Traurige Erinnerungen

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,,Ich danke dir, Meister Hamfast", sagte Bilbo Beutlin und strich sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Es war das Taschentuch, in dem seine Initialen eingestickt waren. Das Taschentuch, welches er damals beim Aufbruch seiner Reise vergessen hatte. ,,Nichts zu danken, Herr Beutlin", grinste der junge Hobbit vor ihm. ,,Und dir natürlich auch, Bell", meinte Bilbo und bedachte das Hobbitmädchen an Hamfasts Seite mit einem kleinen Lächeln. Bell errötete leicht und strich sich verlegen durch die blonde Lockenpracht. Bilbo rückte die Aussteuertruhe seiner Mutter an ihren alten Platz zurück. Dann trat er ein paar Schritte zurück und begutachtete sein Werk skeptisch. ,,Etwas weiter nach rechts", murmelte Bilbo. ,,Ja, so hat sie damals gestanden."

Plötzlich überkam den Hobbit eine unendliche Traurigkeit. Er musste an den Tag denken, als Thorin und die anderen Zwerge ziemlich unerwartet zu ihm gekommen waren. Kili hatte seine Stiefel an dieser Aussteuertruhe vom Schmutz der Reise befreit. Dem Hobbit traten Tränen in die Augen. Er konnte es immer noch nicht glauben. Kili, sein Bruder Fili und Thorin waren tot. Er hatte es immer noch nicht ganz verkraftet. Bilbo musste jeden Tag an Thorins letzte Atemzüge denken. Er war damals bei ihm gewesen, aber er hatte nichts mehr für ihn tun können. Bilbo fühlte sich so unfassbar schuldig.

,,Was ist mit ihm, Hamfast?", fragte Bell ihren Freund mit besorgter Stimme und deutete auf den Beutlin, der nun mit Tränen in den Augen auf eine alte Aussteuertruhe blickte.

Hamfast legte ihr eine Hand auf die Schulter und flüsterte:,, Es geht ihm gut ... Er denkt nur an seine Zwergenfreunde."

Bell nickte belegt. Sie musterte den älteren Hobbit vor sich. Bald würde sein 53.Geburtstag sein. Bilbo hatte die gewöhnliche Größe eines Hobbits in seinem Alter. Sein Bauch war etwas gewölbt, da er wie alle Hobbits eine natürliche Zuneigung zu vielen Mahlzeiten hatte. Er trug Kniehosen aus grünem Samt, eine gelbe Weste mit goldenen Knöpfen und ein weißes Leinenhemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte. Sein Gesicht war rundlich und gutmütig, aber es wurde schon langsam faltig. Bilbo Beutlin sah müde aus und das lag nicht nur an den dunklen Schatten unter seinen Augen. Nein, er schien förmlich an einer inneren Müdigkeit zu leiden. Bilbos Augen waren dunkelbraun. Sein Haar war kurz geschnitten, kraus und braun. Wer weiß, wie lange Bilbo noch vor der Truhe gestanden hätte?

Aber er wurde schließlich unterbrochen, denn Holman Grünhand trat durch die offene runde Tür. ,,Hamfast", rief der Hobbit mit seiner lauten und kräftigen Stimme. ,,Ich hab' doch gesagt, dass ihr Herrn Beutlin nicht immer so auf die Pelle rücken sollt!"

Missbilligend musterte Holman seinen Neffen, der nun seit über drei Jahren bei ihm lernte. Bilbo wandte sich endlich von der Aussteuertruhe ab, rang sich ein Lächeln für seinen Gärtner ab und sagte:,, Schon gut, Herr Grünhand. Die beiden stören mich nicht. Ganz im Gegenteil, sie haben mir geholfen. Dies hier", er deutete kurz auf die Aussteuertruhe, ,,ist das letzte Möbelstück gewesen. Nun steht alles wieder an seinem Platz."

Als Bilbo damals ins Auenland zurückgekehrt war, hatten sich die Hobbits der Umgebung darauf geeinigt, dass er wohl tot war. So veranstalteten sie eine große Aktion und versteigerten alles, was sie in Beutelsend finden konnten. Die Hobbithöhle selbst war schon sorgfältig von den Sackheim-Beutlins ausgemessen worden, damit auch all ihre Möbel reinpassen. Zum Glück hatte Bilbo die Auktion gerade noch stoppen können, aber es hatte lange gedauert, bis er endlich wieder als lebendig gezählt hatte. Außerdem musste er sich seine eigenen Besitztümer wieder zurückkaufen. Seine Rückkehr ins Auenland war nun über ein Jahr her. Mittlerweile war Hochsommer des Jahres 1343 (*1 ) und endlich hatte Bilbo all seine Sachen zurück.

Der Hobbit sah sich in seinem Smial um. Sein Vater, Bungo Beutlin, hatte es vor vielen Jahren für sich und seine Frau Belladonna Tuk bauen lassen, größtenteils mit Belladonnas Geld. Beutelsend war wohl das schönste Smial in Hobbingen. Es war groß, gemütlich, (mittlerweile wieder) schön eingerichtet und besaß einen wunderschönen Garten, den Holman und Hamfast so liebevoll pflegten. ,,Wie schön", meinte Holman und zeigte ein ehrliches Lächeln mit gelblichen Zähnen und viel Zahnfleisch. Holman Grünhand war stämmig, sein Haar war mittlerweile ergraut, seine Augen waren von einem trüben blau. Im Gesicht und an den Händen hatte er stets Erde.

Bilbo war Holman, Hamfast und Bell sehr dankbar, schließlich hatten sie ihm geholfen, sein Hab und Gut wieder zurückzubekommen. Irgendwann verabschiedeten sich die drei, da sie bei Hamfasts Eltern zum Essen eingeladen waren. Sie hatten ihn auch gebeten, mitzukommen. Aber Bilbo hatte abgelehnt. Er wollte jetzt erstmal alleine sein. Bilbo kochte sich ein leckeres Mittagessen, schrieb ein wenig an seinem roten Buch weiter, rauchte seine Pfeife und versuchte sich irgendwie abzulenken.

Am Nachmittag, als sich die Mittagshitze langsam gelegt hatte, lief der Hobbit zum Markt, um einige Besorgungen zu machen. Gerade stand Bilbo an einem Stand, wo Fisch verkauft wurde. Geduldig wartete er darauf, dass er an die Reihe kam. Plötzlich bemerkte er, wie sich ein kleines Hobbitkind und seine Mutter hinter ihm einreihten. Bilbo wandte sich kurz um und lächelte den beiden leicht zu. Die Mutter erwiderte das Lächeln nicht, sondern runzelte nur die Stirn. Bilbo seufzte leise und drehte sich wieder um. Die Schlange vor ihm wurde langsam kleiner und er ging im Kopf gerade noch einmal seine Bestellung durch, als plötzlich jemand aufgeregt an seinem Mantel herumzupfte.

Wieder drehte Bilbo sich um und blickte den kleinen Hobbitjungen verwundert an. Er hatte große grüne Augen, wilde rotblonde Locken, ein rosiges Gesicht und viele Sommersprossen. Seine Kleidung war einfach, aber sauber. ,,Ja?", fragte Bilbo freundlich.

,,Sie sind doch Herr Beuteler, richtig?", fragte der Junge aufgeregt. Seine Augen leuchteten dabei. ,,Der Hobbit, der auf dieses große Abenteuer gegangen ist?"

Einige Augenblicke herrschte beklemmende Stille. Dann fing die Hobbitfrau an zu zetern, was fast noch schlimmer als die Stille war.
,,Ponto!", schimpfte sie ungehalten. ,,Habe ich dir nicht gesagt, dass du mit ihm nicht sprechen sollst?! Er ist einfach auf ein Abenteuer gegangen! Lass dir bloß nicht solche Flußen in den Kopf setzten! Er ist eine Schande für die gemütlichen und anständigen Beutlins!"

,,Aber, Mutter!", protestierte Ponto, schob schmollend die Unterlippe vor und verschränkte die Arme vor der schmalen Brust. ,,Ich wollte doch nur etwas über seine Reise wissen!"

Wieder fing Pontos Mutter an zu schimpfen. Aber Bilbo bekam es gar nicht mehr mit, denn er war schon aus der Schlange getreten und ohne seinen Fisch davongeeilt. Er musste sich zusammenreißen, damit ihm keine Tränen in die Augen traten. Seit seiner Rückkehr hatte Bilbo wirklich einen schlechten Ruf im Auenland, aber das war ihm herzlich egal. Doch Ponto hatte ihn Herrn Beuteler genannt, so wie Kili damals. Bilbo hatte schon fast den Marktplatz verlassen, als eine penetrante Stimme nach ihm rief.
,,Bilbo! Bilbo Beutlin! Wir müssen reden!", keifte Lobelia Sackheim-Beutlin.

Der Hobbit stöhnte genervt auf. Nicht die auch noch! Ohne zu zögern griff er in seine Westentasche und holte den goldenen Ring hervor, den er damals bei seiner Reise gefunden hatte. Bilbo betrachtete den Ring kurz. Er war schlicht gehalten, etwas dicker und golden. Dann huschte Bilbo in den schützenden Schatten einer Hütte, streifte den Ring über und lief unsichtbar nach Beutelsend zurück.

(*1) nach Auenlandzeitrechnung. Abgesehen vom Hobbitkalendar ist es das Jahr 2943 im dritten Zeitalter

Der Schatten des Ringes| BagginshieldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt