39. Was ist fair?

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Ich betrete den Klassenraum und blicke mich um. Noah ist noch nicht da. Soll mich das jetzt freuen oder nicht? Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich ihm meine Fragen stellen soll oder nicht. Und wenn er nicht kommt, nimmt er mir meine Entscheidung ab. Vielleicht sollte ich also hoffen, dass er nicht kommt. Andererseits möchte ich ihn eigentlich schon nochmal sehen, bevor ich zurück nach London fliege.

"Hey!", höre ich auf einmal Noahs Stimme. Damit hat sich meine Grübelei erledigt.

"Hey", antworte ich und lächle ihn kurz an.

"Bleibt es dabei, dass du morgen weg bist?", fragt Noah mich. Ich spüre seinen Blick auf mir. Deshalb wende ich mein Gesicht wieder zu ihm und nicke. Er atmet tief durch.

"Das finde ich wirklich sehr schade, ich habe mir gewünscht, dass du es dir anders überlegst."

"Wieso? Außer dem Geschichtsunterricht machen wir doch eh nichts zusammen!", platzt es aus mir heraus. Noah sieht mich geschockt an. Zu Recht. Ich hatte selbst nicht erwartet das zu sagen.

"Was-", ich unterbreche ihn: "Ist egal! Vergiss es einfach!" Dann drehe ich meinen Kopf weg und hoffe, dass der Unterricht anfängt.

"Sky, ich wollte dir Raum geben, damit du alles verarbeiten kannst und ich habe mich-", setzt Noah nochmal an.

"Lass es einfach! Wir hatten eine schöne Zeit zusammen und haben viel Spaß zusammen gehabt. Aber jetzt bin ich morgen wieder weg und du kannst mich wieder vergessen und wieder der sein, den alle von dir erwarten. Denn, da bin ich mir sicher, befreundet sein mit einem einfachen Mädchen, was auch noch eine Evans ist, zählt garantiert nicht zu den Aufgaben eines Gangmitglieds", ich weiß nicht, wo diese Worte herkommen. Ich denke, es ist ein Selbstschutz. Noah hat mir bereits das Herz gebrochen, wenn er jetzt in irgendeiner Weise versucht sich zu entschuldigen oder wieder nett zu mir ist, wird er mir wieder das Herz brechen. Und das kann ich wirklich nicht gebrauchen, besonders weil es noch nicht wieder vollständig geheilt ist.

"Bitte, Skylar, hör mir doch zu!", versucht Noah es wieder.

"Mr. Jones! Zuhören ist genau das richtige Stichwort! Ich möchte mit meinem Unterricht beginnen oder müssen sie noch etwas besprechen, dann bitte treten sie doch gemeinsam mit Ms. Evans vor!", sagt in diesem Moment unser Geschichtslehrer.

"Nein, nein! Es ist alles in bester Ordnung!", sage ich schnell, damit Noah nicht noch etwas sagen kann. Ausnahmsweise bin ich unserem Geschichtslehrer dankbar, dass er mich so auf dem Kicker hat und somit sofort unser Gespräch beendet hat. Denn ich kann keine Erklärungen von Noah hören. Zu groß ist die Angst, dass es mich kaputt macht. Ich sehe aus dem Augenwinkel, dass Noah genervt schnauft und den Kopf in die Hände legt.

Die gesamte Stunde merke ich wie Noah mich ansieht. Ich merke ihm die Verzweiflung an und bin kurz davor mich zu ihm zu drehen und ihn in den Arm zu nehmen. Dann rufe ich mir wieder in den Kopf, dass ich morgen weg bin und mein Herz heilen soll und nicht weiter gebrochen werden soll. Ich beschließe, dass ich so schnell wie möglich hier weg muss, um Noah nicht doch noch in die Arme zu fallen. Kurz vor dem Klingeln packe ich schon alle Sachen in meine Tasche und will direkt zum Stundenende aus dem Raum sprinten. Aber leider scheint Noah das vermutet zu haben und hält mich am Arm zurück.

"Lass mich bitte ausreden! Du kannst mir nicht so etwas an den Kopf werfen und mir keine Möglichkeit geben mich zu erklären! Das ist nicht fair! Ich weiß, dass ich Fehler gemacht habe, aber es ist nicht so wie du denkst", startet Noah wieder einen Versuch. Er hat recht. Es ist nicht fair, dass ich ihn nicht ausreden lasse, aber da fällt mir wieder der Tanz ein.

"Es ist nicht fair? Und jemanden zweimal zu küssen, auf einen Tanz einladen und dann stehen lassen ist fair? Ich verstehe, dass du überrascht warst, weil ich eine Evans bin. Glaub mir, ich war von der ganzen Gangsache auch überrascht. Aber weißt du was? Ich habe dich dafür nie verurteilt oder stehen lassen. Du hast mich auf dem Tanz stehen gelassen und es noch nicht einmal für nötig gehalten mir die Sache zu erklären oder dich zu entschuldigen. Also entschuldige, wenn ich jetzt nicht mehr den Nerv dazu habe dir zu zuhören. Ich bin morgen weg und dann kannst du mich einfach vergessen, so wie es nach dem Tanz dein Plan war. Tut mir Leid, dass das Ganze Entführungsdrama dazwischen gekommen ist und du dein Gewissen beruhigen musstest. Das brauchst du jetzt nicht mehr. Mir geht es gut und morgen bin ich aus deinem Leben verschwunden!" All diese Worte strömen schneller aus meinem Mund als ich darüber nachdenken kann. Es ist ein reiner Selbstschutz. Ich kapsel mich ab von Noah und gebe ihm keine Chance. Nach diesem Monolog entziehe ich ihm meinen Arm und drehe mich wieder zur Tür.

"Das kannst du nicht ernst meinen, Skylar!"

Ich ignoriere Noahs Worte und gehe weiter. Er spricht weiter, aber er hält mich nicht nochmal fest. Er versucht sich zu erklären, aber ich höre kaum hin. "Ich könnte und möchte dich nie vergessen!" Ist das letzte was ich von Noah höre, aber auch das ignoriere ich und stürme aus der Schule.

Als ich aus dem Gebäude renne, renne ich mit Schwung in jemanden rein. Ich hatte durchgehend meinen Blick gesenkt, da mir die Tränen in Bächen aus den Augen liefen. Die Situation erinnert mich an meinen ersten Tag hier. Da habe ich zwar nicht geweint, aber ich bin auch in jemanden reingelaufen. Direkt im Anschluss daran habe ich Noah kennengelernt. Und er hat mir ein Kompliment zu meinem Aussehen gemacht. Ich schüttel den Gedanken ab und nuschel eine schnelle Entschuldigung.

"Skylar?", höre ich da auf einmal eine bekannte Stimme. "Weinst du? Was ist passiert? Wem soll ich eine reinhauen?" Ein leichtes Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht. Eigentlich müsste er mir eine reinhauen, schließlich waren es meine Worte. Aber irgendwie auch Noah, aber das würde er vermutlich nie tun. Also nicht, dass er mich schlagen würde. Das bezweifle ich fast genauso stark.

"Ach alles gut. Letzter Tag, da bin ich ein bisschen überemotional", versuche ich mich rauszureden.


Wo gehöre ich hin?Where stories live. Discover now