~~ Nico ~~

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Ich rannte, so schnell ich konnte, um wegzukommen, und erkannte erleichtert, dass Dylan mir nicht folgte. Doch das trug nicht allzu viel zur allgemeinen Beruhigung bei.
Scheiße!, fluchte ich innerlich, als ich langsamer wurde und vom Rennen zum Gehen überging. Scheiße, scheiße, scheiße!
Der Abend lief so gut und dann ...
Ich schlug verzweifelt die Hände vors Gesicht. Das konnte doch nicht wahr sein, oder? Der großzügige Unbekannte aus dem Club war Dylans Cousin? Das war doch wohl ein ganz mieser Scherz des Schicksals, oder? Ich meine, wie groß war die Wahrscheinlichkeit?
Doch was auch immer es war. Ich stecke nun wahrhaftig in der Scheiße. Ich vermutete stark, dass Dylans Cousin ihm in der Sekunde erzählte, woher er mich kannte.
Tränen traten mir in die Augen, als ich mir vorstellte, wie Dylan wohl darauf reagieren würde.
Scheiße!
Es lief doch alles so gut. Zwischen uns lief es so gut und morgen war das letzte Mal, wo ich in den Club ging. Dann wäre es vorbei gewesen!
Scheiße!
Ich konnte nicht aufhören, innerlich zu fluchen, als ich spürte, wie mir die erste Träne über die Wange lief. Bevor ich mich aufhalten konnte, schlug ich mit der Faust mit aller Kraft gegen die Mauer neben mir.
Böser Fehler. Ich zischte, als ein stechender Schmerz meinen Arm hinauffuhr und schüttelte die Hand, in der Hoffnung, dass der Schmerz dadurch verschwand.
»Scheiße!«, fluchte ich dieses Mal laut, bevor ich mich an die Wand lehnte und daran hinabrutschte. Das war's. Der Traum von einer normalen Beziehung, der Traum von Liebe war vorbei. Von einem auf den anderen Moment. Dylan würde nichts mehr mit mir zutun haben wollen, sobald sein Cousin ihm alles erzählte. Er würde mich verabscheuen.
Ich vergrub mein Gesicht an meinen Knien, versucht, die Tränen so zurückzuhalten.
Scheiße!

»Nico Schatz, du solltest wirklich etwas essen«, meinte meine Mutter besorgt, doch ich drehte mich nicht herum und schaute auch nicht zu ihr hinüber.
»Ich habe keinen Hunger«, gab ich nur die gleiche Antwort, wie vor ein paar Stunden, als sie mich zum Frühstück holen wollte. Doch ich hatte wirklich keinen Hunger. Mir war eher schlecht und wenn ich an Essen dachte, dann wurde das Gefühl nur noch stärker.
Ich hörte, wie ihre Schritte näher kamen und sie sich auf dem Bett neben mir niederließ, bevor ihre Hand über meine Schulter strich.
»Was ist los, mein Schatz? Hast du dich mit Dylan gestritten?«
Nein, gestritten hatten wir uns nicht. Es war schlimmer als das. Doch ich konnte ihr unmöglich erzählen, was passiert war, also sagte ich nichts und nach ein paar langen Sekunden des Wartens seufzte sie ergeben und ließ mich wieder allein. Erneut musste ich kämpfen, um sie Tränen zurückzuhalten.
Was war ich nur für ein Idiot! Ein Idiot dafür, dass ich diesen Job erst angenommen hatte, ein Idiot dafür, dass ich mich auf Dylan eingelassen, ja gar in ihn verliebt hatte!
Verdammt, ich hatte mit seinem Cousin geschlafen! Und der hatte mich auch noch dafür bezahlt! Und das während wir uns schon kannten.
Dylan hatte seit dem vergangenen Abend bereits mehrfach versucht, mich zu erreichen, doch ich hatte keinen seiner Anrufe entgegengenommen. Ich wollte seine Abscheu nicht hören. Es würde nur noch mehr wehtun!
Als das Klingeln heute früh dann weiterging, hatte ich das Handy kurzerhand ausgeschalten.
Selbst wenn sein Cousin ihm nicht sofort alles erzählt hatte, weil er nicht zugeben wollte, dass er solch einen Ort besuchte, hatte ich trotzdem keine Ahnung, was ich zu Dylan sagen sollte. Wie ich meine Reaktion erklären sollte. Ich wollte ihn nicht anlügen. Mir keine Lüge ausdenken, die irgendwann auffliegen würde.
Nein, für den Fall, dass Dylan tatsächlich noch nicht wusste, was Sache war, wollte ich den heutigen Abend hinter mich bringen und ihm dann reinen Wein einschenken. Für den höchst unwahrscheinlichen Fall, dass er mich verstand und nicht sofort in die Wüste schickte. Ich hielt verzweifelt an diesem kleinen Fünkchen Hoffnung fest, denn ich wollte ihn nicht verlieren. Nicht, nachdem ich ihn erst gefunden hatte.

Als es Zeit wurde, aufzubrechen, rollte ich widerwillig aus meinem Bett, um mich fertigzumachen. Meine Mutter war noch mit Finn unterwegs, weshalb ich ohne ein Verhör die Wohnung verlassen konnte.
Nur noch ein einziges Mal. Heute ist das letzte Mal! Nie wieder!, beschwor ich innerlich, kurz bevor ich den Club betrat.
Ich erwiderte keine der Begrüßungen, denn ich wollte den Abend nur hinter mich bekommen. Ich würde ein letztes Mal auf dieser Bühne tanzen und nach der Show würde ich das Geld abholen und ein für alle Mal von hier verschwinden.
»Wir machen heute die Engel-Teufel-Nummer nach der Polizeinummer«, ließ mich Ricky wissen und ich nickte. Während drei der anderen Tänzer die Show mit der Gentlemen-Nummer eröffneten, machte ich mich für die Engel-Teufel-Nummer fertig.
»Bereit?«, fragte Kenny, als die Polizeinummer durch war, und wieder nickte ich nur.
Die Scheinwerfer blendeten, als ich auf die Bühne trat, doch ich gewöhnte mich schnell daran und konzentrierte mich auf meinen Part. Während ich sinnlich die Hüften kreisen ließ, wanderte mein Blick durch das Publikum. Heute war der Club deutlich besser besucht, als am Donnerstag.
Ich stockte für einen Moment in der Bewegung, als mir ein bekanntes Gesicht entgegenschaute, doch ich zwang mich, weiterzumachen.
Warum war er hier? Wollte er wieder einen Termin mit mir? Oder wollte er mich vielleicht zur Rede stellen?
Was auch immer es war, ich wollte nicht mit ihm reden.
Ich wandte den Blick von Dylans Cousin ab und tanzte weiter im Takt der Musik, doch konnte nicht verhindern, dass mein Blick doch wieder zu ihm wanderte.
Fehler.
Dieses Mal stockte ich nicht, sondern erstarrte mitten in der Bewegung. Denn da war eine andere Person neben Dylans Cousin. Eine Person, die mich genauso schockiert anstarrte, wie ich sie.
Nein, das durfte nicht sein! Nein, nein, nein!
Ich spürte eine Hand an meinem Rücken, die mich daran erinnerte, dass ich auf der Bühne stand, doch ich konnte mich nicht bewegen.
Bis Dylan sich umdrehte.
Ohne Zögern drehte ich mich ebenfalls um und rannte von der Bühne. Ohne darüber nachzudenken, denn hätte ich nachgedacht ... nun, dann hätte ich mich trotzdem in Schwierigkeiten gebracht.
Ich versuchte gar nicht erst, mich durch die Menschenmenge im Club zu kämpfen, sondern rannte gleich durch die Umkleide, aus dem Hintereingang und um das Gebäude herum.
»Dylan!«, rief ich, als ich an der Straße ankam. Er rannte nicht, doch er blieb auch nicht stehen, als ich nach ihm rief. Doch so einfach ließ ich ihn nicht entkommen. Also rannte ich ihm hinterher, um ihn am Arm zurückzuhalten.
»Warte, ich ... ich ... kann das erklären!«
»Ich glaube nicht, dass das Erklärung braucht«, gab Dylan etwas kühl zurück. Er schien noch immer schockiert zu sein. Doch ich konnte es ihm nicht verdenken. Er hatte seinen Freund gerade halbnackt auf einer Bühne vor lauter Männer tanzen sehen.
Ich schluckte. »Ich ... ich will dir erklären, warum.«
Dylan entzog mir seinen Arm, doch er blieb stehen und sah mich abwartend an.
»Ich ...«, begann ich, doch vergaß mit einem Mal alles, was ich sagen wollte. All meine Gründe, warum ich auf dieser Bühne stand.
»Das ist also die Spielhalle, in der du arbeitest? Weißt du, ich hab mir was anderes vorgestellt, als du mir gesagt hast, dass du gern tanzt.«
»Ich weiß, ich ... es tut mir leid, dass ich dich angelogen habe. Ich ... ich wusste nicht, wie ich es dir sagen sollte. Das ist nichts, worauf ich stolz bin und niemand weiß hiervon. Es ... wir haben es nicht einfach, meine Mom, Finn und ich. Das Geld ist eigentlich fast immer knapp und sobald ich alt genug war, habe ich nach Jobs gesucht, doch ... es ist gar nicht so leicht, etwas zu finden, was mit den Schulzeiten vereinbar ist. Vor allem, wenn man minderjährig ist. Ich ... wir brauchten das Geld und diesen einen Abend habe ich diesen Typen kennengelernt und er hat mich hergebracht und ... ich hätte nie darauf eingehen sollen, aber ich war verzweifelt. Finn hatte gerade seine Diagnose bekommen, meine Mom einen ihrer besser bezahlten Jobs verloren, wir ... wir brauchten Geld und dieser Club schien in dem Moment der einzige Hoffnungsschimmer zu sein. Und lange Zeit habe ich als das gesehen, einfach nur als notwendiges Übel. Aber ... ich kann es nicht mehr. Tatsächlich ist heute der letzte Tag, an dem ich hierher kommen wollte. Nur noch mein Geld abholen und dann nie wiederkommen. Du musst mir glauben. Ich habe die ganze letzte Woche damit verbracht nach einem neuen Job zu suchen.«
Etwas außer Atem von meiner Rede sah ich ihn flehend an. Ich konnte ihn nicht verlieren. Er musste mich verstehen!
Dylan schwieg, während er mich eindringlich betrachtete.
»Bitte, Dyl! Ich ... du musst mir glauben. Ich weiß, es muss ein Schock gewesen sein, mich da oben zu sehen, aber ... kannst du mich verstehen?«, ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen, obwohl ich hart dagegen ankämpfte.
»Ich verstehe, Nico. Ich verstehe deine Worte, auch wenn ich sie gerade nicht ... wirklich verarbeiten kann. Du hast dich erklärt und jetzt ... brauche ich erstmal Zeit, um über das nachzudenken.«
Ich nickte. Natürlich. »Okay, aber Dylan, ich ...« liebe dich. Ich schluckte die Worte herunter, denn es kam mir falsch vor, sie ihm jetzt zu sagen. »Ich möchte dich nicht verlieren.«
Ein Glitzern trat in seine Augen, bevor er den Kopf senkte.
»Ich muss darüber nachdenken«, meinte er mit leicht dünner Stimme, bevor er sich abwandte und davonging. Verzweifelt schaute ich ihm hinterher, doch ließ ihn gehen.
»Scheiße«, fluchte ich leise und wollte mit den Fingern durch meine Haare fahren, doch erinnerte mich rechtzeitig daran, dass ich noch meine Perücke trug.
Noch einen langen Moment blieb ich einfach dort stehen und sah Dylan hinterher, auch nachdem er aus meiner Sicht verschwunden war, bevor ich mich dazu zwang, wieder in den Club zu gehen.
Mein alles andere als zufriedener Chef erwartete mich bereits.
»Was zum Teufel war das?!«, fuhr er mich an.
»Tut mir leid, Chef. Mir ist schlecht geworden und ich wollte mich nicht auf der Bühne übergeben«, log ich prompt, in der Hoffnung, mich somit aus der Misere zu ziehen.
»Du bist immer noch krank?«, fragte er ungläubig und zornig zugleich.
Ich zuckte mit den Schultern. »Anscheinend.«
Mein Chef knurrte aufgebracht. »Dann geh heim und werd endlich gesund! Ich kann es mir absolut nicht leisten, dass du einem meiner Kunden vor die Füße kotzt.«
Er wandte sich schon zum Gehen, als ich ihn nochmal zurückhielt.
»Be-bekomm ich noch mein Geld?«
Mit beinah noch wütenderem Gesichtsausdruck drehte er sich wieder um. »Ganz schön gefährlich, mich das zu fragen trotz der ganzen Fehlzeiten in letzter Zeit! Für heute Abend zieh ich dir hundert Euro ab.« Er griff in seine Tasche, woraus er einen Bündel Geldscheine hervorholte, wovon er ein paar Schein abzog. »Hier und jetzt seh zu, dass du gesund wirst!«
Ich bemühte mich, die paar Scheine aufzufangen, die er mir entgegenwarf, bevor ich sie eilig in die Tasche steckte und mich dann so schnell wie möglich umzog, um hier wegzukommen. Ein für alle Mal.
Nachdem ich Kostüm und Perücke losgeworden war, zog ich mir eilig meine eigenen Kleider wieder an und packte die wenigen Dinge zusammen, die mir gehörten. Fertig damit war ich mehr als bereit dazu, mich von dieser Höllenort zu verabschieden. Ich zog mir die Kapuze meiner Jacke über den Kopf und verließ ohne ein letztes Wort das Gebäude.
»Hast du es ihm erzählt?«, ertönte eine bekannte dunkle Stimme hinter mir, als ich an die Straße trat.
Ich schloss einen Moment die Augen, bevor ich mich zu Dylans Cousin umdrehte, der mit einer Zigarette zwischen den Lippen an der Wand lehnte.
»Was?«, fragte ich, obwohl ich genau wusste, was er meinte.
Er stieß sich von der Wand ab und kam auf mich zu.
»Dass ich dich gevögelt habe. Gegen Geld.«
Ich schluckte, doch wandte meinen Blick nicht ab. »Nein.«
Er zog ein letztes Mal an dem Lungenkrebs-Stängel, bevor er ihn auf den Bürgersteig fallen ließ und austrat.
»Gut, denn das braucht mein kleines Cousinchen nicht zu wissen, ist das klar?«
Er hatte es Dylan also ebenfalls nicht verraten, denn er wollte anscheinend nicht, dass dieser davon wusste.
»Du bist schuld, dass Dylan heute hier war, oder?«
Er zuckte mit den Schultern. »Er ging mir heute den ganzen Tag auf die Nerven mit seinen Fragen, weil du ihn anscheinend ignoriert hast. Ich wollte meine Ruhe zurück, also habe ich ihm geschrieben, wo er seine Antworten findet.«
Obwohl ich die ganze Schuld auf ihn schieben wollte, um meine Wut auf ihn zu konzentrieren, konnte ich es nicht, denn es war ganz allein meine Schuld und ich war einzig und allein wütend auf mich. Zugegeben, ich war auch wütend über meinen Chef, aber das war eher nebensächlich.
Ohne eine Antwort wandte ich mich ab.
»Wie gesagt, Dylan braucht das nicht zu wissen, verstanden? Sollte das mit euch übrigens nichts mehr werden, komm ich gern auf dich zurück.«
Ich biss die Zähne zusammen, um nichts darauf zu erwidern, während ich mich zwang, einfach weiterzugehen.
Heim. Wo ich mich in mein Bett werfen würde, um mich zu bemitleiden.

Liebes Tagebuch ... (bxb)Where stories live. Discover now