an sie heran. Ihre scheuen Augen waren direkt auf ihn gerichtet. Der Lord streckte seine Flügel aus, aber sie hob abwehrend ihre Flügel.
„Es ist nur..."
„Wegen..."
„Nein, nicht wegen Euch... es ist mehr... ich hab Angst."
„Angst wovor?"
Sie schlang ihre Flügel um sich selber. „Ich hab noch nie..."
Verwundert sah er sie an. „Du bist noch Jungfrau?"
Sie schrak zusammen und bedeckte ihr Gesicht.
Schweigend betrachtete er sie. „Jemand wie du, die so viel herumreist und du bist immer noch..."
„Ich hatte immer Angst", sagte sie schnell. „Ich kann niemanden trauen."
Skeptisch verengte er die Augen. „Und wie ist es bei mir?"
Sie sah ihn an. „Ich... ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Es ist alles so... so fremd."
Er schwieg. Dann begann er bedächtig zu reden. „Da bist du nicht die Einzige hier."
Sie hob überrascht den Kopf. „Ihr auch?"
Er senkte den Blick ein bisschen während sie weitersprach.
„Heißt das, Ihr wart noch nie mit einer Frau zusammen?"
Er nahm einen Atemzug, kam näher und strich ihr sanft übers Gesicht.
„Sie hassen meine Farbe", flüsterte er. „Für die bin ich nur ein Fluch."
Sie schloss die Augen und genoss seine Berührung.
„Das macht mir nichts aus", sagte sie. „Auch wenn Ihr ein farbenprächtiges Gefieder hättet, wäre es für mich schwer zu erkennen welche Farbe Ihr hättet."
Er sagte nichts. Stattdessen senkte er seine Flügel und wickelte sie um ihren Oberkörper, um sie näher an sich zu drücken. Seine Augen wanderten zurück auf die Kissen, wo sie fast getan hätten, was sie tun wollten. Zögernd folgte sie seinem Blick. Zuvor war es noch ein lustiges Spiel, aber jetzt war es Ernst.
Shen rieb seine Fingerfedern auf ihr. War sie überhaupt dafür bereit? Aber da war eine Hitze in ihnen, die sie nicht ignorieren konnten. Sie wollten es, aber war das der richtige Weg? Er wusste, dass die Ehe mit einer große Verantwortung verbunden war. Mit einem Mal fühlte er sich nicht mehr wie ein Erwachsener, aber er musste sie führen, so wie ein Mann eine Dame beim Tanz.
„Du sagtet, du erklärtest dich bereit länger zu bleiben. Könntest du dir vorstellen noch länger zu bleiben?"
„Wieviel länger?"
„Sehr viel länger."
Sie konnte seinen Augen nicht ausweichen. Sie war von ihm wie hypnotisiert.
„Würdest du mir die Ehre erweisen bei mir zu bleiben?"
Es war dieselbe Frage, wie er sie ihr auch vor ein paar Tagen gestellt hatte. Zu bleiben solange bis sein Projekt beendet war. Niemand wusste wie lange das sein würde, aber lange. Nun sollte sie sich entscheiden ihre Zukunft mit ihm zu teilen. Sie wusste nicht wieso, aber ihr Instinkt gab ihr den Stoß ihm zuzunicken. Er seufzte mit einem Lächeln.
„Dann bleib bei mir für eine sehr lange Zeit."
Er umfasste ihre Flügel mit seinen. Dann führte er sie langsam wieder zurück ans Feuer. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie hatte Angst, war aber aufgeregt zugleich. Er hatte ihr gerade einen Heiratsantrag gemacht und war im Begriff mit ihr in die Hochzeitsnacht zu gehen. Sie blinzelte. Nie hätte sie damit gerechnet mit einem Mann wie ihn auf diese Weise zusammen zu kommen.
Shen zuckte zusammen. Sie hatten die Kissen fast erreicht, doch blieb sie stehen. Ihr Blick gesenkt. Sie schien ihren Mut und ihre Kraft verloren zu haben. Der Pfau wusste nicht sofort, was jetzt zu tun war. Es war schon schwer genug eine Armee anzuführen, aber dies hier war bei weitem komplizierter, aber schön.
Ein Schauder durchdrang ihren Körper, als er damit begann seine Fingerfedern auf ihren Flügeln zu reiben. Dann kam er näher und hob ihr Kinn an. Ihre scheuen silbernen Augen trafen auf seine roten. Aber diesmal waren sie nicht ernst. Sie schauten sogar recht warm.
Shen zwang sich zu einem sanften Lächeln.
„Blau ist kalt", begann er. „Grün weniger kalt, gelb ist wärmer, orange sehr warm, aber rot... Erinnerst du dich?"
„Es ist heiß wie Feuer", beendete sie den Satz.
Er kicherte. „Hab ich dir je gesagt, wie viele rote Federn ich habe?"
„Nein."
„Dann lass mich dir einen Vorschlag machen. Du zählst meine roten Federn und ich zähle deinen Silbernen."
Zuerst wollte sie lächeln, aber dann erstarb es. Seine roten Federn befanden sich nur auf seinem Kopf oder seinem Pfauenschwanz, wohingegen ihre silbernen mehr über ihren ganzen Körper verteilt lagen. Der Lord seufzte tief. Sein Versuch hatte nicht den Erfolg erziel, den er erhofft hatte. Seine Flügel wanderten höher und blieben auf ihren Schultern. Sie beobachtete seine Bewegungen, sein Gesicht dabei wie ein Mysterium.
„Vertrau mir." Seine tiefe, langsame Stimme ließ sie wie in einer Trance verfallen. „Vertrau mir einfach."
Das war alles, was er zu sagen wusste.
Der letzte klare Verstand verschwand, als sich ihre Lippen näherten. Seine Flügel liebkosten sie. Alles um sie herum verschwamm. Es kümmerte sie nicht, als sie fühlte wie ihre Robe zu Boden glitt.


Am nächsten Tag, in den führen Morgenstunden

Sie atmete die kühle Luft ein, die durch das Fenster des Quartiers drang. Es fühlte sich an wie nach einer Wiedergeburt. Sie wickelte die Decke enger um sich, während sie den Schnee durch das Fenster betrachtete. Ein wohltuender Schauer durchlief ihren Körper, als umsorgende Flügel sanft über ihren Körper streichelten und sich von hinten an sie schmiegten. Während er ihren Hals streichelte, lehnte sich der weiße Pfau nach vorne und flüsterte ihr ins Ohr.
„Guten Morgen."
Zärtlich berührte er sie und strich ihr über den Brustkorb. Sie genoss seine Nähe. Für eine Weile blieben sie so zusammen und schauten auf die verschneite Landschaft. Der Schneesturm hatte sich gelegt und Stille herrschte. Schließlich drehte sie sich zu ihm um. Er hatte sich seine Robe notdürftig übergezogen, sodass seine Schultern freilagen.
Sie lächelte ihn an. „Du wirst dir noch eine Erkältung holen."
Damit rückte sie näher an ihn heran, legte beide Enden ihrer Decke über seine Schultern, doch die Decke war nicht groß genug, sodass sie eng zusammenrücken mussten. Der Lord schenkte ihr ein kicherndes Lachen. Ohne Angst ließ sie sich nach vorne fallen und ihr unbekleideter Körper lehnte sich gegen ihn. Sie rieben ihre Köpfe aneinander. Sie seufzte vor Wohlbehagen. „Es war wundervoll."
Er lächelte. „Du auch."
Sie hob den Kopf. Ihre Gesichter näherten einander bis sich ihre Schnäbel berührten. Dann rutschte ihr Kopf nach unten und lehnte an seinen Hals. Er seufzte tief. Mit einem Flügel strich er über ihren Kopf, mit dem anderen hielt er ihren Oberkörper.
Die ersten Sonnenstrahlen tauchten am Horizont auf.
„Und wenn ich China regiere", murmelte er. „Wirst du an meiner Seite sein. Ich werde dich zur mächtigsten Frau im Königreich machen."
Sie streichelte seine Flügel. „Macht und Reichtum sind mir nicht wichtig." Sie sah ihn ernst an. „Hauptsache wir bleiben zusammen."
Er atmete zufrieden und führte die Flügel seiner Ehefrau zu seinem Mund und küsste ihre Fingerfedern. „Niemals in meinem Leben... hat mir jemand ein besseres Geschenk gemacht wie du letzte Nacht."
Sie umfasste die Fingerfedern ihres Ehemannes enger in ihren Flügeln. „Der Himmel hätte mir keinen besseren Mann geben können als dich."
Er verstärkte seinen Druck um ihren Flügeln, bevor er sie nach unten wandern ließ. Sie folgte seinem Beispiel und sie umarmten sich intensiv. Der verbannte weiße Prinz konnte es nicht mehr zurückhalten. Ihre Berührung trieb ihm die Tränen in die Augen. So stark, dass eine davon auf ihre Wange fiel. Erschrocken sah sie zu ihm auf. „Hab ich was falsch gemacht?"
„Nein..." Schnell wischte er die Tränen aus dem Gesicht. „Es ist nur... das Schießpulver von gestern. Ich hab's wohl nicht so gut aus meinen Federn herausbekommen."
Sie lächelte verschmitzt. „Vielleicht sollten wir in Zukunft zusammen ein Bad nehmen. Ich könnte dich sauber machen."
"Vielleicht wäre das keine schlechte Idee", und strich ihr über den Rücken.
Sie kicherte erleichtert und kuschelte sie an ihn, ohne dabei die neuen Tränen in seinen Augen zu bemerken. Er konnte nicht genug davon bekommen sie zu fühlen und ihr über den Rücken zu streicheln. Es sollte nie enden.


Der weiße Pfau ließ den Brief fallen und beobachtete die Schneeflocken vor dem Fenster, die in der dunklen Nacht tanzten.

Der letzte KriegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt