Kapitel 37

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»Was schätzt du, wie lange sind wir noch unterwegs?«, fragt meine kleine Schwester, während sie aus dem Fenster schaut und die Landschaft an uns vorbeizieht. Wenn es nach mir ginge, könnten die Bäume schnell wieder Blätter bekommen und ein paar Grad wärmer wären auch ganz nett.

»Laut Fahrplan müssten wir in einer halben Stunde da sein.«

Lyra und ich hatten uns dazu entschieden, einen Tag gemeinsam zu verbringen. Einfach mal von zuhause rauskommen und vor dem Alltag fliehen. Alles hinter uns lassen. All' die Sorgen und Probleme für einen kurzen Augenblick vergessen.
Außerdem glaube ich, dass es unserer Bindung ganz gut tut. Durch die Krankheit hat sie vermutlich auch nicht mehr die Aufmerksamkeit bekommen, die sie gewohnt war. Obwohl sie nur ein Jahr jünger ist als ich, war sie trotzdem irgendwie immer das Nesthäkchen. Sie war sowieso schließlich in allem immer besser und toller als ich. Sie ist eben Lyra. Hat wahrscheinlich die besseren Gene abbekommen.

Phasenweise war ich nicht gerade nett zu den Menschen in meinem Umfeld und vor allem zu denen, die mir wichtig sind, weil ich alle von mir weggestoßen habe. Meine Schwester hat es jedenfalls nicht verdient, dass ich sie so behandelt habe. Irgendwie will ich das wieder gut machen — auch wenn es vielleicht schon zu spät ist. Aber so kann ich unsere Beziehung wenigstens etwas für die Zukunft stärken.

Familie ist eben immer das, was bleibt.

»Wie läuft es eigentlich mit diesem einen Typen?«, falle ich mit der Tür ins Haus. Jetzt ist wohl der beste Zeitpunkt, um irgendwie an meine kleine Schwester ranzukommen.

Sie streicht sich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. »Es läuft gar nicht, es hat sich herausgestellt, dass er auf ein Mädchen in meiner Klasse steht.«

»Oh nein.« Ich verdrehe genervt die Augen. »Dann ist er sowieso blind. So Typen brauchen wir nicht, Lyra.«

»Es ist schon schade, er wirkte wirklich nett.«

»Tja, es ist bloß nicht alles Gold, was glänzt... Mach dir nichts draus. Ich weiß, das ist immer leichter gesagt als getan, aber dann sollte es einfach nicht sein. Das hilft dir jetzt wahrscheinlich nicht weiter, aber der Richtige wird noch kommen.«

»Vielleicht hast du Recht, ja...«, erwidert Lyra. Liebeskummer muss scheiße sein und das ist ein Gefühl, welches ich nicht fühlen möchte. Das kann man wirklich nicht gebrauchen.

Wie ich es gesagt hatte, kommt der Bus eine halbe Stunde später zum Stehen und wir bewegen uns von unseren Plätzen zum Ausgang. Einige Personen wollen einsteigen und da wir uns plötzlich inmitten von Menschen befinden — für meinen Geschmack deutlich zu viele —, greife ich nach Lyras Hand, um sie nicht zu verlieren.

Die eisige Luft strömt uns entgegen und ich hoffe einfach nur, dass die Wettervorhersage Recht hat und es heute weder regnet noch schneit.
An der Bushaltestelle orientieren wir uns kurz und schauen, in welche Richtung wir laufen müssen, um an unserem Ziel anzukommen.

»Also wenn ich das hier richtig sehe, müssen wir da lang«, sagt meine kleine Schwester, mit dem Finger auf den Weg hinter uns zeigend.

»Na dann mal los.« Ich folge ihr einfach, weil sie ohnehin den besseren Orientierungssinn von uns beiden hat. Aber es scheint, als läge sie richtig, da der schmale Weg zwischen den Wiesen zu etwas führt, was von Weitem wie ein Deich aussieht. Und die andere Richtung führt wahrscheinlich in die kleine Stadt.

Ehrlich gesagt wäre ich lieber im Sommer hierher gekommen, denn dann ist es zumindest warm, aber ich hatte irgendwie das Bedürfnis, jetzt zu diesem Ort zu fahren.

Nach wenigen Minuten Fußmarsch durch die Kälte, sind wir oben auf dem Deich angekommen und haben vollen Blick auf das Meer und den Strand. Keine Menschenseele ist hier und es scheint, als hätten wir den ganzen Platz für uns alleine. Wahrscheinlich ist es für die meisten zu kalt, um hierher zu kommen. Der Wind ist ziemlich stark und bläst trotz dicker Klamotten, durch den Stoff unserer Kleidung. Jacke, Mütze und Kapuze scheinen dabei nicht ausreichend zu sein.

Die magere WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt