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Sie hatte mit der Email gerechnet und trotzdem traf es Elisabeth unvorbereitet. Seit sie denken konnte, war es eine der wichtigsten Traditionen im Hause Petersen, in der Weihnachtszeit Karten an alle Verwandten und Bekannte zu schreiben. Da ihre Eltern jedoch ihre Adresse nicht kannten, kamen die Adventsgrüße in digitaler Form.

Neben den üblichen Floskeln, die ihre Mutter seit Jahren in stets gleicher Form zu Papier brachte, beinhaltete diese Email jedoch auch eine Einladung zum Adventskaffee. Natürlich tat sie das, denn es war eine Tradition, dass der erste Advent mit der einzigen Tochter sowie den Großeltern zusammen gefeiert wurde. Traditionen waren wichtig. Traditionen hielten die zunehmend individualistische Gesellschaft zusammen.

Schnaubend schloss Elisabeth die Email und stützte ihren Kopf auf ihren Händen ab. Sie konnte förmlich die Worte ihrer Mutter hören, wie sie ohne Unterlass die Bedeutung von Traditionen proklamiert. Wenn sie es wenigstens ernst meinen würde. Soweit sie das beurteilen konnte, waren Traditionen ihrer Mutter genauso egal wie ihr selbst. Aber es gehörte sich, als eine Petersen wert darauf zu legen, also tat sie es. Es gehörte sich, die Schwiegereltern zum Adventskranz zu laden, also tat sie es.

Und es gehörte sich, dass die einzige Enkelin auch anwesend war.

Gegen ihren Willen schlich sich ein Schuldgefühl in ihre Gedanken. Wieder stöhnte Elisabeth tief auf, während sie die Email erneut aufrief. Ihr alter Laptop gab ein surrendes Geräusch von sich, als wäre der bloße Akt, das Mailprogramm aufzurufen, eine Überforderung. Die Sätze tippten sich beinahe von selbst, doch gerade, als sie ihren Namen unter den Absatz setzte, hielt sie inne. Sie hatte im gleichen formellen, freundlichen Tonfall wie ihre Mutter geschrieben. Obwohl sie inzwischen seit über zwei Jahren nicht mehr ei ihren Eltern lebte und diese selten besuchte, verfiel sie immer noch und ohne es zu bemerken in alte Muster.

Grimmig löschte sie den Text und schrieb stattdessen eine Zeile. »Ich werde da sein.«

Entschlossen drückte sie auf Senden und schob dann den Laptop von ihrem Schoß. Sie konnte es nicht gebrauchen, dass ihre Stimmung durch Gedanken an ihre Eltern getrübt wurde. Heute Abend wollte sie strahlen und Alexander beweisen, dass sie jeden Cent wert war, den sie verlangt hatte.

Während sie ihre Beine über die Bettkante schwang, wanderte ihr Blick zu dem schwarzen Jumpsuit, den sie sich schon raus gehangen hatte. Zwar hatte er tatsächlich Geld zu seinem Notiz an sie angefügt, doch sie war bei ihrem ursprünglichen Plan geblieben. Sie hatte diesen Jumpsuit nur einmal getragen, es war das letzte Stück, was ihre Eltern ihr gekauft hatten. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass sie mit abgeschlossenem Abitur nun bereit für erwachsenere Kleidung war und sich ebenso präsentieren sollte, wenn sie zum nächsten Geschäftsessen mit den Partnern des Vaters ging. Sie hatte sich den Jumpsuit selbst ausgesucht und liebte ihn immer noch - insbesondere weil er gemacht für ihre einzige Statur erschien, wo normalerweise nur Frauen mit Modelgröße wirklich in diese passten.

Grinsend zog sie ihr Handy hervor und machte ein Foto von den Schuhen, die sie sich für das Geld tatsächlich neu gekauft hatte. Sie waren zehn Zentimeter hoch mit dünner Sohle und noch dünneren Absatz. Nur dünne Schnüre aus Leder, das ebenfalls silberfarben war, würden ihre Füße halten. Sie hatte schon immer so ein Paar Schuhe besitzen wollen, doch für ihre konservativen Eltern kam das nie in Frage und für ihren Nebenjob waren sie ungeeignet, obwohl sie dort auch oft High Heels trug.

Sie öffnete den Chat mit ihren drei Freundinnen und postete das Bild ohne Kommentar hinein. Es dauerte nur wenige Sekunden, ehe die erste Antwort eintrudelte.

»Wen willst du denn heute verführen?«

Lachend setzte sie sich auf den Fußboden, um sich mit dem Rücken an ihr Bett zu lehnen. »Vielleicht wollte ich mir nur mal was gönnen?«

»Wenn ich mir was gönnen will, kauf ich Nagellack von Essie, keine Schuhe für 1000€. Raus mit der Sprache!« Juliane hatte offenbar nicht vor lockerzulassen.

Schmunzelnd tippte Elisabeth eine Antwort ein. Sie konnte und wollte ihnen nicht die Wahrheit sagen, aber sie wollte trotzdem diesen besonderen Abend mit ihnen teilen. »Ich bin aus Versehen in einer RomCom gelandet und werde heute von einem Millionär zum Essen ausgeführt.«

Während ihre Freundinnen darüber spekulierten, wie viel Wahrheit wohl in diesen Worten lag, wanderten Elisabeths Gedanken zu ihrer Chefin. Obwohl sie Alex vertrauen wollte, war sie auf Nummer sicher gegangen. Sie hatte Mutter Gina erzählt, dass Alexander sie für ein Geschäftsessen bezahlte und ihr die Adresse des Restaurants, in dem es stattfinden würde, genannt. Zwar hatte die ältere Frau sehr skeptisch geschaut, doch sie hatte geknickt und ihr versichert, dass sie sich am Montagmorgen bei ihr melden würde, um zu prüfen, ob sie noch am Leben war.

Mit einem Stöhnen erhob sie sich vom Boden und tappste ins winzige Bad. Es war Zeit zu duschen und sich fertig zu machen. Alexander würde sie in zwei Stunden vor dem Eingang des Blue Moons erwarten. Wenn er sie schon bezahlte, wollte sie zumindest alles in ihrer Macht stehende tun, um hübsch für ihn auszusehen. Außerdem war sie sich sicher, dass er sich ebenfalls in Schale werfen würde und so gut, wie er schon normalerweise aussah, musste sie sich anstrengen, nicht neben ihm zu verblassen. Sie wollte, dass ihm bei ihrem Anblick die Knie schwach wurden - mindestens so sehr, wie ihre Knie schwach wurden, wann immer er im Club war.

Gleichzeitig wusste sie aus Erfahrung, dass sie dann am meisten Selbstbewusstsein besaß, wenn sie mit ihrem eigenen Aussehen zufrieden war. Obwohl Alex ihr aufgeschrieben hatte, was sie am Abend erwarten würde, war sie doch aufgeregt. Sie kannte sich in der Welt der Schönen und Reichen aus, doch als Neue in der Runde würden alle Augen auf ihr liegen. Sie hoffte, dass sie nicht die einzige sein würde, die von dem konkreten Inhalt des Geschäftsessens keine Ahnung hatte.

Denn trotz der Notizen, die er ihr hinterlassen hatte, wusste sie noch immer nicht, was genau Alexander eigentlich machte. Und das nagende Gefühl der Unsicherheit wuchs jedes Mal, wenn ihr das wieder in den Sinn kam.

Entschlossen schob sie den Gedanken weg und trat unter die Dusche. Heute Abend würde sie es ja alles erfahren.



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