Kapitel 4

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𝓘ch mache mich in meinem Schlafanzug zusammen mit meiner Kuscheldecke auf den Weg nach unten ins Wohnzimmer, um dort mit meiner Familie zusammen Fernsehen zu schauen. Abends ist meistens die einzige Gelegenheit, dass wir alle vier etwas zusammen machen können.

»Hallo mein Engel, komm und setz dich zu uns«, sagt meine Mutter und klopft mit ihrer Hand auf den freien Platz neben ihr.

Auch meine Schwester ist hier im Raum, sitzt jedoch neben unserem Vater und lehnt ihren Kopf mit dem pechschwarzen Haar an seine Schulter. Sie sitzt dort und stopft sich ein Stück Schokolade nach dem anderen in den Mund. Ihr Vorteil dabei ist, dass sie so wunderschön ist im Gegensatz zu mir und so viel essen kann wie sie will, ohne hässlich zu werden.

Kurz überlege ich, ob ich mir ein Stück von der Schokolade nehmen soll, doch ich erinnere mich an meine Diät und dass ich mir das im Moment nicht leisten kann. Außerdem würde meine Familie dann sicher denken, dass ich ohnehin schon viel zu dick bin. Es ist mir wirklich peinlich, wenn mich jemand beim Essen ansieht. Ich will überhaupt nicht wissen, was den Personen während ich esse durch den Kopf geht, wenn sie mich dabei sehen.

»Wie war denn dein Tag?«, erkundigt sich mein Vater.

Wie soll er schon gewesen sein? Ich war in der Schule und musste anschließend Sport machen. Heute Mittag wurde ich wieder mal zum Essen gezwungen, jedoch gab es zum Glück überwiegend Gemüse, auch wenn ich es nicht mag. Somit nahm ich insgesamt 260 Kalorien zu mir und diese sind bereits wieder verbrannt. Das Abendessen ließ ich ausfallen, da ich meiner Mutter sagte, ich hätte Bauchkrämpfe und mir wäre übel — was selbstverständlich nicht der Wahrheit entsprach. Aber ansonsten müsste ich ständig essen, obwohl ich es nicht will.

»Gut, wir haben die Mathe-Klausur wieder bekommen und ich habe zehn Punkte!«

Zehn Punkte sind im Vergleich zu Lyra schlecht, sie hätte mindestens zwölf geschafft. Aber da Mathe nicht meine Stärke ist, ist es für mich ein großer Erfolg.

»Oh, super! Siehst du, es funktioniert doch«, sagt mein Vater abschließend und wendet sich dann wieder dem Tatort zu.

Nach einer halben Stunde wird es mir zu langweilig, da ich den Anfang des Filmes verpasst habe und somit nicht wirklich weiß, worum es geht. Allgemein habe ich aber keine Lust mehr und will mich einfach in meinem Bett verkriechen.

Doch dann überkommt mich ein Moment der Schwäche. Ich stehe auf, nehme mir ein Stück Schokolade von meiner Schwester und schiebe es in meinen Mund. Schon jetzt bereue ich es, ich habe keinen blassen Schimmer, was in mich gefahren ist.

»Ey, du dicke Kuh!«, sagt meine Schwester lachend.

Autsch, das tat weh. Ich weiß, dass ich fett bin, warum sagt sie mir das? Doch leider hat sie recht ...

Schweigend und schmerzerfüllt gehe ich wieder nach oben in mein Zimmer. Als ich bereits die Treppe nach oben gehe, höre ich meine Mutter sprechen: »Lyra, das war nun wirklich nicht nett von dir!«

»Es war doch überhaupt nicht so gemeint! Was kann ich dafür, wenn sie das ernst nimmt und jetzt beleidigt ist? Es sieht doch jeder Blinde, dass sie...«, antwortet Lyra und versucht sich herauszureden. Ich kann sie nun nicht mehr hören, doch ich weiß genau, was sie gesagt hat. Ich weiß, dass jeder sehen kann, dass ich dick bin. Weshalb macht sie mich so schlecht und dann auch noch vor meinen Eltern?

Enttäuscht sitze ich nun auf meinem Bett und schreibe in mein Notizbuch.

Frühstück: 0 Kalorien
Mittagessen: 260 Kalorien
Abendessen: 0 Kalorien
Snack: 28 Kalorien
Sport: -320 Kalorien
Netto: -32 Kalorien
Gewicht: 52,4 Kilogramm
BMI: 16,8 -> Inzwischen bin ich im Untergewicht, was ich jedoch nicht glauben kann. Ich bin viel zu dick, um untergewichtig zu sein. Nicht einmal im Spiegel kann man sehen, dass ich abgenommen habe. Vielleicht funktioniert die Waage nicht mehr?

Die magere WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt