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Linea kann es kaum glauben. Ihr Mund öffnet sich, doch ihm entkommt nicht ein Ton. Ihr Herz schlägt kraftvoll in ihrer Brust, doch nicht vor Angst.

Ein zweiter Mann hat das Kellergewölbe betreten, doch er ist anders als der Erste und gleichzeitig auch bekannt.
Sie hat ihn bereits gespürt, noch bevor er in ihr Blickfeld getreten ist.

"Oh", entkommt es ihr und sie beißt sich auf die Lippe, während sie mit großen Augen den Neuankömmling betrachtet.
Er hebt die Hand zum Gruß, "Das habe ich nicht erwartet, als man mir sagte, es wurde eine Crow gefangen genommen", gesteht er offen und kratzt sich am Hinterkopf.
"Verstehe ich", murmelt Linea ehe sie es verhindern kann.

Vor ihr steht ein junger Mann, doch nicht irgendein junger Mann. Silberne Haare, hellblaue Augen, die dem Himmel an einem sanften Frühlingstag gleichen. Ein Dove.
Auch wenn seine Ausstrahlung hell und freundlich wirkt, so trägt auch er die Farbe des Feindes, wenn auch nur über die Kleidung. Eine schwarze Hose und ein schwarzes Leinenhemd. Ungewohnt.
Ihre Großmutter hat ihr erzählt, dass Doves früher, als die Jagd noch nicht begonnen hat, helle Kleidung trugen. So hat sich Linea andere ihrer Art immer vorgestellt und Iljana hat ihrer Vorstellung, mit dem wallenden weißen Gewändern, entsprochen.

"Heran, nimm ihr die Fesseln ab", bittet der Dove und dreht sich zu dem Mann um. Dieser sieht aus, als sei er ein Fisch auf dem Trockenen. Immer wieder setzt er an etwas zu sagen, doch ihm entkommen nur abgehackte Töne. Die Röte kriecht seinen Hals empor, seine Augen treten hervor. Es wirkt fast so, als bekäme er keine Luft.
"Heran?" Der Dove sieht wartend zu dem Mann, der noch immer um Worte kämpft.

"A- A- Ab- Aber Kieran, wie kannst du das verlangen?", fragt er und sieht den Dove flehentlich an. Die Wut entflammt in seinen Augen, als sein Blick zu Linea schweift. Mit dem Finger zeigt er auf sie.
"Wir sollten sie verhören und dann im Meer ertränken. Eine weniger schadet nicht." Voller Eifer spuckt er die Worte aus.

Es ist beeindruckend wie schnell die Ausstrahlung des Mannes, Heran, sich verändern kann. Sieht er den Dove an, wirkt er weicher, bittender. Schaut er hingegen zu Linea wirkt er gefangen in seiner Wut, dickköpfig und von seinem Gefühl geleitet. Falls er Vernunft oder Kalkül besitzt ist dieses beim Anblick einer Crow völlig verschwunden.
Linea beobachtet die Beiden genau und kommt zu dem Entschluss, dass der Dove derjenige ist, der den Ton angibt und Heran ihm gegenüber eher eine devote Rolle einnimmt.

Kieran seufzt laut und unterbricht damit Lineas Analyse. Er wendet sich dem aufgebrachten Mann zu und legt einen Arm um dessen Schultern.
"Hast du es noch immer nicht verstanden?", fragt er sanft, als spräche er mit einem Kind, "Sie ist wie ich."
Er legt sich die Hand auf die Brust, beugt seinen Kopf noch näher an Heran heran, so als wolle er ihm etwas ins Ohr flüstern und nickt Linea zu.

"Eine Dove, getarnt unter einer Maske."
Heran sieht aus, als könne er nicht mehr bis drei zählen. Unglaube lässt seine Augen groß werden, wenn dies bei den Habichts-Augen überhaupt möglich ist.
"Eine... Dove?"
Kieran nickt. "Eine Dove", bestätigt er langsam.
"Eine Dove?", wiederholt Heran erneut und schüttelt den Kopf, "Das kann nicht sein. Sieh sie dir doch an!"
"Vertrau mir." Kieran täschelt seine Schulter, "Und nun nimm ihr die Ketten ab."
Der Mann, Heran, sieht alles andere als begeistert aus. Nur widerwillig beginnt er die Schlösser zu öffnen. Dabei liegt sein Blick die ganze Zeit auf Lineas Gesicht. Seine Kiefermuskeln arbeiten, seine Lippen sind zu einer dünnen Linie zusammengepresst.

Linea sieht an ihm vorbei zu dem Dove, der sie freundlich ansieht.
"Was machst du hier?", fragt sie und spart sich alle Förmlichkeiten. Er wirkt so, als sei er in ihrem Alter und nach der Gefangennahme ist sie auch nicht mehr bereit jemanden förmlich anzusprechen.
"Dasselbe könnte ich dich fragen", antwortet er ihr und verschränkt die Arme vor der Brust, "Warum trägst du die Farbe des Feindes?"
"Besser als in deiner Erscheinung in Alchandria rumzulaufen, findest du nicht?"
"Oh", gibt er langgezogen von sich, "Ich laufe nicht durch Alchandria." Er grinst sie verschmitzt an und fügt hinzu: "Ich glaube, wir haben eine Menge zu bereden."

The Crows Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt