21.02.18, 01:46 Uhr

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Mittwoch, 21. Februar 2018, 01:46 Uhr.

Kälte frisst sich durch meine Kleidung, einsame Schneeflocken fallen vom Himmel, Kristalle, die auf meiner Wange brennen und mit meinen Tränen verschmelzen.
Meine Schritte hallen wider, wider, wider. Die grauen Hausfassaden werfen den Hall zurück, spielen Ping Pong mit den Klängen von Sohlen auf Asphalt.

Ich laufe hindurch, durch die Blase aus Geräuschen, welche ich verursache.

Ich laufe und laufe, und höre immer nur die  Stimme meines Bruders, höre immer nur sein Lachen, immer nur seine Wutausbrüche.
Ich höre, höre, höre ihn.
Bekomme ihn nicht aus meinem Kopf, er steckt fest, hat sich eingebrannt, sein Geruch, der Klang seiner Stimme, wie er aussieht, wenn er nachts Käsekuchen backt. Seine Augen, seine Wimpern, sein Sarkasmus, sein Humor.

Mein Bruder hat mich geformt, hat mich gehalten wie flüssiges Wachs zwischen seinen Fingern, immer darauf bedacht, mich nicht zu zerstören. Auf mich aufzupassen. Mich festzuhalten. Mich aufzufangen, wenn ich falle.

Und jetzt falle, falle, falle ich und er ist nicht da, er ist nirgends, er sitzt nicht am Boden und legt seine schützenden Arme um mich, trocknet meine Tränen und wiegt mich hin und her.

Er taucht nicht auf den Grund meines Meeres aus Trauer, er nimmt nicht meine Hand und holt mich aus den tiefblauen Wogen.

Stattdessen lässt er zu, dass Wellen der Verzweiflung über mir zusammenbrechen und ich in schäumendem Schmerz zu ertrinken drohe.

Denn er ist fort.
Und gleichzeitig ist er so nah, so nah bei mir, in mir, sein Geist klebt an mir und an unserer Wohnung, an den Schränken und den Bildern und der Fernsehzeitung und den Kaffeetassen und dem Butterkäse, der im Kühlschrank vergammelt, weil immer nur er ihn gegessen hat.
Und weil weder Mum noch ich es lassen können, welchen zu kaufen.

Als ich mein Ziel erreicht habe, ziehe mich an geschwungenem Metall hoch, klettere über das große Tor.

Die Bewegungen sind einstudiert, alles passiert automatisch. Meine nächtlichen Spaziergänge sind zu einer Routine geworden, von der ich nicht ablassen kann.
Ich gebe mich dem Sog hin, um ihn zu erreichen, versuche ihm Nahe zu sein.

Es kommt mir vor, als würde er mich rufen, seine Hand, die er nach mir ausstreckt und die ich nur zu gern ergreifen möchte.
Dabei ist das schwachsinnig. Denn ich habe ihm sein Leben genommen.
Und Leichen rufen nicht nach ihren Mördern.

Kies und totes Laub raschelt unter meinen Schritten, der Mond malt Schatten auf den Weg, die Nacht ist gefleckt und ungleichmäßig und unruhig, alles in Bewegung, stetige Veränderung.
Aber an seinem Grab ändert sich nichts.
Die Zahlen bleiben die selben; und die Wildheide, die Strauchtomaten, der Bonsai. Sein Name. Sein Todestag. Seine Geschichte.

Ich starre auf den Grabstein, auf die goldenen Letter, ich sauge die Inschrift in mich auf, als würde ich dadurch begreifen können.
Doch das kann ich nicht.
Ich werde es nie glauben können.
Ich werde niemals in den Spiegel sehen können, ohne daran zu denken, dass ich von Angesicht zu Angesicht mit einer Mörderin stehe.

Unvergessen.
Jacob Williams.
* 17.08.2000  ✝️23.05.2016

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