> 𝗞𝗮𝗽𝗶𝘁𝗲𝗹 𝟭𝟭

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Ich fühle mich, als säße ich in einem Verhör. An Bri geht wirklich eine gute Polizistin verloren, wenn das nicht ihr zukünftiger Job ist. Das Erste, was sie mich fragt, als wir uns am Morgen begegnet sind, war, was gestern los war. Und ich dachte schon, Fiona wäre die neugierigste Person, die ich kenne.

Nachdem ich sie bis zur Mittagspause mit meiner Antwort hinhalten konnte, gebe ich schließlich nach und erkläre ihr die ganze Situation.

„Oh, okay. Ich dachte schon, es wäre etwas Schlimmes passiert. Du weißt ja, aus Conor bekommt man nichts raus."

„Nein, es ist alles okay und wir konnten alles klären."

Genau wie in den letzten Tagen, sitzen Bri und ich heute wieder ohne Maeve und Mackenzie in der Mensa. Keine Ahnung, wo die beiden stecken, aber Bri scheint das mittlerweile auch nicht mehr zu stören. Oder ist sehr gut darin, es zu überspielen.

Ein vielsagendes Lächeln breitet sich auf Bris Lippen aus. „Oh, das glaube ich dir. Diese ganze Sache hat dir sogar seine Nummer eingebracht. Wenn das mal kein Erfolg ist, dann weiß ich auch nicht."

Ich kann ein Augenrollen nicht unterdrücken. „Brianna..."

„Das doch bloß ein Witz, Avery. Aber glaub mir, dass du dich so gut um seinen Bruder gekümmert hast, bedeutet ihm sehr viel. Ashton ist ihm wirklich sehr wichtig."

Ja, das habe ich bemerkt. Aber ich bezweifle, dass es so viel ändert, wie Bri vielleicht vermutet. Nur weil ich seinen Bruder nicht im Regen habe stehen lasse, bedeute das noch lange nicht, dass Blake mich gleich heiraten will. Ich bin schließlich noch immer und er ist er. Vielleicht liegt's an mir, aber irgendwie schaffe ich es immer wieder, Freundinnen zu finden, die einen Hang zur Dramatik und Romantik haben und das zweite davon überall suchen, selbst, wenn davon gar nichts in Sicht ist.

*

Nach Schulschluss fängt Blake mich vor meinem Schließfach ab, als ich gerade meine Bücher austauschen will. „Hey", begrüßt er mich mit einem neutralen Gesichtsausdruck. Weder lächelt er mich an, noch hat er ein arrogantes Grinsen auf den Lippen.

„Hi." Unwillkürlich muss ich an das letzte Mal denken, als wir uns vor den Schließfächern gegenüberstanden. Eine Schwere breitet sich in meinem Magen aus. Ich schlucke.

„Ich wollte kurz mit dir reden." Oh Gott. Er erinnert sich. Ich versuche mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen. „Okay. Was gibt's?" Perfekt. Eine Antwort, ohne ein Stottern. Das ist doch schon mal was.

„Das gestern mit Ash... es wäre gut, wenn du das für dich behalten würdest." Er klingt ernst. Sehr ernst sogar.

„Oh. Okay." Das ist alles. Mehr sage ich dazu nicht.

Misstrauisch betrachtet er mich. „Ich habe keinen Grund, irgendwem irgendwas zu erzählen. Das geht niemanden etwas an", setze ich hinterher. Ob er mir wirklich zutraut, der ganzen Welt irgendwelche Informationen über ihn preiszugeben? Nein, so bin ich nicht. Ganz egal, wie sehr er mich damals bloßgestellt hat, ich habe damit und mit ihm abgeschlossen und nicht vor, Rache auszüüben. Sowas passt nicht zu mir.

Sein Gesicht entspannt sich und ein erleichtertes Lächeln zeichnet auch auf seinen Lippen ab. „Danke."

Als Antwort erwidere ich sein Lächeln leicht und schließe die Tür meines Schließfaches. Ich schiebe mich an ihm vorbei in Richtung Ausgang, doch er kommt mir hinterher, bis wir beide wieder gleichauf sind. Blake blickt kurz über seine Schulter und dann wieder zu mir. „Übrigends sagte Ash gestern, dass du ihm die Matheaufgaben sehr gut erklärt hättest. Ich glaube, wenn er das nächste Mal nicht weiterkommt, klingelt er an deiner Tür, bevor er damit zu mir kommt." Seine braunen Augen beginnen zu leuchten. Ich glaube, das ist das erste ehrliche Lächeln von ihm, das ich je gesehen habe. Und leider lässt es mich auch nicht ganz kalt, sodass ich meinen Blick abwende.

„Ach, das ist doch nur 3. Klasse-Stoff. So schwer ist das ja noch nicht", antworte ich.

„Mag sein, aber er ist nicht gerade ein Mathegenie."

„Aber du bist eins, oder was?" Erst, nachdem ich die Worte ausgesprochen habe, bemerke ich, wie angriffslustig das klang. Ehrlich, ich sollte endlich mal lernen, zuerst gründlich nachzudenken, bevor ich irgendwelche Wörter aus meinem Mund lasse.

Doch Blake lacht nur. Ein angenehmes Lachen, das mir ohne, dass ich es will, Gänsehaut beschert. „So ähnlich. Man sieht es mir zwar nicht an, aber ich bin nicht so schlecht in der Schule, wie man es von Footballspielern erwartet. Das ist nur ein blödes Filmklischee."
Beschämt wende ich mich von ihm ab. Natürlich ist er nicht dumm. So habe ich ihn auch nie eingeschätzt.

„Mathe ist eigentlich sogar eins meiner Lieblingsfächer, aber im Erklären bin ich nur halb so gut wie im Rechnen. Deswegen bin ich Ash meistens keine allzu große Hilfe."

Skeptisch hebe ich eine Augenbraue und sehe ihm wieder in die Augen. Als ob Quaterback Blake Parkers Lieblingsfach Mathe ist.

„Das ist mein voller Ernst." Wir treten durch die Tür nach draußen. Blake bleibt stehen und ich tue es ihm gleich. „Ich mag die Konstanz der Zahlen. Sie sind immer klar und spielen eine überaus wichtige Rolle im Leben." In seinen Augen blitzt etwas aus, das ich nicht zuordnen kann und ich vermute, dass hinter seinen Worten mehr dahintersteckt, doch ich hake nicht nach.

„Das ergibt Sinn. Ich bevorzuge Wörter. Wörter können mehrere Bedeutungen haben und uns berühren, wie es nicht anderes kann", antworte ich. Keine Ahnung, warum ich das gerade gesagt habe.

„Was ist?", frage ich. Blakes durchdringender Blick verunsichert mich.

„Also ist Englisch dein Lieblingsfach?"

„Ist das so offensichtlich?" Ich streiche mir eine Strähne hinters Ohr.

„Ein bisschen vielleicht", erwidert er lächelnd.
Plötzlich werden wir unterbrochen. „Parker! Wird's blad? Wir warten auf dich!", brüllt eine autoritäre Stimme. Erschrocken drehen wir uns um.

„Bin schon auf dem Weg, Coach", ruft Blake zurück und wendet sich wieder mir zu. „Ich muss dann los. Wir sehen uns." Und schon rennt er zum Footballfeld.

Verblüfft schaue ich ihm hinterher, bis mir einfällt, dass ich meinen Bus erwischen muss und renne ebenfalls los, jedoch in die entgegengesetzte Richtung.

*

Widerwillig schweifen meine Gedanken immer wieder zu Blake. In der Schule ist er dieser Typ, den alle bewundern und ein perfektes Leben zu haben scheint, aber wenn er über seinen Bruder redet, ist er wie ausgewechselt. Und dass Mathe sein Lieblingsfach ist, kommt mir irgendwie paradox vor. Bei ihm hätte ich eher Sport vermutet. Bin ich wirklich so durchschaubar, dass man mir ansehen kann, welches mein Lieblingsfach ist? Ich schüttle den Kopf. Warum mache ich mir überhaupt Gedanken darüber? Fio und Bri mögen das Fach auch. Vielleicht ist das nur die Erfüllung eines typischen Klischees. Aber es ist doch meistens so, dass Schüler die Hauptfächer bevorzugen. Ich denke wieder mal viel zu viel nach.

Wie auch immer. Ich verbiete mir jeden weiteren Gedanken an Blake und beende meine Hausaufgaben. Nachdem ich den letzten Satz meiner Übersetzung für Französisch geschrieben habe, packe ich alles zusammen.
Mein Blick streift das Keyboard, das in der Ecke meines Zimmers steht, als ich meine Tasche abstelle. Sofort verspüre ich ein Kribbeln in meinen Fingern und stehe auf. Ich setze mich auf den Hocker und schüttle meine Hände aus, bevor ich meine Finger auf die kühlen, aber vertrauten, Tasten lege. Es fühlt sich an, als wäre ich wieder nach Hause gekommen, obwohl ich nie weg war. Ein Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus und ich beginne zu spielen. Wenn ich spiele, vergesse ich alles um mich herum und denke an nicht mehr, außer daran, wie meine Finger die Tasten an der richtigen Stelle des Stücks, das ich spiele, runterdrücken.

Ich bin so sehr darin vertieft, dass ich gar nicht bemerke, dass Mom auf einmal in meinem Zimmer steht. Abrupt höre ich auf und stehe so schnell auf, als hätte sie mich bei etwas Verbotenem erwischt. Doch sie lächelt mich an. „Es ist schön, dich endlich wieder spielen zu hören. Ist schon eine Weile her", sagte sie mit einem Funken Sehnsucht in ihrer Stimme. Mom hat recht. Das letzte Mal habe ich Wochen vor unserem Umzug gespielt. Ich war viel zu aufgeregt und zu beschäftigt mit all den Veränderungen, dass ich gar nicht dazu gekommen bin.

„Ja, es wurde mal wieder Zeit", antwortete ich mit einem Lächeln.

(𝗡𝗼𝘁) 𝗬𝗼𝘂 𝗔𝗴𝗮𝗶𝗻Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt