~~ Dylan ~~

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Ich beobachtete Nico aus dem Augenwinkel, wie er sich die Schuhe auszog und die Socken des Trampolinparks drüber und ein Grinsen schlich sich in meine Mundwinkel. Heute Morgen hätte ich nie gedacht, dass ich im Trampolinpark enden würde. Ich hatte gehofft, Nico zu überreden, irgendwas mit mir zu unternehmen, aber das hatte ich mir nicht vorgestellt. Was es jedoch nur besser machte.
Nachdem wir unsere Schuhe und Wertsachen weggeschlossen hatten, standen wir vor den zahlreichen Trampolinflächen, Kletterwänden und allerlei weiterem lustigen Zeug.
»Wo fangen wir an?«, fragte ich Nico ein wenig überfordert von der Auswahl.
»Ich weiß genau wo«, erwiderte er und schenkte mir ein breites, aufgeregtes Grinsen, bevor er mich am Handgelenk packte und hinter sich herzog. Zu einem riesigen Airbag.
Als Nico begann auf eine Erhöhung zu klettern, wurde mir klar, was das hier war. Ich schluckte, doch kletterte trotzdem, ohne zu zögern, hinter ihm hinauf. Erst als ich oben angekommen war und hinunter schaute, bereute ich es. Es war nicht wirklich hoch, ein paar Meter, aber es erschien mir gleich noch höher, als ich hinunterschaute und darüber nachdachte, was Nico gedachte zu tun.
»Bereit?«
»Nein«, gab ich ehrlich zu.
»Hast du etwa Höhenangst?«
Ich nickte nur ganz leicht, den Blick noch immer auf den großen Airbag gerichtet.
»Komm, es macht Spaß, versprochen!«, meinte Nico, doch ich war mir da nicht so sicher.
Da hielt er mir plötzlich seine Hand hin und als ich ihm ins Gesicht sah, lächelte er mich aufmunternd an. Also nahm ich seine Hand, bevor wir gemeinsam Anlauf nahmen und sprangen. Mein Herz rutschte mir in die Hose, als wir nach unten sausten, und klopfte doppelt so schnell weiter, als wir von dem großen Kissen abgefangen wurden.
Während Nico neben mir lachte, versuchte ich noch herauszufinden, ob ich einen Herzinfarkt hatte. Doch als mir klar wurde, dass ich noch lebte, stieg ich in sein Lachen mit ein, bevor wir aus der Landezone kletterten.
»Das war doch ein guter Start«, meinte Nico.

Ich hatte keine Ahnung, wie lang wir schon hier waren, doch es waren sicherlich schon ein paar Stunden. Und ich war völlig fertig. Mein T-Shirt war vollkommen durchgeschwitzt, ebenso wie Nicos, doch davon ließen wir uns nicht abhalten. Wir arbeiteten uns von einer Attraktion zur nächsten vorn und Nico schaffte es sogar, mich dazu zu überreden an den Kletterwänden hochzuklettern. Ich hoffte wirklich sehr, er würde auf wundersame Weise vergessen, dass er zu mir hatte hochklettern müssen, als ich nach einem eigentlich erfolgreichen Aufstieg nach unten geschaut hatte und vollkommen erstarrte war.
Aber abgesehen von diesem einen peinlichen Vorfall hatten wir eine Menge Spaß. Und das beste war der glückliche Ausdruck in Nicos Gesicht und Augen.
»Gott, ich hatte lange nicht mehr so einen Spaß!«, verriet mir Nico, als wir uns für eine kleine Verschnaufpause auf eine der Sitzbänke niederließen.
»Dito!«, erwiderte ich nur und wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, bevor ich die Flasche Wasser entgegennahm, die Nico mir reichte. »Ich brauche dringend eine Dusche.«
»Jetzt schon? Soll das heißen, du kannst nicht mehr?«
»Nein, natürlich nicht! Du musst wissen, ich bin ziemlich ausdauernd.«
Er schenkte mir nur einen vielsagenden Blick aus dem Augenwinkel. »Ach ja?«
Ich trank lieber noch einen Schluck, statt eine Antwort darauf zu geben, und fragte stattdessen: »Also? Wohin jetzt?«
Er zuckte mit den Schultern. »Um ehrlich zu sein, bin ich ziemlich fertig. Aber ich hab einen Mordshunger.«
»Den hab ich auch. Dann lass uns gehen und irgendwo was essen.«
»Klingt gut.«
Nachdem wir die Socken wieder mit den Schuhen getauscht hatten, verließen wir den Trampolinpark.
Ich suchte auf meinem Handy nach etwas Essbarem in der Nähe. »Da ist ein Diner zwanzig Minuten entfernt, in die Richtung, in die wir sowieso müssen. Das soll ganz gut sein.«
»Dann nehmen wir das.«
»Super. Dann bin nun wohl ich dran mit der Fragerunde.«
Dass er mit einem Schlag verschlossener wirkte, überraschte mich nicht wirklich. Ich meine, nach dem, was er in sein Tagebuch geschrieben hatte, gab es sicherlich Dinge, über die er nicht reden wollte. Aber auf die war ich gar nicht aus.
Zumindest noch nicht.
»Okay, Lieblingsfarbe?«
Damit hatte er nicht gerechnet, dem Blick nach zu urteilen, den er mir zuwarf.
»Ähm ... blau?«
»Wie unoriginell.«
»Unoriginell? Was ist denn deine Lieblingsfarbe?«
»Türkis mit einem Schimmer gold.«
»Du willst mich doch verscheißern!«
»Nein, niemals. Mein ganzes Zimmer ist türkis, wirklich!«
Er zweifelte daran. Zurecht, denn es war sehr unwahrscheinlich, dass sich auch nur ein einziger türkiser Gegenstand in meinem Zimmer befand.
»Das glaube ich erst, wenn ich es sehe.«
»Dann musst du mich wohl mal besuchen kommen.« Er sagte nichts dazu und ich beließ es erstmal dabei. »Okay, Lieblingstier?«
Er überlegte kurz. »Axolotl.«
»Ein was?«, fragte ich sofort nach.
Nico grinste triumphierend. »Was? Dieses Mal zu originell?«
»Das Wort hast du dir gerade ausgedacht!«
»Nein, google es. Es existiert.«
Das machte ich prompt und tatsächlich, es war ein echtes Tier. Ein Lurch, um genau zu sein.
»Siehst du? Und er ist echt süß«, meinte Nico nach einem Blick auf mein Handy.
Genau wie du. Es lag mir auf der Zunge, doch ich sprach es nicht aus.
»Okay, akzeptiert. Als nächstes ... Lieblingsessen?«
»Knoblauchbrot.«
Ich lachte. »Gut zu wissen. Lieblingsgetränk? Nein, warte, dumme Frage. Lieblingsland?«
»Keine Ahnung, kenne nur unseres.«
»Hund oder Katze?«
»Hund.«
»Was sind deine Hobbys?«
»Keine Ahnung, hab nicht wirklich viel Zeit für Hobbys. Früher habe ich mal Fußball gespielt. Das Einzige, was ich jetzt ab und zu mache, ist Zeichnen.«
»Ach ja? Was zeichnest du denn?«
»Meistens Comics.«
»Wirklich? Das ist ja cool! Das musst du mir mal zeigen.«
Nico lachte, wie mir schien etwas nervös. »Ich weiß nicht, ob sie gut genug sind, um sie jemanden zu zeigen.«
»Das kann ich dir dann ja sagen.«
»Mal sehen.«
»Du gehst noch zur Schule, richtig?«
Er nickte. »Letztes Jahr.«
»Und wie soll es danach weitergehen?«
Nico seufzte. »Um ehrlich zu sein, keine Ahnung. Ich bin leider nicht wie du. Ich habe meine Bestimmung noch nicht gefunden, aber ich möchte studieren.«
»Schon irgendeine Idee in welche Richtung?«
»Kunst wäre cool, aber es ist nicht wirklich etwas vielversprechendes.«
Ich nickte, denn wenn man in diese Richtung erfolgreich werden wollte, brauchte man entweder herausragendes Talent oder die richtigen Kontakte.
»Und du wohnst mit deiner Mutter und deinem kleinen Bruder zusammen?«
Nico zögerte. Ihm schien es wirklich nicht so leicht zu fallen, Dinge über sich preiszugeben. »Ja, mein Vater ist nach der Geburt meines Bruders abgehauen, falls du das wissen wolltest.«
»Das tut mir leid.«
»Mir nicht. Er ist ein Arschloch.«
Darauf wusste ich nichts zu erwidern und so liefen wir ein Stück schweigend, bevor ich beschloss, die Stille zu brechen, um die gute Stimmung wieder herzustellen.
»Wehe du verrätst jemanden, was heute an der Kletterwand passiert ist! Du musst mir schwören, das mit ins Grab zu nehmen!«
Er lachte. »Ich würde es ja schwören, wenn nicht die Möglichkeit bestünde, dass ich es eines Tages als Druckmittel gebrauchen könnte.«
»Als Druckmittel? Für was denn?«
Er zuckte mit den Schultern. »Wer weiß.«
»Na gut, dann werde ich bis dahin zittern und bangen.«
Nico begann sofort zu lachen. »Zittern und bangen?«
»Na klar! Wer weiß, wozu du dieses Wissen missbrauchen wirst! Wie dem auch sei - nächste Frage: Lieblingsfilm?«
Und so ging das weiter. Lieblings-dies, Lieblings-das. Von Lieblingsfilm, über Lieblingsbuch, hin zu Lieblingsschulfach, wodurch wir nochmal auf das Schulthema zurückkamen. Ich erfuhr zum Beispiel, dass er eine Niete in Chemie und Biologie war, während er erfuhr, dass meine Noten in Kunst und Englisch genauso unterirdisch waren.
»Das kann ich gar nicht verstehen«, meinte ich kopfschüttelnd. »Ich fand Chemie und Bio immer ziemlich einfach. Im Gegensatz zu Englisch und Kunst hat es zumindest Sinn ergeben!«
»Sinn?«, fragte er sofort. »Wo liegt da Sinn in diesen unendlichen Formeln und Verbindungen?«
Ich lachte nur, bevor mein Blick nach vorn ging, und ich sah, dass wir der Bushaltestelle immer näher kamen. Die Zeit war wirklich schnell vergangen, dabei hatte ich gar nicht so viele Fragen gestellt. Gut, ich hatte auch zugelassen, dass Nico alle meine Fragen zurückstellte.
»So, wir sind gleich an der Haltestelle, sprich meine Fragezeit ist fast vorbei. Zeit für eine letzte, intimere Frage.«
Er versteifte sich, kaum, dass die Worte meinen Mund verlassen hatten.
»Bist du schwul?«
Nico sah mich an. Mit einer Mischung aus Erleichterung, Belustigung und Besorgnis. Eine wirklich seltsame Mischung. Während sich seine Lippen zu einem lockeren Grinsen verzogen, blitzte doch etwas Sorge in seinen Augen auf.
»Ist dir das nicht schon klar?«, fragte er mit leicht nervöser Stimme.
»Ich will einfach Gewissheit.«
Er schaute mich noch einen langen Moment nur an, bevor er erwiderte: »Ja, bin ich, aber häng es bitte nicht an die große Glocke. Zwar versuche ich nicht, es unter allen Umständen geheimzuhalten und meine Mutter weiß es, aber es muss nicht jeder wissen, verstehst du?«
Ich nickte. Natürlich verstand ich. Auch ich war mal an diesem Punkt. Hatte Angst vor den Reaktionen anderer. Teilweise zurecht, denn durch mein Outing hatte ich durchaus Freunde verloren und obwohl er es schlussendlich akzeptiert hatte, war die Beziehung zu meinem Vater distanzierter als zuvor.
»Keine Angst, es ist ganz allein deine Entscheidung, wem du es erzählst.«
»Danke.«
»Nicht dafür.«
Die Fahrt zurück war recht ruhig, denn langsam kroch uns die Müdigkeit in die Glieder. So viel Spaß das Ganze gemacht hatte, so auspowernd war es gewesen.
Nico schien sogar fast einzuschlafen, doch bevor er seinen Kopf auf meiner Schulter ablegen konnte, wie ich es mir insgeheim wünschte, waren wir leider schon da.
»Danke für den tollen Tag. So viel Spaß hatte ich schon lange nicht mehr«, meinte er, als wir vor seinem Wohnhaus ankamen.
»Happy Birthday – ich denke, das haben wir geschafft.«
»Ich würde dir trotzdem gern meinen Eintrittspreis wiedergeben, denn ...«
»Ich werde es nicht annehmen«, unterbrach ich ihn sofort. »Aber wenn es dir so wichtig ist, dann lass uns nächste Woche wieder etwas unternehmen und da zahlst du.«
Er überlegte kurz, zögerte, bevor er nickte.
»Okay, einverstanden. Was hast du im Kopf?«
»Nun, heute hast du entschieden, also bin ich dieses Mal dran. Ich werde mir etwas überlegen. Also gib mir am besten deine Nummer, damit ich dir meine Entscheidung mitteilen kann.«
Er schmunzelte und ich konnte mir schon denken warum.
»Das könntest du mir auch mitteilen, wenn wir uns im Café sehen.«
»Könnte ich, aber ich hätte wirklich gern deine Nummer.«
»Du bist ein ziemlich ehrlicher Mensch, oder?«
Ich nickte sofort, denn ich hasste Lügen. Ich konnte es absolut nicht ausstehen, wenn mich jemand belog, also tat ich es selbst auch nicht.
Nico hielt mir die Hand hin und nachdem ich einen Moment verwirrt war, zog ich mein Handy aus der Tasche und gab es ihm, damit er seine Nummer einspeichern konnte.
»Nochmal danke, Dylan, wirklich«, bedankte er sich erneut, als er mir das Telefon zurückgab, »Ich sollte jetzt hochgehen. Meine Mom wartet sicher schon.«
»Natürlich, wir sehen uns.«
Etwas peinlich berührt schauten wir einander an und ich fragte mich, wie wir uns am besten verabschieden sollten. Ein Winken? Ein Handschlag? Eine Umarmung?
Nico schenkte mir ein leichtes Lächeln. »Bis bald.« Damit drehte er sich um, öffnete die Tür und ließ mich nach einem kurzen Schulterblick auf dem Bürgersteig stehen.
Noch einen Moment lang schaute ich ihm nach, nachdem die Tür bereits zugefallen war, bevor ich meine Hände in meinen Hosentaschen vergrub und mich auf den Weg zur Bahn machte, die mich nach Murfreesboro bringen würde.
Ein Lächeln stahl sich in meine Mundwinkel, als ich an die letzten Stunden dachte, und es war die ganze Fahrt über nicht mehr wegzubekommen.


Liebes Tagebuch ... (bxb)Where stories live. Discover now