Kapitel 18

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»𝓤nd wie geht es dir jetzt?«, erkundigt sich meine beste Freundin. Sie legt ihre Stirn in Falten und da ich sie ziemlich gut kenne, weiß ich, dass sie besorgt ist.

Wie geht es mir jetzt? Das ist eine wirklich gute Frage und ich würde gerne die Antwort darauf kennen. Ich bin zuhause, was definitiv ein bisschen mehr Freiheit bedeutet, doch gleichzeitig stehe ich unter ständiger Beobachtung. Tatsächlich habe ich es auf 49,6 Kilogramm geschafft, was mein neues Tiefstgewicht ist. Um ehrlich zu sein kann ich mir aber selbst nicht erklären, wie ich das geschafft habe. Es wundert mich, dass ich nicht zugenommen habe. Irgendwie denke und hoffe ich, weiterhin abnehmen zu können, aber es wird auffallen, wenn meine Eltern mich wiegen sollten. Trotzdem bringt mich der Pessimismus in der Situation auch nicht weiter... Es wird einen Weg geben!

»Aurelia?!«, ruft Liv ungeduldig und fuchtelt wild mit ihren Händen vor meinem Gesicht herum.

»Gut... Mir geht es gut«, antworte ich verwirrt und versuche es mir selbst einzureden, während ich mit einer Haarsträhne spiele. Ich weiß es nicht, ich habe keinen blassen Schimmer wie es mir geht, aber das verstehen die meisten nicht.

»Das glaube ich dir nicht.« Weshalb kauft sie mir das jetzt nicht ab? So unglaubwürdig habe ich das gar nicht rübergebracht. Oder?

»Musst du auch nicht«, sage ich lachend und werfe sie mit dem flauschigen Kissen ab, welches vor meinem Bauch und auf meinen Beinen liegt.

Gekonnt fängt sie es, erwidert mein Lachen allerdings nicht, was sehr untypisch für Liv ist. »Im Ernst, ich kenne dich nicht mehr! Ich weiß absolut gar nichts mehr über dich. Du erzählst nie etwas und distanzierst dich total von uns. Das macht mich wirklich traurig.« Sie schnaubt wütend und enttäuscht. »Ich habe dich an diese beschissene Krankheit verloren! Sie hat mir einfach meine beste Freundin weggenommen!«

»Ich bin nicht krank!«, diskutiere ich und spüre dabei, wie mein Herz in meiner Brust immer schneller und stärker schlägt. Warum nimmt sie sich das Recht, so über mich zu urteilen? Sie hat doch gar keine Ahnung!

»Sag mal, merkst du überhaupt noch was? Du bist einfach umgekippt und fast gestorben! Du siehst aus wie ein Skelett und hast dich total verändert. Ich will meine beste Freundin wieder zurück! Ist dir das wirklich so egal?« Eine Träne tropft auf ihre Hose, womit ich definitiv nicht gerechnet hätte. Liv ist eigentlich nie traurig, jedenfalls zeigt sie das nicht, und jetzt sitzt sie vor mir und weint, nur weil ich ein paar Kilogramm abgenommen habe? Ich verstehe die Welt langsam nicht mehr.

Sie holt ihr Handy aus der Hosentasche und tippt darauf herum. Dann hält sie es direkt vor meine Nase, sodass ich kaum etwas sehen kann. »Siehst du das? Das war meine und vor allem die alte Aurelia! Das war mal meine allerbeste Freundin, die mir unglaublich wichtig war. Mit der ich über alles reden und lachen konnte.« Sie wischt mit ihrem Daumen zur Seite. »Und siehst du das? Ich weiß nicht, wer das ist, aber das bist du jetzt! Du warst früher so viel hübscher und glücklicher. Jetzt darfst du nicht einmal zur Schule gehen, weil dein Körper so schwach ist. Ist es das, was du wolltest? Dass alle Menschen beinahe selbst vor Angst sterben, weil sie damit rechnen müssen, dass du bald nicht mehr lebst? Dass sie beten müssen, dass du den nächsten Morgen wieder aufwachst? Ist dir eigentlich bewusst, wie viele Leben du zerstören würdest?«

Mit so einer Ansage hätte ich nicht gerechnet, besonders nicht von Liv. Ich frage mich auch, woher sie so viel weiß. Doch viel schlimmer ist, dass mich ihre Worte direkt und ohne Umwege in meinem Herzen treffen und mich wirklich verletzen.

»Wenn du denkst, ich werde dir dabei zusehen wie du stirbst, hast du dich geschnitten! Das halte ich nämlich nicht aus. Aber das interessiert dich ja gar nicht, weil du nur an dich denkst! Denn dir ist egal, wie vielen Personen du Schaden zufügst. Hast du auch nur eine verdammte Sekunde daran gedacht, wie es deinen Eltern geht? Denkst du ernsthaft, sie oder deine Schwester und vor allem Milan würden jemals nochmal glücklich werden? Du wirst uns allen das Herz brechen und selbst unglücklich sterben!« Sie schluchzt laut und steht schließlich auf. »Ich würde alles dafür tun, um dir zu helfen, aber du lässt mich nicht. Ich kann das nicht, Aurelia, verdammte Scheiße, ich kann das einfach nicht!«

Dann knallt meine Tür auch schon laut und ich höre Liv die Treppe herunter poltern. Bevor ich auch nur auf die Idee komme, ihr hinterherzurennen, muss ich erstmal fest schlucken. Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist. Normalerweise ist das absolut nicht ihre Art. Das ist das erste Mal, dass sie mich angeschrien hat und wir überhaupt gestritten haben.

Was war das? Habe ich gerade meine beste Freundin verloren? Nein, oder? Liv würde mich niemals einfach so alleine oder im Stich lassen. Das darf alles nicht wahr sein!

Die Wut in mir kocht und mein Herz schlägt immer höher und fester. Mein Körper spannt sich mehr und mehr an. Ich werde überrollt von den ganzen Gefühlen, die ich nicht sortieren und deuten kann. Doch gleichzeitig fühlt sich alles so leer an und lässt mich kalt.

Mir wird heiß und kalt, ich beginne zu schwitzen und höre Livs Worte in meinem Kopf widerhallen. Ich sehe ihr Gesicht und wie wütend und traurig sie war. Obwohl ich sie so viele Jahre kenne, war sie mir gerade völlig fremd.

Mein Brustkorb hebt und senkt sich immer unregelmäßiger. Es ist als würden sich die gesamten Gefühle um meine Kehle legen und mit aller Kraft zudrücken. Mich erdrücken. Gerade bin ich wieder an dem Punkt, an dem es mir ganz recht wäre, wenn ich den Schmerz nicht mehr ertragen müsste. An dem ich mir wünsche, an einem anderen Ort zu sein. Weg zu sein.

Selbst der Gedanke daran, bald endlich dünn und schön zu sein, rettet mich nicht. Normalerweise ist das im Moment das Einzige, was mich gut fühlen lässt, aber nicht einmal das hilft mir in dem Augenblick.

Ich setze mich aufrecht hin und versuche ruhig ein- und auszuatmen, was mir selbstverständlich nicht gelingt. Dadurch schnappe ich nur noch mehr panisch nach Luft. Am liebsten würde ich schreien oder weinen oder irgendetwas zerstören, doch ich kann nicht. Meine Finger beginnen zu zittern und ich spüre, wie ich die Kontrolle immer mehr verliere und abgebe. Meine gesamten Beine werden taub und ich nehme nur noch das unangenehme Kribbeln wahr.

Jetzt wird mir klar, dass nur noch eine Sache helfen kann. Es muss funktionieren. Wie eine Kurzschlussreaktion erscheint es mir. Alles geht ganz schnell.

Mein schwacher Körper trägt mich wie von selbst zu dem Ort, an dem ich sie versteckt habe. Mir ist bewusst, dass es definitiv falsch ist, doch gerade ist mir alles unfassbar gleichgültig. Ich dachte, es wird besser, wenn ich dünner bin, aber es stimmt nicht. Weil es einfach noch nicht genug ist.

Ich nehme sie zwischen meine Finger, schiebe den Stoff etwas zur Seite und setze an.

Rot.

Sofort spüre ich wie sich langsam alles in mir entspannt und ich wieder besser durchatmen kann.

Ziemlich schnell realisiere ich, dass es falsch war. Ich hätte die Kontrolle nicht verlieren dürfen, doch es ist passiert. Es war so dumm von mir.

Als es an der Tür klopft, bereue ich es, sie nicht vorher abgeschlossen zu haben. Warum habe ich nicht gehört, dass jemand gekommen ist? Warum habe ich nicht besser aufgepasst? Warum war ich nicht schnell genug?

Ich bin aufgeflogen. Nun ist es kein Geheimnis mehr. Das bedeutet meinen Untergang.

Mal ein etwas kürzeres Kapitel

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Mal ein etwas kürzeres Kapitel. Aber ich wollte es nicht unnötig in die Länge ziehen.
Was sagt ihr zu Livs Reaktion?
Auch an dieser Stelle wollte ich nochmal anmerken, dass ich in keiner Weise Selbstverletzungen beschönige. Für Aurelia ist das in diesem Moment das Einzige, was ihr hilft — jedenfalls denkt sie das. Aber auch sie stellt kurz danach fest, dass es falsch war. Nur weil es manchen in dem Moment möglicherweise hilft, oder man denkt, es würde helfen, tut es das nicht! Hinterher ist meistens alles noch viel schlimmer und Ablenkung hilft um einiges mehr als Narben oder Schmerzen, die man seinem Körper zufügt. Glaubt mir, ihr tut euch damit wirklich keinen Gefallen! Ihr seid stärker als das Verlangen und ihr könnt es schaffen, dagegen anzukämpfen!❤️

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