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Ein Eissturm fegt über Linea hinweg. Zumindest fühlt es sich so an, je länger der Blick des Mädchens auf ihr ruht.

"Das ist sie?", fragt sie in die Runde und wirkt plötzlich kindlich aufgeregt.
Alles Schein, das weiß Linea.
Kieran tritt hervor und nickt ergeben. Er sieht sie nicht direkt an eher an ihr vorbei.
"Das bist du", sagt Firora nun nachdenklich und dreht sich Linea wieder zu.

"Und du? Was bist du?"
Die Worte entkommen ihrer Kehle ehe sie es verhindern kann.
"Was siehst du denn?" Heiter spricht die Stimme des Mädchens.
"Ich sehe ein Kind von schmaler Figur, blasser Haut und grauen Haaren. Du bist keine Dove, aber auch kein Mensch, das spüre ich."

Aorian's Mundwinkel ziehen sich in die Höhe. Linea sieht aus dem Augenwinkel wie sich ein breites Grinsen in sein Gesicht schleicht, das er versucht durch seinen Unterarm zu verbergen.

"Vertraust du deinen Gefühlen?", fragt das Mädchen und überrumpelt Linea völlig mit ihrer Frage. Sie öffnet den Mund, will antworten, doch Kieran ist schneller.
"Ich habe sie noch nicht über dich unterrichtet, Firora. Es gab keine Zeit."

Das ist Firora? Die Anführerin? Ein Mädchen?

Lineas Augen werden groß und ihr bleibt förmlich die Spucke weg.
Gut so, denn Firora dreht sich nun schlagartig zu Kieran um, der so wirkt, als würde er unter ihrem Blick immer kleiner werden.
"Belehre mich nicht über Zeit. Zeit ist das Einzige, was wir besitzen, solange wir leben."

Weise Worte

Die so unwirklich aus dem Munde eines Kindes klingen. Doch genau wie Linea trägt dieses Kind eine Maske. Aorian hat es ihr gesagt, dass Firora sehr alt ist und so wie sie sich verhält, kann Linea nur erahnen wie lange sie schon über die Erde wandelt und was ihre Augen alles gesehen haben müssen.

Bei den Doves ist das anders. Keine Dove, die alt ist, sieht aus wie ein Kind. Ihr Körper, das Gefäß ihrer Magie, reift heran sowie es der menschliche Körper tut.
Erst mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter verlangsamt sich der Alterungsprozess. Bei einigen geschieht das eher, bei anderen früher.
Ihre Großmutter hat ihr erklärt, dass es mit der geistigen Reife zusammenhängt. Wie genau hat Linea nicht mehr erfragen können.

"Also?" Firora dreht sich wieder zu Linea und Kieran sieht fast erleichtert aus, dass sie ihren Blick von ihm abgewendet hat.
Er atmet laut aus, als habe er die ganze Zeit die Luft angehalten.
"Tust du es?"

Linea nickt langsam. Es ist eine gute Frage.

Vertraue ich meinem Gefühl?

Bisher hat sie es soweit von sich geschoben, wie sie es nur konnte. Dass sie dennoch bejaht, fühlt sich irgendwie falsch an und irgendwie auch richtig. Seitdem Kieran ihre Mauer förmlich zum Explodieren gebracht hat, hat sie das Gefühl Gegebennheiten besser einordnen zu können. Da ist nicht mehr das verletzte Mädchen, das sich von allem und jedem verraten gefühlt hat und deswegen allem und jedem mit Misstrauen entgegen getreten ist.

"Dann täuscht dich dein Gefühl auch nicht. Ich kann dich auch spüren sowie alle Doves einander spüren können. Du tust es, nicht?"
Wieder überrumpelt von der Frage, blickt Linea auf. Firora scheint es nicht wichtig zu sein, dass ihnen unzählige Ohren zuhören. Sie hingegen findet es allmählich fast ein wenig unangenehm.
Dennoch antwortet sie ehrlich: "Ich spüre etwas wie bei Kieran, doch es ist weniger, irgendwie... flacher."

Firora grinst und nickt.
"Linea, so ist doch dein Name?"
"Ja-ha." Zögerlich antwortet sie, fast fragend.
"Schöner Name", flüstert Aorian anerkennend. Ihm scheint die Spannung im Raum nichts auszumachen. Lässig steht er da und beobachtet die Szenerie.
"Linea, wenn du wissen möchtest, was, ich bin, musst du mich einfach nur ansehen."
Überrascht von der Aussage, sieht Linea sie an, aber nicht, um der Aufforderung zu folgen, sondern um herauszufinden, ob Firora ihre Worte wirklich ernst meint.

Scheinbar tut sie es. Sie steht aufrecht da, in ihrem Gesicht keine Erheiterung oder aber der Hauch eines Grinsens. Ernst ist ihr Blick, leuchtet ihr förmlich entgegen.
Nachdem auch nach längerer Zeit Linea nichts sagt, seufzt Firora laut und legt sich theatralisch die Hand an die Stirn, als würde ihr schwindelig werden.
"Linea, was für eine Farbe trägst du gerade?"
Linea neigt das Kinn, betrachtet die schwarzen Spitzen ihrer Haare und blickt wieder auf.

"Genau und welche Farbe trägst du eigentlich?"
Als würde Firora ihr Brotkrumen hinwerfen, den sie nur folgen müsste, um die Antwort zu finden, macht Firora weiter.
Frage um Frage.
In Linea keimt eine böse Vorahnung heran, während in Firoras Gesicht ein zufriedener Ausdruck tritt.

"Was ergibt schwarz und weiß?"

Linea öffnet den Mund. Ihre Augen werden groß. Ihr Herz macht einen Satz.

"Du...", sie kann es nicht mal aussprechen so absurd ist diese Vorstellung.
"Ich." Firora macht einen langen Schritt auf sie zu, "bin die Zukunft."
Linea schüttelt den Kopf, sodass ihre Haare hin und her wippen.
"Nein, du bist..."
"Ich bin?"
"Du..."
"Ich bin... beides."

"Aber wie ist das möglich?"
Linea kann es nicht glauben, als würde das Grauen persönlich vor ihr stehen, weicht sie zurück.
Firora geht ihr nach.
Langsam, animalisch.

"Es gibt nicht nur schwarz und weiß, Linea", spricht sie und ihre Stimme hallt in ihren Knochen wieder, "Nicht richtig und falsch, nicht das eine oder das andere. Die Welt ist soviel größer, als unser kleiner, beschränkter Geist es jemals sein wird."

Linea stößt mit dem Rücken gegen die Wand. Aorian, der die ganze Zeit neben ihr gestanden hat, macht einen Schritt zur Seite. Überlässt Firora das Feld.
Diese läuft langsam auf Linea zu bis sie vor ihr zum Stehen kommt.
Sie ist einen guten Kopf kleiner als Linea und sieht sie aus ihrem kindlichen Gesicht heraus mit einer Kälte an, die Linea einen Schauder über den Rücken jagt.

Firoras Mundwinkel zucken in die Höhe, ehe sich auf ihr Gesicht ein breites Lächeln schleicht.
"Das hat Spaß gemacht", ruft sie freudig aus und wendet sich von Linea ab. Innerhalb eines Wimpernschlags löst sich ihre Anspannung in Luft auf und sie rutscht die Wand entlang, bis sie auf dem Boden sitzt.
Ihr Atem entkommt keuchend ihrer Kehle.

"Ich sagte doch, du wirst überrascht sein", flüstert es neben ihr, doch Linea ist zu müde, um in das dämlich grinsende Gesicht zu sehen.

Seitdem sie in dieses Tunnelsystem geschleppt worden ist, hat sie so vieles neues kennengelernt, dass jetzt der Moment ist, in dem sie einfach nicht mehr kann. Sie ist wie ein Fass, das gefüllt und gefüllt wurde. Nun ist es voll und droht überzulaufen.
Sie hört nur noch mit halbem Ohr zu wie Firora über den Gang nach oben spricht, wem sie welche Aufgabe zuteilt und den Gang zeitlich begrenzt. Sie kann nun verstehen, warum Kieran sich so unwohl unter dem Blick gefühlt hat.

Es fühlt sich an, als würde einem Stück für Stück die Seele geraubt und nun mit ihrem Wissen, versteht Linea auch warum. Der Blick eines Crows vereint mit dem einer Dove.

The Crows Where stories live. Discover now