Kapitel 20

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𝓜it jedem Schritt, den ich mich der Praxis meiner Psychologin nähere und somit von dem Auto meiner Eltern entferne, wächst die Nervosität in mir. Sie kriecht in meinem Körper weiter nach oben und lässt mein Herz immer schneller schlagen. Mit zittrigen Fingern öffne ich die Eingangstür. Zum einen weil mir wieder kalt ist und zum anderen weil ich irgendwie Angst habe.

Im Wartezimmer nehme ich auf einem der Stühle Platz und versuche tief ein- und auszuatmen, während mein Blick zum Fenster fällt. Heute ist ein wunderschöner Herbsttag. Die Sonne scheint und draußen ist es gar nicht mal so kühl wie die letzten Tage — auch wenn ich immer noch friere. Dennoch habe ich keine besonders gute Laune. Wahrscheinlich weil ich weiß, dass ich nicht mehr einfach unbemerkt abnehmen kann.

Ich will nicht, dass sie meine Aufregung spürt. Aber das wird sie, sie ist immerhin eine Psychologin und kann mich komplett durchleuchten. Egal, ob ich Atemübungen mache, mich versuche zu beruhigen und die Emotionen verstecke oder hyperventilierend vor ihr sitze. Sie würde mich trotzdem durchschauen und dabei wäre ich nur ein offenes Buch.

Schnell zücke ich mein Handy aus meiner Hosentasche, um es auf stumm zu schalten. Man weiß ja nie.

'Guten Morgen, Nala. Ich wünsche dir ein gutes und hilfreiches Gespräch. Und denk an meine Worte! Bis gleich, dein Simba', lese ich und beginne zu lächeln. Er gibt sich wirklich Mühe und versucht mir zu helfen, was ich sehr zu schätzen weiß. Schließlich ist es nicht leicht mit mir, besonders in der Hinsicht.

»Guten Morgen, Aurelia. Kommst du mit nach oben?«, sagt Frau Hoffmann, die rechts von mir im Türrahmen steht und mich wartend angrinst. Wahrscheinlich hat sie mein Lächeln gesehen. Aber wenn man in Therapie ist, muss es einem doch schlecht gehen, oder? Bestimmt hat sie jetzt ein falsches Bild von mir und denkt, dass es mir gar nicht schlecht geht.

Nach einer kurzen Starre erhebe ich mich von dem Stuhl und muss schon wieder vor ihr die Treppe hochgehen. Wieso fängt der Tag eigentlich schon so schlecht an? Wobei... Ist es überhaupt so schlimm wie ich denke oder übertreibe ich einfach nur?

Oben angekommen, gehe ich direkt zielgerichtet auf den Stuhl zu, auf dem ich das letzte Mal saß. Heute ist alles zum Glück nicht mehr so fremd und unangenehm und ich hoffe, dass es auch so bleibt.

»Wie ist es dir denn in der Zwischenzeit ergangen?«, fragt sie und notiert irgendetwas auf einem weißen Blatt, was dazu führt, dass ich mich total überwacht fühle. Schreibt sie jetzt alles auf, was ich sage?

»Ich weiß es nicht«, bringe ich nach langem Überlegen hervor. Zuerst wollte ich lügen, aber ich habe es Milan schließlich versprochen ...

»Okay... Und was fühlst du gerade?« Wenn das hier so weiter geht, fange ich gleich schon an zu schreien. Muss sie mir ernsthaft so viele Fragen stellen, die ich nicht beantworten kann?

»Ich weiß es ehrlich nicht. Irgendwie nichts und gleichzeitig so viel.« Immerhin war ich ehrlich, versuche ich mir einzureden.

»Mhm«, macht die Psychologin und schreibt etwas in unleserlicher Schrift nieder, das ich nicht lesen kann. »Dann zeig mir doch mal, was du mir mitgebracht hast.«

Ich greife in meine Jackentasche, wo ich den zusammengefalteten Zettel versteckt habe. Meine Eltern hätten mir bloß unnötige Fragen gestellt, wenn sie etwas in meinen Händen gesehen hätten, was ich selbst geschrieben habe, also habe ich es lieber unauffällig gemacht.

Die magere WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt