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Vorsichtig schleicht Linea den selbst ernannten Rettern hinterher, während in ihr allmählich der Gedanke aufkommt, dass so niemand von ihnen gerettet werden kann.
Elend langsam bewegen sie sich vorwärts, während sie sich gegenseitig zur Vorsicht anhalten.
"Passt auf, wohin ihr tretet."
"Langsam."
"Ich schaffe das. Einfach einen Fuß vor den anderen."
Ihre Angst bremst sie, hindert sie am Vorankommen.

Im Schutz der riesigen grünen Blätter umrundet Linea sie. Schnell bewegt sie sich vor, ohne auch nur einen Ton dabei von sich zu geben.
Ihr verursachen die Pflanzen keinen Schmerz. Fast so, als spüre die Insel, dass sie ihr nicht schaden möchte.

Sie lässt die orientierungslosen Männer hinter sich, die nicht wissen wohin sie zuerst gehen oder wo sie anfangen zu suchen sollen und nebenbei bemerkt, auch noch jedem potentiellen Feind ihre Position verraten.
Ein Trauerspiel.
Der arme Kapitän, er hat eine super Crew. Eine, die genau weiß was zu welcher Zeit notwendig ist.
Linea schmunzelt.
In geduckter Haltung läuft sie vorwärts, darauf bedacht, dass die Pflanzen sie vollständig verbergen.

Nach einiger Zeit lichten sich diese und Linea betritt ein Areal, auf dem vermehrt meterhohe Bäumen wachsen. Ihre Stämme sind so dick, dass sie sie nicht mal dann umarmen könnte, wenn sie noch jemand anderen an die Hand nehmen würde.
Sie legt den Kopf den Nacken und bestaunt die unzähligen Jahrhunderte, in denen die Bäume zu so einer Größe heranwachsen konnten.
Die Menschen sagen immer, Zeit sei nicht sichtbar. Sie fließe an einem vorbei, ohne dass man sie sehen oder gar berühren konnte.
Doch sie irrten. Zeit ist überall sichtbar, überall berührbar.
Sowie Linea nun diese Bäume betrachtet und ihre Hand an einen kühlen Stamm legt.
Sie lässt ihren Blick an der dunklen Rinde hinabwandern und stockt. Dort liegt ein meterlanges Seil, an einem der Enden eine Schlinge.

In ihrem Kopf formt sich ein Bild.
Sie blickt sich um. Sucht nach irgendetwas, was ihren Gedanken weiter formt. Den Blick nach unten gerichtet, dreht sie sich einmal um sich selbst. Läuft ein paar Schritte in eine Richtung, dann in eine andere. Mustert jeden Grashalm, jeden Erdkrumen und jedes Blatt bis sie in einiger Entfernung einen silbernen Glanz wahrnimmt.
Sie geht näher heran und sieht die Klinge eines Handbeils ihr entgegen schimmern.
Vorsichtig hebt sie sie auf, betrachtet sie eingehend und ein Bild schießt ihr in den Kopf.

Ein Mann, der immer zuerst in der Kombüse aufgetaucht ist und sich ein jedes Mal mit einer Verbeugung für seine Mahlzeit bedankt hat. Linea kneift die Augen zusammen. Hält dieses Bild gedanklich fest und betrachtet es Stück für Stück, bis ihr geistiges Auge am Gürtel des Mannes hängen bleibt. Da ist es, das Handbeil.

Sie öffnet die Augen und sieht sich um, überprüft, ob sie noch immer allein ist und umfasst im nächsten Moment den Griff mit beiden Händen. Nun schließt sie erneut ihre Augen und konzentriert sich. Dieses Mal auf kein Bild, sondern auf etwas, was viel tiefer in ihr wohnt.
Lange hatte sie ihre Kräfte nicht mehr genutzt, es war fast ungewohnt, obwohl es eigentlich das gewöhnlichste der Welt ist.
Langsam erobert sie mit ihrer Magie jeden Millimeter des Griffs. Ihre Augen beginnen in der Dunkelheit ihrer Kapuze weiß zu leuchten.
Sie lässt die Axt fallen, denn sie hatte, das was sie brauchte.
Eine Verbindung.

Sie schließt erneut die Augen und sieht im Dunklen den weißen Staub, der sie an ihr Ziel führen wird.
Der Dschungel ist nun nur noch durch einen dunklen Schleier für sie sichtbar. Sie sieht keine Farben mehr, sondern lediglich gräuliche Konturen und den weißen Staub, der sich durch die Schwärze schlängelt.
Sie folgt ihm und das eine ganze Zeit lang, bis sich etwas Riesiges vor ihr erhebt.

Sie bleibt stehen, öffnet die Augen und sieht sich einem riesigen Berg aus rohem Gestein gegenüber stehen. Vermutlich das Gebirge um den Vulkan herum, den sie aus der Ferne vom Schiff sahen.
Die Augen wieder schließend, folgt sie dem Staub. Läuft praktisch um den Berg herum. Nur am Rande nimmt sie wahr, dass die Pflanzenpracht immer dichter wird. Sie spürt die Blätter wie Hände nach ihr greifen und ihre Wangen berühren, während andere an ihrer Kapuze ziehen, ganz so als wollten sie, dass sie sie abnimmt.
Die Spur endet abrupt. Löst sich einfach auf, sodass Linea sich sicher ist, dass sie an ihrem Ziel angekommen ist, wo auch immer dieses sein mag.

The Crows Where stories live. Discover now