46. Wenn du Fragen hast, stell sie

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Geschockt sehen Phil und Joe mich an.

„Wie meinst du das jetzt genau?", fragt Phil.

„Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mich nicht von euch verabschieden kann", sage ich und fange an zu schluchzen.

„Du musst nur ein Wort sagen und du kannst sofort hier bleiben, Sky, das ist kein Problem! Aber egal, wie du dich entscheidest: es ist kein Abschied für immer!", versichert Joe mir.

Will ich das? Will ich hier bleiben? Und erneut beginnt der altbekannte Konflikt in mir. Wird es mir in London besser gehen? Welche Freunde bin ich eher bereit „aufzugeben"? Und auf wen kann ich in meinem alltäglichen Leben auf gar keinen Fall verzichten?

"Sky?", fragt Joe vorsichtig.

Ich gucke Joe durch den Spiegel verzweifelt an. Ich habe das Gefühl immer jemanden im Stich zu lassen, egal wie ich mich entscheide. Deshalb zucke ich nur mit meinem Schultern. Wir kommen Zuhause an. Anstatt die Treppe hoch ins Bett zu gehen, hält Joe mich am Arm fest: "Hör zu: es ist egal, was alle Leute sagen und was alle wollen. Hierbei geht es jetzt nur um dich! Ich weiß, welche schrecklichen Erfahrungen du hier gemacht hast und es tut mir unfassbar Leid und ich würde all diesen Idioten am liebsten eine reinhauen, aber du musst dir überlegen, ob es dir in London besser geht. Gleichzeitig musst du dir überlegen, ob du hier bleiben willst und diese Menschen weiterhin sehen möchtest. Es geht hierbei wirklich nur um dich! Und wenn du noch Fragen hast oder irgendwas brauchst, um deine Entscheidung zu treffen, dann tu das. Ob du jetzt morgen in den Flieger steigst oder nicht, ist egal! Wichtig ist, dass du die Entscheidung triffst, die dich am glücklichsten machst!"

Ich nehme Joe fest in den Arm, bedanke mich bei ihm und gehe dann in mein Zimmer. Ich weiß, dass ich die restliche Nacht kein Auge zu tun werde. Aus diesem Grund ziehe ich einfach meine schwarze Sportleggins und ein graues Tshirt an. Ich mache mir leise Musik an und fange an die Sachen in meinen Koffer zu packen, die ich heute wieder ausgepackt habe. Dabei fällt mir wieder Noahs Pullover in die Hände. Ich vergrabe mein Gesicht darin und atme seinen Geruch ein. Dadurch, dass ich den Pullover schon so lange habe, riecht es kaum noch nach Noah, aber ich bilde mir ein es noch ein wenig riechen zu können.

Ich ziehe den Pullover über, da er mir auf eine bestimmte Art Sicherheit gibt. Dabei denke ich an Joes Worte: wenn du noch Fragen hast, stell sie. Ich denke, was ich brauche, um meine Entscheidung zu treffen, ist ein Gespräch mit Noah. Ich dachte, dass ich keine Ausreden oder Entschuldigungen von ihm hören will. Aber seit er nach dem Fight von Aiden unterbrochen wurde, merke ich, wie sehr ich mich nach Antworten sehne. Und wer weiß, vielleicht ist es das, was ich brauche um zu wissen, wo ich hingehöre.

Ich greife nach meinem Handy, was auf meinem Bett liegt. Ich öffne WhatsApp und gehe auf den Chat mit Noah. Ich atme tief ein und fange an eine Nachricht zu schreiben. Dann lösche ich die Nachricht wieder und schließe WhatsApp.

Stattdessen öffne ich jetzt meine Kontakte und suche nach Noah. Ich finde seine Nummer und rufe ohne weiter darüber nachzudenken an. Sofort fängt mein Herz an schneller zu schlagen und meine Hände fangen an zu schwitzen.

Es klingelt dreimal bevor ich seine Stimme höre. Seine Stimme beruhigt mich sofort, selbst wenn in seiner Stimme Panik zu hören ist.

"Sky? Ist alles in Ordnung? Ist was passiert?"

"Ich weiß es nicht. Können wir reden?", antworte ich zögerlich.

"Natürlich! Jetzt?"

"Ja, eine andere Möglichkeit haben wir nicht. Kannst du mich abholen?", frage ich noch. Noah stimmt sofort zu und ich höre, wie er bereits aufsteht.

Ich gehe aus meinem Zimmer in Joes Zimmer. Er schläft noch nicht.

"Was ist los?", fragt er sofort.

"Du hattest recht! Ich brauche Antworten. Noah holt mich ab und wir reden."

Ich sehe, dass Joe kurz überrascht ist, aber dann nickt er, steht auf und nimmt mich in den Arm.

"Ich denke, dass ist das Richtige! Und wenn irgendwas ist, ruf an. Ich warte bis du wiederkommst!"

Ich nicke und verabschiede mich. Unten ziehe ich mir meine Sportschuhe an und trete nach draußen. Kaum habe ich die Haustür hinter mir geschlossen, sehe ich Noahs Auto die Straße entlang fahren. Ich habe nur mein Handy und einen Schlüssel in der Bauchtasche von Noahs großem Pullover verstaut und bin auch einfach in dieser Kleidung geblieben.

Als Noah auf unserer Einfahrt hält, steige ich sofort ein. Mich umhüllt sein Geruch und ich atme tief ein. Noah lächelt mich an.

"Hey!", begrüßt er mich. Was ich lächelnd erwidere.

"Hast du einen Wunsch, wo wir hinfahren sollen?", fragt Noah mich. Ich zucke nur mit den Schultern.

Noah fährt los und ich merke, dass es in Richtung eines Parks geht. Und ich habe recht, er parkt direkt an einem kleinen Park. Die Fahrt über haben wir geschwiegen, aber es war nicht unangenehm. Ich habe es genossen endlich wieder in seiner Nähe zu sein.

Wir steigen aus und laufen in den Park.

"Ich war überrascht, als du angerufen hast", sagt Noah.

"Es war auch nicht geplant. Aber falls ich morgen, oder besser heute, abreise, dann brauche ich Antworten", antworte ich.

"Falls du abreist?", fragt Noah.

"Lange Geschichte. Aber das ist jetzt erstmal egal. Ich brauche Antworten. Mein Kopf ist voller Gedanken und Fragen und wenn ich ehrlich bin kreist der Großteil um dich."

"Dann stell deine Fragen."

"Warum hast du mich nach dem Tanz stehen gelassen?", ich weiß nicht wie ich anfangen soll, daher bleibe ich erstmal bei der Frage, die mir zuerst in den Kopf kommt.

"Ganz ehrlich? Weil ich ein Idiot bin! Ich war wirklich überrascht, als ich erfahren habe, dass du die kleine Schwester von Joe und Phil bist. Ich kenne die beiden schon ewig und wusste, dass sie eine kleine Schwester haben. Das wussten alle, aber keine wusste, wer sie war. Aber um ehrlich zu sein, war es mir auch egal. Ja, wir sind durch die Gangs verfeindet, aber wirklich was mit den beiden zu tun hatte ich nie. Die beiden mochten mich noch nie, weil ich in der anderen Gang war und ich des Öfteren schon gegen sie gekämpft habe. Daher war es ein Schock für mich zu erfahren, dass das Mädchen, welches ich geküsst und  mit zum Tanz genommen habe, ihre Schwester ist. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte und bin abgehauen."

Ich habe so eine Antwort erwartet. "Das heißt, dir sind die Differenzen mit meinen Brüdern wichtiger, als ich?", frage ich verletzt. Ich merke, wie meine Augen sich wieder mit Tränen füllen. Aber ich ignoriere es.

Wo gehöre ich hin?Where stories live. Discover now