8. Kapitel - Henry

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Die Tür flog auf und Nael kam ins Zimmer geeilt. Ohne auch nur ein Wort verlieren zu müssen wusste ich, was das zu bedeuten hatte.

Kurzerhand hob ich Erin hoch und folgte Nael durch die Tür nach draußen in den Gang. Von unten hörte ich laute Stimmen und Schreie.

„Hier entlang", zischte Nael und schob ein großes Gemälde zur Seite. Dahinter befand sich eine schmale Treppe und ohne zu zögern, folgte ich Nael die Stufen herab.

„Was ist passiert?", fragte ich beim Gehen und war froh, als Nael mir Erin abnahm, sodass ich lediglich ihre Hand hielt. Ich befürchtete nämlich, dass ich sie noch länger tragen würde müssen.

„Yilva hat vor dem Palast gewartet, zusammen mit deinem Vater und William. Liron hat nicht eine Sekunde gezögert, sondern ist sofort zum Angriff übergegangen. Wir konnten noch rechtzeitig eingreifen, sodass wir die Königin und die Hüter ins Innere bringen konnten", erzählte Nael und drückte eine Tür am Ende der Treppe auf.

„Liron hat geschrien, dass er dafür sorgen würde, dass die Hüter ihre gerechte Strafe erhalten werden und Yilva ebenfalls, weil sie sich gegen die Bewohner Lavandias stellt und die Hüter schützt. Keine Ahnung, was er damit meint", sprach er weiter und schließlich waren wir am Ende eines langen Ganges angekommen.

Eine schmale Wendeltreppe führte nach oben und Nael gab mir Erin zurück.

„Folg der Treppe bis ganz nach oben. Bei der dritten Abzweigung biegst du nach links ab, gehst weitere drei Abzweigungen einfach weiter geradeaus. Bei der vierten wieder links, bis du an einer Tür ankommst. Geh hindurch, ich versuche dir jemanden zu schicken, der dir hilft, hier wegzukommen!"

„Nael... vielleicht kann ich irgendwie..."

„Nein", unterbrach Nael mich sofort und sah mich ernst an.

„Williams Anweisung war deutlich. Erin und du sollt euch in Sicherheit bringen, bis Erin aufwacht und Antworten liefern kann. Solange versuchen wir die Nymphen in Schach zu halten. Du kannst nichts tun", sprach er weiter und ich nickte.

„Los! Lauf!"

Ich tat, was Nael sagte und lief, schweren Herzens, die Treppe nach oben. Immer und immer wieder ging ich in Gedanken die Anweisungen durch.

Schwer atmend trat ich schließlich ins Licht und merkte jetzt erst, dass mir Tränen über die Wangen liefen.

Schweratmend sah ich mich um.

Ich stand in einer schmalen Gasse und sofort wusste ich, dass der Geheimgang bis in die Stadt zu führen schien. Und obwohl die Palastmauern ein Stück entfernt waren, hörte ich die Schreie und das Klingen von Schwertern.

Es war wirklich passiert. Der Krieg, gegen den wir solange ankämpften, war wirklich ausgebrochen. Weil wir versagt hatten.

„Hier entlang!"

Ich zuckte erschrocken zusammen und sah Zara an, die in einem dunklen Mantel eingehüllt vor mir aufgetaucht war.

„Zara... du hilfst uns?", fragte ich und schluckte.

Die Nymphe sah mich traurig an.

„Natürlich... ich vertraue dir Henry und ich kann und will nicht glauben, dass du es gewesen bist, der Lenori getötet hat. Das... das kann nicht stimmen. Bitte, versprich mir, dass das nicht stimmt", sagte sie und ich sah sie einfach nur an.

„Ich... wer sagt das? Zara, ich... ich schwöre dir, ich hätte Lenori nie auch nur irgendwas getan. Sie war meine beste Freundin", sagte ich und traurig lächelte Zara.

„Ich weiß und deshalb glaube ich dir. Ich weiß, wie Lenori für dich empfunden hat und... diese Elfen müssen lügen", sagte sie und seufzte leise.

„Was... Zara, was ist geschehen?"

„Nicht hier... komm, wir müssen zum Waldrand. Thanatos wartet dort und bringt euch in den Dunkelwald", sagte sie und lief los.

Ich folgte ihr und drückte Erin dabei fest an mich, auch wenn ich müde war und das Gefühl hatte, jeden Moment zusammenzubrechen.

Wir eilten durch die leeren Straßen und Gassen und ich betete dafür, dass den Bewohnern der Stadt nichts geschehen würde, oder sie sich rechtzeitig in Sicherheit bringen würden.

Als wir schließlich am Waldrand ankamen, trat Thanatos aus dem Schatten der Bäume.

„Steig auf Henry. Wir müssen euch in Sicherheit bringen", sagte er und kniete sich nieder.

Ich nahm meine letzten Kraftreserven und hievte mich, mit Erin auf dem Arm, auf seinen Rücken.

„Ich versuche so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen", versprach Zara mir und müde nickte ich.

„Zara... pass bitte auf dich auf", murmelte ich und kämpfte gegen das Bedürfnis an, die Augen zu schließen.

Ich musste wachbleiben und Erin halten. Ich durfte sie nicht loslassen. Unter keinen Umständen.

„Du auch auf euch..."

Ich wusste nicht, wie ich in das Lager aus Heu und Stroh gekommen war, in dem ich wach wurde. Aber Erleichterung machte sich in mir breit, als ich Erin dicht neben mir liegen sah und sofort drückte ich sie an mich.

Wie lange würde sie noch in diesem Zustand bleiben? Wann würde sie endlich zurückkommen?

„Bitte Erin... ich brauche dich...", murmelte ich und drückte ihr einen Kuss aufs Haar.

„Junger Hüter... hier, etwas zu essen und zu trinken", sagte eine Zentaurin und servierte mir einen gebratenen Fisch mit Reis und dazu Wasser.

„Du musst etwas essen, damit du bei Kräften bleibst", sagte sie dann und wandte sich ab.

Obwohl ich wusste, dass sie recht hatte, konnte ich nichts essen. Stattdessen setzte ich mich vorsichtig auf und sah mich um.

Wir waren im Lager der Zentauren und obwohl wir hier wahrscheinlich sicherer waren, als im Zentrum von Lavandia, war das falsch.

Wir hätten nie diesen Spiegel befragen dürfen. Ich hätte nie zulassen dürfen, dass Erin das tut. Ich bin schuld. Ich bin schuld, dass das alles gerade passiert!

„Henry..."

Ich sah Thanatos an und sein Blick verriet mir, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

Avaglade - Schicksal von Lavandia (Buch 3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt