21. Vertraut fremd

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„Wir können leider nichts mehr für ihn tun."
Mit einem tiefen Seufzer der Reue schloss das ältere Schaf seine Tasche, die neben Shengs Bett stand. Der junge Pfau atmete zwar noch, jedoch sehr, sehr schwer.
Po sah auf Shen und suchte nach einer Reaktion. Doch das Gesicht des Lords war völlig emotionslos. Ohne ein Zeichen von Gefühl schaute er auf das Bett, wo sein Sohn mit dem Tod rang. Der Panda schluckte einen Kommentar hinunter und rückte an die Wahrsagerin heran.
„Kannst du denn gar nichts tun?", fragte er hoffnungsvoll und presste die Handflächen aufeinander. „Du weißt doch sonst so viel."
Die Ziege senkte ihren Blick. Es schien ihr schwer zu fallen ihm eine Antwort zu geben. Po zuckte zusammen. Der weiße Pfau hatte sich bewegt. Sehr langsam trat er näher an das Kopfende des Bettes heran. Dann griff er nach dem blau-grünen Flügel. Es war kaum zu glauben, dass dasselbe Blut durch ihre Adern floss. Wie alt war er jetzt? 17 Jahre. 17 Jahre, wo er nie etwas von ihm gewusst hatte, nie seine Stimme gehört, niemals in seine Augen gesehen hatte.
Po hielt den Atem an. Shen bewegte seine Flügel um den Flügel des farbigen Pfaus. Der Panda konnte ihn zwar nur von der Seite sehen, aber er meinte, dass dem Lord eine zerbrochene Aura im Gesicht lag. Langsam führte Shen seine Fingerfedern um den Flügel. Er schloss die Augen. Und als er sie dann wieder öffnete, waren sie feucht.
„Ich wünsche wirklich zu sehen, wie du unser Baby in den Flügeln hältst", hallten ihm die geschriebenen Worte von ihr durch den Kopf.
Po kaute sich auf die Lippe. Er wollte etwas sagen, aber andererseits wollte er ihn nicht stören.
Schließlich startete das ältere Schaf einen Satz. „Sollten wir..."
Er brach ab. Der Lord hatte seinen weißen Flügel gehoben, beugte sich nach vorne und warf sich über den Körper des Jungen, so als versuchte er seine Lebensenergie auf ihn zu übertragen. Er flüsterte etwas, jedoch so leise, dass es niemand verstehen konnte. Es war kurz und flehend.
Was versuchte er zu sagen? So etwas wie Bedauern?
Po fühlte die Flügel seines Vaters auf seinem Arm. Mr. Ping sah ihn an, so als ob er sagen wollte, dass sie sie besser alleine lassen sollten.
Ein Aufseufzer der Wahrsagerin ließ den Panda aufhorchen. Verwundert sah er zu, wie sie auf die zwei Pfaue zuging. Nachdem sie das Bett erreicht hatte, legte sie ihren Huf auf den Rücken des Lords. Bei ihrer Berührung zitterte der weiße Pfau ein wenig, aber Shen schaffte es den Kopf zu heben und sie anzusehen und traf auf ihre traurigen Augen.
„Dein Vater hätte nie gewollt, dass du dasselbe durchmachen musst wie er es tat", begann sie mit langsamer warmer Stimme. „Er wollte nie, dass du am eigenen Leib zu spüren bekommst, wie es sich anfühlt ein Kind zu verlieren. Nicht wie es ist einen Sohn zu verlieren." Sie senkte den Blick. „Wenn er gekonnt hätte, hätte er es am liebsten ungeschehen gemacht. Aber wegen des Gesetzes waren ihm die Hände gebunden."
Sie streckte ihren Huf aus und wischte dem Lord eine Träne aus seinem Gesicht. Er hatte noch nicht zu Weinen angefangen, doch er war kurz davor. Sanft gab sie ihm ein Zeichen, dass er ihr etwas Platz machen sollte. Langsam erhob sich der Pfau und trat beiseite. Dann rückte sie näher ans Bett und beäugte den geschwächten jungen Pfau. Sie seufzte tief. Sie lehnte ihren Gehstock gegen das Bett und schloss die Augen. Dann hob sie ihre Hufe. Po und die anderen im Raum beobachteten sie mit Spannung. Dann bewegte sie die Arme in einer langsamen schwingenden Weise umher, ihre Augenlieder dabei angespannt. Sie schien sich sehr tief zu konzentrieren. Pos Augen weiteten sich. Plötzlich begannen die Handflächen der alten Ziege zu glühen. Schließlich, nach ein paar neuen kreisenden Schwingungen senkte sie die Hufe und führte sie nahe über den Brustkorb des Pfaus. Etwas schimmerte wie Wasser in der Luft und floss über den bewegungslosen Körper. Doch dann... der Brustkorb begann sich stärker zu heben und zu senken. Der junge Vogel amtete einmal scharf die Luft ein, so als wäre er unter Wasser gewesen, um die Luft wieder zurück in seine Lungen zu befördern. Doch kurz danach flachte seine Atmung langsam wieder ab und ging zu einem normalen Rhythmus über.
Fasziniert beobachte Po das Schauspiel mit offenem Mund. „Wow."
Doch plötzlich....
„Nein!"
Shen beugte sich nach vorne noch bevor die Ziege auf den Boden fallen konnte. Sie schwankte und kippte um. Po rannte rüber und half ihr hoch, aber die Frau hatte die Augen geschlossen.
„Was ist mit ihr passiert?", fragte Po besorgt.
Xinxin, die gerade den Raum betrat, lief auf sie zu und berührte den Arm der alten Frau.
„Sie atmet noch. Vielleicht war das zu viel für sie gewesen. Könnten wir sie irgendwo unterbringen, wo sie sich erholen kann?"
Das ältere Schaf trat näher heran. „Natürlich."
Mehr Schafe kamen hinzu und trugen sie raus. Wenigstens war die Wahrsagerin nicht vollständig bewusstlos, aber sie war immer noch zu schwach, um einen Laut von sich zu geben. Die anderen schauten ihnen nach.
Po war immer noch sehr verwirrt von alldem. „Was war das?"
Er sah seinen Vater an. Doch auch er wusste darauf keine Antwort.
„Wer... wie..."
Er drehte sich um. Ungläubig starrte er auf das Bett, in dem der junge Pfau saß und sich die Augen rieb.
„Mein junger Lord!", rief Xinxin und beugte sich mehrere Male zur Erde nieder. „Ich hatte schon befürchtet Eurer Familie eine traurige herzzerreißende Mitteilung überbringen zu müssen."
Überrascht sah Sheng sie an. „Du? Wo bin ich?"
„Erinnert Ihr Euch nicht, junger Prinz?"
Für einen Moment dachte der Junge nach. „Ich entsinne mich an einen Kampf... riesige Gestalten. Meine Schwester nahm mich mit, nachdem mich etwas hart am Kopf getroffen hatte... Aber dann... alles liegt so im... Dunkeln." Er rieb sich den Kopf. „Da waren Stimmen. Viele Stimmen. Aber die letzte Stimme war... so fremd."
Die Fuchsdame deutete zur Seite. „Das war er."
Als der junge Pfau sein Gesicht zur Seite drehte, erstarre er. Shen stand sehr nahe gegen die Wand, seine Flügel unter seiner Robe und beobachtete den Jungen, der ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Dem jungen Lord schien dasselbe durch den Kopf zu gehen. Ohne den Augenkontakt zu unterbrechen, schob er die Decke sachte beiseite. Als seine Füße nach festem Boden suchten, begannen seine Knie zu zittern. Xinxin war nahe daran ihn dabei zu helfen, doch Sheng schaffte es zu stehen. Seine dunkelblaue Pyjama-Robe glitt über den Boden, als er ein paar Schritte näher an den weißen Lord herantrat.
Shen wandte den Blick nicht von ihm ab. Die Augen des Jungen waren dunkelgrün mit einem leichten silbernen Schimmer. Er versuchte einen starken Geist zu zeigen, dennoch erweckte er den Eindruck wie verloren in einer fremden Welt zu stehen.
Schließlich hielt der Jüngere an, sodass sie nur noch eine Armlänge Abstand trennte. Er konnte nichts anderes als ihn nur anzustarren. Doch er schien etwas zu ahnen. Sie betrachteten sich gegenseitig für eine lange Weile. Niemand wagte ein Wort zu sagen, bis der junge Lord den Schnabel bewegte.
„Bist du...?"
Er beendete den Satz nicht sondern wartete auf eine Antwort.
Schließlich öffnete Shen ein wenig den Schnabel. „Ja, ich bin es."
Shengs Augen weiteten sich. Was dachte er gerade über ihn?
Po konnte nicht allzu viel von seinem Standpunkt aus erkennen, vermutete aber, dass der junge Lord mehr als verwirrt war.
Aber sein jetzt kennenden Vater sagte nichts weiter. Langsam streckte er seine Flügel aus und berührte die Schulter seines Sohnes. Sheng hinderte ihn nicht daran, aber es war sehr fremd für ihn. Sie waren miteinander verwandt und dennoch fühlten sie sich so fremd wie von zwei völlig verschiedenen Welten. Vorsichtig wollte der Jüngere ebenfalls den Flügel des älteren Lords berühren. Doch plötzlich zog Shen seinen Flügel zurück und drückte ihn gegen seinen Oberkörper.
Endlich hatte Sheng sich wieder soweit erholt, dass er erst jetzt die anderen bemerkte, die sie beobachteten.
„Aber... wie kann das... du..."
Die Gestalt des Pandas irritierte ihn noch mehr und wusste nicht, wo er ihn einsortieren sollte.
Po wusste nichts anderes zu tun und winkte ihm zu. „Hi."
„Wer ist... bist du?... Und wo ist meine Schwester?"
Po schlug sich die Tatzen über den Kopf. „Oh, oh! Das ist eine sehr lange Geschichte. Aber vielleicht sollten wir erst mal etwas essen."


Nun, jeder der "Kung Fu Panda 3" gesehen hat, weiß wohl was hier passiert ist. ;-) Ich bin mir nicht sicher, ob sie sowas könnte, aber vielleicht hätte sie irgendwann in ihrem Leben die Kunst von Chi gelernt.

Der letzte KriegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt