Kapitel 2

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𝓔ndlich bin ich dünn. Ich stehe vor meinem Spiegel und bewundere das, was ich dort sehe. Ein wunderschönes Mädchen, welches zusätzlich noch eine perfekte Figur hat. Es sieht glücklich und zufrieden aus. Nirgendwo ist auch nur ein Gramm Fett zu viel, sie ist makellos. Das Mädchen dreht sich und betrachtet sich aus jedem Winkel. Auf das, was sie geschafft hat, ist sie wirklich stolz. Sie ist stark geblieben und wurde deshalb mit diesem Aussehen belohnt. Das, was sie die ganze Zeit wollte, hat sie nun endlich erreicht und bekommen. Nie wieder muss sie sich irgendwo für ihr äußeres Erscheinungsbild schämen oder verstecken. Sie kann jetzt tragen, was sie will und sieht dabei sogar noch gut aus. Der Gedanke lässt sie glücklich lächeln.

Mein Wecker reißt mich aus meinem Traum. Mit geschlossenen Augen taste ich mit meiner Hand nach diesem und schalte ihn aus. Enttäuscht seufze ich. Wieso musste ich genau jetzt aufwachen und warum kann es nicht einfach die Realität sein? Oder ist es vielleicht tatsächlich die Wirklichkeit?

Neugierig springe ich aus meinem Bett und will zu meinem Spiegel laufen. Puuh... Das war eindeutig zu schnell. Ich setze mich zurück auf die Bettkante, da mein Kreislauf mir wieder einen Strich durch die Rechnung machen will. Einmal atme ich noch tief durch und starte dann meinen zweiten Versuch aufzustehen, doch dieses Mal vorsichtiger!

Meine Kleidung ziehe ich gespannt aus und werfe einen ängstlichen Blick in den Spiegel. Natürlich war mein Traum nicht wahr ... Ich bin immer noch genauso dick wie gestern und es hat sich nichts verändert. Außer, dass ich vielleicht noch zugenommen habe bei meinem Glück. Wie soll es auch anders sein? Es wäre viel zu schön, wenn ich wirklich so aussehen würde wie in meinem Traum.

Na dieser Tag fängt ja schon super an — nicht!, schießt mir durch den Kopf.

Schlecht gelaunt gehe ich ins Badezimmer, um mich für die Schule fertig zu machen. Ich öffne meinen geflochtenen Zopf und sortiere die vielen Haare, die nun wellig sind. Danach putze ich mir die Zähne und wasche mein Gesicht mit kaltem Wasser, um wach zu werden.

Doch bevor ich mich anziehe muss ich unbedingt noch wissen, wie viel ich wiege und zugenommen habe.

Ich überlege kurz, ob ich es nicht doch lieber lassen soll und mit der Ungewissheit lebe oder ob ich den ganzen Tag schlechte Laune haben will, nur weil ich zugenommen habe. Letztendlich entscheide ich mich für die letzte Variante, denn wenn ich heute wirklich mehr wiege als gestern, dann weiß ich immerhin, dass ich heute gar nichts essen darf.

Unsicher stelle ich mich mit meinen Füßen auf die kalte Waage und fürchte mich vor dem Ergebnis. Aber ich muss es einfach wissen, es geht nicht anders. 

Glücklich hüpfe ich durch unser Badezimmer. Ich habe abgenommen! Vermutlich bin ich gerade der glücklichste Mensch auf dieser Welt, auch wenn ich nicht wirklich viel Gewicht verloren habe und immer noch um einiges zu dick bin. Dennoch bin ich mit meinen 56,8 Kilogramm jetzt definitiv näher an meinem Ziel! Bald würde die vordere Zahl eine vier sein und ich werde immer leichter.

Gerade bin ich echt stolz auf mich selbst, dass ich es bis jetzt einigermaßen weit geschafft habe. Ich habe mich und meinen Körper unter Kontrolle. Wenigstens etwas, was ich gut kann, denke ich. Ich bestimme, wann, was und ob ich überhaupt etwas esse und sonst niemand. Nicht der Hunger, nicht meine Eltern, nur ich entscheide, ob ich dick werden will oder endlich schön. Ich bin stärker als der Hunger und das Verlangen nach Essen.

Motiviert ziehe ich meine Klamotten an, hole noch meine Schultasche aus meinem Zimmer und begebe mich nach unten in die Küche, wo meine Mutter bereits Frühstück macht.

»Guten Morgen mein Engel, hast du gut geschlafen?«

»Guten Morgen Mama, ja, habe ich. Und du?«, antworte ich. Sie nickt lediglich, hält mir mein Frühstück hin und fragt: »Hier, willst du nichts frühstücken?« Es wäre auch wirklich zu schön gewesen, bliebe mir das erspart ...

Die magere WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt