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Laut hämmert Linea an die Tür. Immer und immer wieder.
Die dunklen Fenster werden plötzlich erleuchtet. Ein Stöhnen und Rumpeln ertönt.
Linea hämmert noch stärker.

"Ja! Herrgott! Ich komme ja schon!"

Gerade als sie mit ihrer Faust erneut auf das alte Holz der Tür schlagen will, wird diese aufgerissen und ein älterer Mann steht ihr in Unterhose und Hemd gegenüber. Seine grauen Haare sind verwuschelt, sein Mund halb geöffnet. Hektisch atmend sieht er sie aus kleinen Augen an.
"Was zum Henker?", fragt er fassungslos, "Es ist mitten in der Nacht! Wer seid Ihr und wie kommt Ihr überhaupt hier rein?!"

Er tritt aus der Tür, schiebt sich an ihr vorbei und blickt zu dem geschlossenen Tor.
Wieder zu ihr umdrehend, sieht er sie wissend an. Die Fassungslosigkeit ist komplett aus seinem Gesicht verschwunden. Nun wirkt er viel wacher.
"Ihr seid über die Mauer geklettert", stellt er fest. Misstrauen liegt in seiner Stimme.
Langsam zieht er sich ins Innere des Hauses zurück und greift an die rechte Seite der Tür.

Linea muss nicht sehen, wonach er da greift, um es zu wissen.
"Ich frage noch einmal, wer seid Ihr?", fragt er ungehalten und richtet im nächsten Moment ein Gewehr auf sie.
"Ich habe eine Frage an Euch", sagt Linea, dieses Mal ohne ihre Stimme zu verstellen.

Harbaet Miene verrutscht. Überrascht die helle Stimme einer Frau zu hören, zittert kurz die Waffe in seinen Händen, doch er scheint sich zu besinnen, dass das Geschlecht eines Einbrechers nichts an der Handlung ändert.

"Welche Frage?", bringt er zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus.
Sein erster Gedanke war, dass die Frau vielleicht Hilfe braucht, doch so wie sie vor ihm steht ist er sich sicher, dass dem nicht so ist.
Er hält sein Gewehr auf sie, sie ist nur eine Kugel vom Nimmermehr entfernt und dennoch ist sie ganz ruhig. Zu ruhig. Angsteinflößend ruhig.
Als hätte sie keine Angst, er aber, er bekommt Angst vor dieser merkwürdigen Gestalt, die mitten in der Nacht vor seiner Tür steht und ihr Aussehen unter einem schwarzen Mantel verbirgt.
Wie der Tod.

"Die Frage ist", beginnt Linea langsam, sich bewusst welche Wirkung sie bei dem alten Harbaet erzielt, "Wo Eure Pferde sind?"
Er glaubt sich verhört zu haben.
"Me-eine Pf-pf-pferde?", stottert er. Er hatte mit allem gerechnet, doch nicht damit.
"Richtig, wo sind Eure Pferde? Man sagte mir, Ihr hättet welche."
"Wollt Ihr sie stehlen oder was?!", ruft er.
Linea schüttelt den Kopf, "Aber nein, nicht stehlen. Ich brauche nur eines und dafür zahle ich . Also wo sind sie?"
"Ich sage es Euch, wenn ihr mir sagt, wer Ihr seid", sagt Harbaet und nimmt die Waffe ein Stück runter.

Je mehr er mit ihr redet, desto weniger hat er das Gefühl, dass sie eine wirklich Gefahr für ihn ist. Hätte sie ihn angreifen wollen, hätte sie es seit dem Öffnen der Tür tun können. Doch sie tut es nicht, stattdessen redet sie nur mit ihm.
Sie ist eine merkwürdige Frau. Vielleicht eine Ehefrau, die vor ihrem Mann flieht und nicht erkannt werden möchte. Wundern wird's ihn nicht. Hier leben schon einige Säufer, die des nachts ihre Frauen hinter verschlossenen Türen verprügeln. Manchmal hört er es, wenn er durch die Gassen von Astria wankt, nachdem er sich einen guten Trunk gegönnt hat.
Dennoch, ein wenig Vorsicht war nach wie vor geboten.

"Wenn Ihr das wissen wollt, seid Euch gewiss, das Ihr ein Leben wie ich führen müsst", haucht sie und unterbricht damit seine Gedankengänge.
"Ein Leben wie Ihr? Was sagt Ihr da?"
"Gesucht und gejagt", flüstert Linea.
Harbaet hebt die Waffe wieder, richtet sie auf die Kapuze.
"Also seid Ihr eine Kriminelle?", fragt er schroff, während sich in seinem Hinterkopf eine kleine Stimme meldet, die ihn an die Idee der entlaufenen Ehefrau erinnert.
Linea schüttelt den Kopf, "Nein, auch wenn man mich gerne zu einer machen möchte, bin ich einfach nur ich. Das reicht bereits."

Eine tiefe Trauer schwingt in ihrer Stimme mit und auch wenn er es nicht will, sie erweicht sein Herz.
Diese Fähigkeit der Frau, er hat es noch nie geschafft ihr stand zu halten. Seine verstorbene Frau hat es auch gekonnt. Wenn sie ihn aus geröteten Augen ansah, dann floss seine Wut einfach so davon und am Ende bat er sie um Verzeihung.

"Die Pferde stehen auf der Koppel hinterm Haus und nun sagt mir, wer Ihr seid."
Linea greift mit beiden Händen an den Rand ihrer Kapuze.
Bevor sie sie abnimmt, sagt sie: "Und so habt Ihr euer eigenes Urteil unterzeichnet."
Die Kapuze fällt und sie sieht ihn geradewegs an.
"Ein Tausch ist ein Tausch", fügt sie leise hinzu.

Harbaet kann nicht glauben, wer da vor ihm steht. Noch nie hat er eine gesehen. Sein Vater erzählte von ihnen und von einer Jagd, die seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar noch länger, andauert.
Nun weiß er, was sie gemeint hat, als sie sagte, dass er auch gesucht und gejagt werden würde.
Doch es war viel schlimmer, sie würden ihn foltern, seine Erinnerungen rauben und ihn als leblose Hülle zurücklassen. Alles nur wegen einer wie ihr, einer Dove.

Außer... Außer er würde... Ja, er würde. Sein Körper würde nicht in einem Kerker verschimmeln. Nicht, weil er geglaubt hat einer armen, in Not geratenen Ehefrau zu helfen.
"Komm doch rein", bittet er sie plötzlich freundlich und nimmt die Waffe runter. Sie würde ihm nichts tun. Immerhin ist sie eine Dove. Das verbietet ihre Erziehung.

Statt herein zu gehen, streckt Linea ihm ihre Faust hin.
Überrascht sieht er diese an. Sein Blick schweift zu den ozeanblauen Augen empor. Freundlich blicken sie ihm entgegen.
"Meine Bezahlung fürs Pferd", erklärt sie mit sanfter Stimme, ein feines Lächeln auf ihren Zügen.

Harbaet nickt und hält seine offene Hand unter ihre Faust, während in ihm der Gedanke aufkommt, wie naiv diese Dove ist. Sie müsste doch wissen, das ihresgleichen gejagt wird. Doch sie sieht ihn einfach unbekümmert an, als gäbe es nichts auf dieser Welt, was ihr schaden könnte. Noch immer schwebt seine offene Hand unter der ihren. Wartend, dass seine Bezahlung hineinfällt. Gerade, als er den Mund öffnet, um nachzufragen, öffnet sich plötzlich ihre Faust.
Anders als erwartet fallen keine Taler in seine Hände.

Blitzschnell greift Linea nach der ausgestreckten Hand des überraschten Mannes, zieht ihn mit einem Ruck zu sich.
Er stolpert ihr erschrocken entgegen und als sein Körper ihren berührt, flüstert sie voller Hohn: "Haltet Ihr mich tatsächlich für so dumm, gieriger Mensch?"

Mit der anderen Hand greift Linea in ihre Tasche, zieht sie hinaus und pustet dem Mann lilanen Staub ins Gesicht.
Sie lässt ihn los und er fällt ungebremst zurück, während er sich hustend versucht den Staub aus dem Gesicht zu reiben. Immer wieder ertönen zwischen dem Husten stöhnende Geräusche.

"Gebt Euch keine Mühe. Ihr werdet gleich tief und fest schlafen und wenn Ihr wieder erwacht, findet Ihr auf Eurer Türschwelle einen Silbertaler. Die Bezahlung für das Pferd."
Linea steigt über ihn hinweg und kniet sich neben ihn.
"Alles was dann folgt ist die Bezahlung dafür, dass du und deinesgleichen uns verraten habt. Erlebe das, was wir schon solange erleben und lauf soweit dich deine alten Beine tragen."

Harbaet sieht sie aus weit aufgerissen Augen an. Genau wissend, was sie meint.
Jeder, der eine Dove ziehen lässt, bezahlt dafür.
Er versucht aufzustehen, doch was immer sie ihm ins Gesicht gepustet hat, es hindert ihn. Er spürt wie seine Glieder schwer werden und wie sein Bewusstsein in eine warme Dunkelheit gleitet. Er will nicht, doch wehren kann er sich auch nicht und so fällt sein Kopf zurück. Ein lautes Schnarchen ertönt aus seiner Kehle.

Linea erhebt sich. Betrachtet den Mann voller Abscheu.

"Gute Nacht, alter Harbaet."

The Crows Where stories live. Discover now