~~ Nico ~~

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»Nico!«, riss mich Finns lauter, aufgeregter Schrei abrupt aus dem Schlaf. Sofort durchströmte mich eine gute Portion Adrenalin und mein brüderlicher Schutzinstinkt ließ mich aus dem Bett springen, bevor ich abrupt innehielt, als ich meine Mutter und meinen Bruder in der Tür stehen sah. Mit großen Lächeln in den Gesichtern und einem kleinen Kuchen in Moms Händen.
»Happy Birthday to you, happy birthday to you, happy birthday, lieber Nico, happy birthday to you«, beginnen die beiden in völlig schiefer Tonlage zu singen.
Während ich mich noch immer von dem Schock erholte, breitete sich ein wohlig warmes Gefühl in meinem Inneren aus und ich lächelte.
»Danke.« Ich nahm den kleinen Schokoladenkuchen entgegen und lachte über meinen Namen, der mehr schlecht als recht mit Zuckerschrift über den Kuchen gemalt wurde.
»Du musst mein Geschenk aufmachen!«, rief Finn in derselben Lautstärke, wie er mich vorher aus dem Bett gerufen hatte.
»Natürlich! Ich bin schon ganz gespannt!«, erwiderte ich mit übertriebener Aufregung.
Nachdem ich meinen Geburtstagskuchen zur Sicherheit in die Küche gestellt hatte, ließen wir uns auf dem Sofa nieder, damit ich meine Geschenke auspacken konnte.
Finn hielt mir ein wirklich sehr schlecht eingepacktes Geschenk entgegen. Es enthielt eine Kerze mit einem Bild von Finn und mir, dass meine Mutter vor ein paar Wochen geschossen hatte. Darauf hielt ich ihn kopfüber an den Beinen. Wir hatten beide das breiteste und glücklichste Grinsen im Gesicht.
»Wow! Das ist ja unglaublich! Ich liebe es!« Das tat ich wirklich! Und das bedeutete, diese Kerze würde niemals brennen.
Ich zog meinen Bruder in meine Arme, um ihn fest an mich zu drücken.
»Nico, ich bekomm keine Luft mehr!«
Ich ließ locker und da ich wusste, wie sehr er das hasste, presste ich ihm einen dicken Kuss auf die Wange, bevor ich ihn freiließ.
»Ihh, Nico, das ist eklig!«, beschwerte er sich mit einem bösen Blick, während er sich über die Wange wischte.
Ich grinste. »Was? Willst du noch einen?«
Als ich die Lippen spitzte, rannte er sofort aus dem Zimmer.
Meine Mutter und ich tauschten einen Blick, bevor wir beide anfingen zu lachen.
»Du sollst deinen Bruder doch nicht immer so ärgern«, meinte sie tadelnd, doch nicht wirklich ernst, bevor sie mir ihrerseits eine Geschenktüte hinhielt.
»Alles Gute zum Geburtstag, mein Schatz.«
»Danke, Mom.«
Es war ein brandneuer Rucksack. Und er sah nicht billig aus. Meine Mutter hatte vermutlich gesehen, dass mein alter fast auseinanderfiel.
Auch sie nahm ich fest in den Arm. Für diesen Rucksack hatte sie sicher Überstunden gemacht. »Danke, Mom, wirklich.«
»Natürlich, Nico, ich liebe dich, mein Junge. So sehr!«
»Ich dich auch, Mom.«
Wir lösten uns wieder voneinander, doch sie hielt mich weiterhin an der Schulter.
»Es tut mir leid, dass wir heute nichts unternehmen können. Ich habe alles versucht, um die Schicht zu tauschen, aber ...«
»Mom, mach dir keine Gedanken. Ist schon okay. Die Arbeit geht vor. Genauso wie Finns Therapie.« Und das eine musste sein, um das andere bezahlen zu können.
Sie legte mir die Hand an die Wange, als ihr die Tränen in die Augen stiegen. »Du bist wirklich ein starker, junger Mann. Du wirst es weit bringen, da bin ich mir sicher.«
Ich hatte zwar keine Ahnung, was mein Verständnis damit zutun hatte, ein starker Mann zu sein, aber es tat gut, das zu hören.
»Danke, Mom. Aber wir sollten jetzt wirklich schauen, was Finn macht. Ich habe so das Gefühl, dass er sich schon über den Schokoladenkuchen hermacht.«
Und ich hatte recht. Er hatte bereits einen Schokoladenbart, als wir in die Küche kamen.

Nachdem wir den superleckeren Schokokuchen verputzt und Finn wieder sauber bekommen hatten, sah ich, dass es schon fast Mittag war. Mom hatte mich also ausschlafen lassen, auch wenn es sicher nicht einfach war, Finn unter Kontrolle zu halten.
Während Mom sich für ihre Arbeit fertig machte, kümmerte ich mich darum, dass Finn ordentlich aussah. Jeden Samstag verbrachte er den Nachmittag in einer Therapiegruppe für ADHS Kinder. Dort verbrachte er eine schöne Zeit mit anderen Kindern und lernte zugleich, wie er mit seinem ADHS umgehen musste. Oder sowas in der Art. Ganz genau verstand ich es auch nicht, doch es half ihm und das war das Wichtigste. Das war einer der Gründe, warum ich meinen Job ertrug.
Es klingelte.
Verwirrt ging ich zur Wohnungstür und wollte schon die Gegensprechanlage betätigen, als es klopfte. Verwirrt öffnete ich die Tür und staunte nicht schlecht. Denn vor mir stand Dylan. Ich öffnete den Mund, doch kein Wort kam über meine Lippen, so verwirrt war ich über sein plötzliches Auftauchen.
Er schenkte mir ein Lächeln. »Hey.«
»Hey? Was ... was machst du hier? Woher weißt du, wo ich wohne. Bist du etwas so ein Stalk...«, begann ich und brach ab, als er die Hand hob. Mit meinem Tagebuch.
Sofort riss ich es ihm aus der Hand und drückte es an meine Brust, während Panik in mir aufstieg. Plötzlich war mir nur allzu bewusst, was auf diesen Seiten stand und ich verfluchte mich selbst, je damit angefangen zu haben. Und dann blieb für einen Moment mein Herz stehen, als mir wieder einfiel, was ich erst am Vortag hineingeschrieben hatte. Nach meinem mehr als fürchterlichen Abend mit dem Polizeichef.
»Hast du es gelesen?!«, fuhr ich ihn an und er hob sofort die Hände.
»Nein, natürlich nicht! Das geht mich überhaupt nichts an. Ich habe nur auf der "Das Buch gehört"-Seite nach deiner Adresse geschaut, weil ich dir es dir vorbeibringen wollte.«
Misstrauisch starrte ich ihn an, nicht recht wissend, ob ich ihm glauben konnte. Wollte er mir ernsthaft klarmachen, dass er keinen Blick hineingeworfen hatte?
»Ich verspreche dir, ich habe nicht darin gelesen.«
Bevor ich etwas erwidern konnte, kam mir Finn zuvor, der sich an mir vorbeidrückte, um zu schauen, mit dem ich sprach.
»Wer ist das, Nico?«
»Ähm, das ist Dylan, er ... er arbeitet in einem Café in der Stadt.«
»Und warum ist er hier?«
Das fragte ich mich auch, denn mein Buch hätte er mir auch wiedergeben können, wenn ich das nächste Mal ins Café gekommen wäre.
»Ich habe deinem Bruder nur etwas wiedergebracht«, antwortete Dylan an meiner Stelle und schenkte auch Finn ein süßes Lächeln.
Finn, der absolut nicht schüchterne Junge, der er war, strahlte zurück.
»Weißt du, dass Nico heute Geburtstag hat?«
Oh Gott bewahre!
Dylan warf mir einen kurzen Blick zu, bevor er sich wieder an meinen Bruder wandte. »Nein, das wusste ich noch nicht. Danke für die Info!«
Während Finn stolz lächelte, wollte ich am liebsten im Boden versinken.
»Finn, bist du fertig?«, kam es aus der Wohnung hinter uns, bevor Mom auch schon auftauchte. »Oh, Besuch.« Sie klang überrascht, was ich verstehen konnte, denn ich hatte selten Besuch. »Hallo, ich bin Nicos Mutter, mein Name ist Clara, freut mich, dich kennenzulernen.«
Dylan schüttelte die Hand, die meine Mutter ihm hinhielt und lächelte charmant. Er musste langsam einen Krampf bekommen von dem vielen Lächeln! »Freut mich, Sie kennenzulernen!«
»Oh bitte, bleiben wir beim Du. So alt bin ich auch nicht.«
Ich verkniff mir den Kommentar, dass das nichts mit ihrem Alter zu tun hatte.
»So, jetzt müssen wir aber los, sonst kommen wir noch zu spät!«, sagte Mom und drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Bis heute Abend, mein Schatz, genieß deinen Tag!«
Ihr Blick, der zwischen Dylan und mir hin und her wanderte, verriet sofort, was sie damit meinte. Wo blieb der Erdboden, der mich verschlucken sollte?
»Es geht los, Finn.«
Nachdem ihre Schritte im Treppenhaus verklungen waren und die Haustür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, standen wir in peinlicher Stille noch immer zwischen Tür und Angel.
»Dann wohl alles Gute zum Geburtstag«, unterbrach Dylan mit einem schiefen Grinsen die Ruhe.
»Danke. Ähm ... auch dafür, dass du mir das Buch vorbei gebracht hast, das hättest du nicht tun müssen.«
Er zuckte mit den Achseln. »Kein Problem. Als ich gesehen habe, dass du nicht weit vom Café entfernt wohnst, hab ich mir gedacht, dass ich es dir doch gleich nach meiner Schicht heute Morgen vorbeibringen kann.«
»Ja, danke, wirklich. Wenn das alles ...«
»Hast du heute schon was vor?«, fiel mir Dylan ins Wort, bevor ich meinen Satz zu Ende führen konnte.
Ich sah ihn überrascht an. »Nein, nicht wirklich, warum?«
Erneut zuckte er mit den Schultern, während er die Hände in den Hosentaschen vergrub. »Lust, was zu unternehmen? Ich bin fertig für heute und ... hab auch keine Pläne.«
Ich überlegte. Überlegte, ob das eine gute Idee war. Es stimmte. Ich hatte nichts geplant, abgesehen von dem gemeinsamen Abendessen mit meiner Familie heute Abend mit anschließendem Filmmarathon, doch bis dahin ...
»An was hast du gedacht?«, fragte ich nach.
»Keine Ahnung, du bist das Geburtstagskind. Such du dir was aus.« Erneut grinste er frech.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte mich leicht gegen den Türrahmen. »Ich darf entscheiden? Und egal, was es ist, das machen wir?«
»Nun, bei Fallschirmspringen bin ich raus, aber sonst ...«
Ich biss mir auf die Unterlippe, bevor mir eine Idee kam. Ein Ort, an dem früher öfter mal war. Mit meinem Vater.
»Trampolin Park.«
Dylans Worte weiteten sich überrascht. »Ich hab jetzt eher an Kino oder Bowling oder einen Club gedacht, aber okay, wenn es dein Wunsch ist, dann fahren wir zum Trampolinpark.«
Nun war es an mir, überrascht dreinzuschauen, denn ich hatte eine andere Antwort erwartet.
»Ernsthaft? Ohne Scheiß? Du würdest jetzt wirklich mit mir, einem fast Fremden zum Trampolinpark fahren?«, musste ich mich noch einmal versichern. Wir waren zwar beide nicht "alt" aber normalerweise war der Trampolinpark doch eher für Jüngere.
Wieder schenkte er mir sein charmantes Lächeln. »Klar, warum nicht?«
Ich schüttelte nur den Kopf, noch immer etwas sprachlos, bevor ich mich zwang, zuzugeben, dass es nur ein Scherz war.
»Die Reaktion hatte ich jetzt nicht erwartet. Tut mir leid, aber das war ein Scherz, ich habe nicht wirklich das Geld für solche Späße.«
»Ich bezahle den Eintritt. Betrachte es als Geburtstagsgeschenk.«
»Was? Nein, das kann ich nicht annehmen. Wieso solltest du das tun? Korrigier mich, wenn ich falsch liege, aber das ist das gerade einmal das zweite Mal, dass wir mehr als zehn Sekunden miteinander reden.«
Er öffnete den Mund, um zu antworten, doch wurde unterbrochen, als die Tür unseres Nachbarn aufgerissen wurde und er uns mit bösen Blicken fixierte.
»Was soll dieses ewige Gequatsche hier im Flur. Könnt ihr das nicht in der Wohnung machen?«
»Entschuldigung, Herr Johnson«, entschuldigte ich mich sofort, denn wir brauchten wirklich keinen Stress mit ihm. Nicht noch einmal.
Obwohl ich eigentlich nie Leute in die Wohnung ließ, griff ich kurzerhand nach Dylans Arm und zog in über die Türschwelle, um die Tür hinter ihm zu schließen. Doch als er schon ein paar Schritte weiter hinein in unser kleines Zuhause machen wollte, zog ich ihn zurück. Er schien zu verstehen.
»Dann ist es halt erst das zweite Mal. Man muss Dinge unternehmen, um einander kennenzulernen«, kam Dylan auf meine Bedenken zurück.
Und wenn ich niemanden kennenlernen will?, dachte ich, doch sprach es nicht aus. Es war nicht so, dass ich keine Lust hatte. Tatsächlich gefiel mir der Gedanke sehr gut, mir einfach mal alle Sorgen vom Leib zu hüpfen. Allerdings hatte sich an meiner Situation nichts geändert, deshalb wollte ich Dylan wirklich ungern falsche Signale senden.
»Na komm schon! Hast du etwa Angst?«, versuchte Dylan mich zu provozieren, doch ich zog nur verwirrt die Augenbrauen zusammen.
»Angst? Vor was?«
Plötzlich kam er mir ganz nah, sodass sein Mund fast mein Ohr berührte und mir sein Aftershave in die Nase stieg.
»Davor«, begann er, nur um eine dramatische Pause einzufügen, »dass ich besser Trampolin springen kann als du.«
Ich lachte, als sich Dylan wieder zurücklehnte und mit den Augenbrauen wackelte.
»Dein Ernst?«, fragte ich.
»Mein voller! Ich werde dich sowas von platt machen beim um die Wette hüpfen. Ich werde definitiv höher und weiter springen als du!«
Wie alt war er? Sechs?
Noch immer lachend schüttelte ich den Kopf. »Du bist ...«
»Ich bin was?«
Erneut schüttelte ich mit dem Kopf, bevor ich einfach beschloss, nicht auf meine Zweifel zu hören. »Du hast gewonnen, ich geh mich umziehen. Warte hier.«
»Jawohl, Chef!«
Idiot!
Damit Dylan nicht so lange warten musste, beeilte ich mich damit, mir eine passendere Hose einzupacken, bevor ich mir mein Handy und etwas Geld schnappte. Er hatte zwar gesagt, dass er den Eintritt übernehmen würde, aber das fand ich nicht wirklich fair. Dann würde ich eben demnächst auf ein paar Zimtkakaos verzichten.
»Okay, ich bin so weit. Bist du dir wirklich sicher?«
»Ich denke, das könnte echt lustig werden«, erwiderte er nur, öffnete die Tür und bedeutete mir, durchzugehen. »Schönheit vor Alter.«
Mir schoss die Hitze in die Wangen und ich beeilte mich, die Wohnung zu verlassen, bevor er die Röte noch sehen konnte.

Liebes Tagebuch ... (bxb)Where stories live. Discover now