Kapitel 32

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𝓓as eiskalte Wasser trifft auf meinen Körper und es ist, als würden mich spitze Eiszapfen erstechen. Meine Hautoberfläche beginnt zu brennen und es schmerzt, doch ich ignoriere es. Diese Temperatur ist besser als wenn ich hinterher überall Verbrennungen habe und nicht einmal Kalorien verbrennen konnte. Und somit spüre ich Schmerz, der jedoch keine Narben hinterlässt, die ich dann erklären müsste. Ich sitze auf dem nassen und kühlen Boden und lege meinen schweren Kopf — der aufgrund der vielen Gedanken zu explodieren droht — auf meinen angewinkelten Beinen ab.

Ich bin immer noch wie gelähmt und habe Schwierigkeiten, den Termin bei Frau Hoffmann und das, was vorgefallen ist, zu verarbeiten. Es ist schon schlimm genug, dass ich jetzt eintausendfünfhundert Kalorien essen muss und nicht einmal das am Ende reichen wird. Aber scheinbar reicht das noch nicht. Ständig muss mein Gewicht ansteigen, da ich sonst in eine Klinik abgeschoben werde. Ich bin krank und habe mich in meinem Spiegelbild sehr getäuscht, da ich es die ganzen Wochen und Monate verzerrt wahrgenommen habe.

Wie ist das möglich? Und wieso habe ich davon nichts mitbekommen?

»Aurelia?«
Die Stimme meiner Schwester, welche von dem Klopfen an der verschlossenen Tür begleitet wird, holt mich zurück in die Realität.

»Ja?«, rufe ich, nachdem ich versucht habe mich zu beruhigen, damit meine Stimme nicht allzu aufgebracht klingt.

»Wann bist du fertig?«

Genervt stöhne ich und stelle das Wasser ab, von dem ich inzwischen mehr als genug verschwendet habe.

Ich wickle mich in meinem Bademantel ein und verlasse das Badezimmer, ohne mich vorher abzutrocknen. Wahrscheinlich mache ich den gesamten Boden nass und hinterlasse eine Spur aus Tropfen, doch das interessiert mich nicht. Genauso wenig spielt für mich eine Rolle, dass meine Schwester sich sicher über mein Verhalten wundert.

Erschöpft lasse ich mich rückwärts auf mein weiches Bett fallen und starre an die Decke. Mein Handy vibriert einige Male in kürzeren Abständen. Der Grund dafür ist mit Sicherheit Milan, jedoch schaffe ich es nicht mich umzudrehen, um nachzusehen, was los ist.

Stattdessen schließe ich meine Augen und hoffe, alles zu vergessen.
Zu vergessen, dass ich ein gestörtes Mädchen bin und in ein paar Wochen aus allen Nähten platzen werde, weil ich zunehmen muss.

Wenige Minuten später nehme ich ein weiteres Klopfen aus dem Hintergrund wahr.
Nachdem ich keine Antwort von mir gebe, öffnet sich die Tür und dann steht Lyra auch schon in meinem Zimmer.

»Was ist los mit dir? Geht es dir nicht gut?«, erkundigt sich meine Schwester vorsichtig und versucht mir dabei nicht zu nahe zu treten, was ich an ihrem unsicheren Gesichtsausdruck erkenne. Ihre braunen Augen sind auf mich gerichtet und wenn ich mich nicht irre, trägt sie ein rotes T-Shirt von mir, welches ich ihr vor kurzem gegeben habe, da es mir zu weit geworden ist — obwohl ich weitere Kleidung normalerweise mag. Ich muss zugeben, es steht ihr hervorragend. Ihre schwarzen, schulterlangen Haare passen wirklich gut zu der Farbe.

»Alles in Ordnung«, bringe ich über meine trockenen, spröden Lippen und lasse meine Augen weiterhin geschlossen.

»Hast du Lust, mit mir eine kleine Runde spazieren zu gehen?« Ein hoffnungsvolles Lächeln schleicht sich in ihr Gesicht, weshalb ich sie nicht enttäuschen möchte, auch wenn ich echt fertig mit der Welt bin. Bewegung würde mir jetzt wahrscheinlich guttun und vielleicht fühle ich mich danach besser. Schaden wird es sicherlich nicht.

»Gib mir zehn Minuten, ich ziehe mir nur etwas an.«

Müde trotte ich zurück ins Bad, wo ich mich abtrockne und mir ein warmes Oberteil überziehe. Anschließend föhne ich meine tropfenden Haare, um mich draußen in der Kälte nicht zu erkälten. Als ich kopfüber auf den blaugemusterten Fliesen stehe, beginnt sich alles zu drehen, was ich allerdings ignoriere. Mittlerweile kann ich meinen Körper ziemlich gut einschätzen und weiß daher, dass ich nicht jeden Augenblick das Bewusstsein verliere. Es ist nicht das erste Mal, dass mein Kreislauf verrückt spielt.
Zum Schluss kämme ich meine inzwischen nur noch feuchten Haare, creme meine ausgetrocknete Haut ein und begebe mich auf den Weg nach unten.

Die magere WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt