Kapitel 21

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𝓜it einem tränenüberströmten Gesicht stürme ich durch die Tür, nach draußen in die Freiheit. Ich will endlich frei sein. Leicht sein.

Ich versuche zu ignorieren, dass Milan wieder vor seinem Auto steht und grinsend auf mich wartet. Es geht jetzt nicht, ich kann das einfach nicht. Also laufe ich in eine andere Richtung, um dem Ganzen zu entkommen. Dabei spielt für mich keine Rolle, ob es schlau ist oder eher weniger.

Meine Absicht war nie ihn zu enttäuschen, aber ich wusste die gesamte Zeit über, dass es so weit kommen wird. Auch wenn ich es am liebsten verhindern würde, kann ich nicht anders als zu rennen. Meine Beine tragen mich wie von selbst und ich kann mich nicht dagegen wehren.

Ich will in keine Klinik! Ich bin nicht krank oder gestört! Selbst wenn ich diese Krankheit hätte — was nicht der Fall ist — wäre ich noch nicht krank genug, um davon Abschied zu nehmen. Für eine richtige Essgestörte esse ich viel zu viel und bevor ich wieder mehr essen darf, muss ich noch weniger essen. Wenn man magersüchtig ist, ist man doch so richtig krass dünn, oder? Das bin ich aber nicht, ich bin noch viel zu weit davon entfernt, also habe ich noch einen langen Weg vor mir, ehe ich wieder dick werde. Es muss sich schließlich erst lohnen, ich kann jetzt nicht aufgeben! Dann war alles umsonst!

Schneller. Ich muss schneller laufen. Alle Kalorien verbrennen. Mein Körper hat es verdient zu leiden. Ich habe es verdient zu leiden.

Als ich im Wald angekommen bin, bleibe ich stehen. Hier bin ich alleine und habe meine Ruhe. Meine Arme und Hände stütze ich auf meinen Oberschenkeln ab und versuche durchzuatmen. Mein Kreislauf wird wieder schwach. Ich werde schwach. Wie immer. Nur eine kurze Pause. Gleich werde ich weiter rennen.

»Aurelia!«, schreit eine männliche Stimme von hinten und ich brauche nicht lange, um sie der dazugehörigen Person zuzuordnen. Ich wollte einfach nur meine Ruhe. Mehr nicht.

»Verdammt, warum läufst du weg und wieso bist du so scheiße schnell?«, sagt er mit schwacher und abgehackter Stimme. Er scheint eine genauso gute Ausdauer zu haben wie ich — nämlich gar keine.

»Lass mich einfach in Ruhe!«, rufe ich und bekomme sofort ein schlechtes Gewissen. Wieso muss ich alle so von mir abstoßen? Ich will niemanden verletzen, aber noch weniger will ich selbst verletzt werden.

»Hey, was ist denn passiert?« Milan kommt näher und legt seine Hand auf meine Schulter. Die Schweißtropfen stehen auf seiner Stirn und er scheint ernsthaft außer Puste zu sein. Seine Wangen sind gerötet und die Haare liegen zerstreut auf seinem Kopf. Ich will keine Berührungen, ich hasse sie. Und trotzdem kann ich mich gerade nicht dagegen wehren. Diese Widersprüchlichkeit bringt mich irgendwann noch um den Verstand.

»Verdammt, sie will mich in eine Klinik stecken, Milan!«, antworte ich hysterisch und ich glaube, es fällt dezent auf, wie panisch ich bin.

»Was? Erkläre mir das langsamer und beruhige dich erstmal.« Wie schafft er es, immer so gelassen und entspannt zu bleiben? Ich explodiere immer sofort und gehe in die Luft, ohne es verhindern zu können.

»Was ist so schwer daran zu verstehen? Wenn ich jetzt nicht mehr esse, lässt sie mich einweisen! Und ich kann nichts dagegen tun!«

»Und was ist, wenn du mehr isst? Will sie dann trotzdem, dass du in eine Klinik gehst?«

»Ich kann und will aber nicht mehr essen!« Wieso versteht das denn niemand?

Die magere WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt