Kapitel 2 "Geisterseher"

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Es war schon beinahe dunkel, als ich aus dem Haus ging. Ich war froh darüber, dass wir nun unser eigenes Bandhaus hatten. Früher hatte Mum mich viel besser kontrollieren können, doch jetzt konnte ich ausgehen, wann immer ich wollte. Rydel und Ellington lungerten im Wohnzimmer herum, während Riker und Rocky in der Garage waren.

Selbst auf der Straße hörte man noch den Klang der Instrumente. Schnellen Schrittes ging ich zu meinem Wagen. Da die Garage ja zweckentfremdet worden war, und sich darin jetzt unser Studio befand, parkten alle unsere Autos auf dem Bürgersteig. Manchmal standen unsere Wägen so nahe beieinander, dass sich die Stoßstangen praktisch berührten.

Bisher war allerdings noch nichts zu Bruch gegangen. Es war zwar nur eine Frage der Zeit, aber ich wollte es nicht unbedingt heraufbeschwören. Ich öffnete die Tür und ließ mich in den Ledersitz gleiten. Der Geruch eines Duftbaums stieg mir in die Nase, während ich den Motor anließ. Das gewohnte, leise Brummen begann und ich parkte in wenigen Zügen aus. Ich hatte kein bestimmtes Ziel bei meiner Fahrt, sie hatte lediglich den Grund, dass ich endlich in Ruhe nachdenken wollte.

Als ich kaum noch etwas sehen konnte, schaltete ich die Scheinwerfer ein. Das Licht eines entgegenkommenden Wagens blendete mich. Der Berufsverkehr war längst durch und somit waren die Straßen zwar voll, aber keinesfalls verstopft. Ich hatte nach wie vor kein Ziel, stellte aber fest, dass ich bereits wieder auf dem Rückweg war. Es war noch zu früh, um wieder zurück zu gehen. Die anderen würden zweifellos darauf kommen, dass ich nicht wirklich bei Courtney gewesen war, wenn ich jetzt schon zurückkommen würde.

Wegen einer dreiviertel Stunde würde sich das auch kaum lohnen. Bei der nächsten Gelegenheit brachte ich den Wagen zum Halten, um mir ein wenig die Zeit zu vertreiben. Nachdem ich ausgestiegen war, vergewisserte ich mich, ob die Türen auch wirklich verriegelt waren, dann setzte ich mich in Bewegung. Ganz in der Nähe gab es eine Fußgängerzone, in der ich mir etwas zu trinken kaufen wollte. Obwohl es Abend war, sanken die Temperaturen nicht in den angenehmen Bereich.

Drückende Schwüle sorgte dafür, dass die meisten Leute daheim blieben. Im Auto war es nicht so schlimm gewesen – ein Glück, dass ich eine Klimaanlage hatte, doch jetzt kam mir die Hitze dafür umso unerträglicher vor. Während ich durch die Straßen schlenderte, begutachtete ich mein Spiegelbild in den Schaufenstern. Es war ganz normal.

Keiner würde auf die Idee kommen, dass etwas nicht damit stimmte. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, meine Haare nach dem Duschen zu stylen, deshalb kam mir mein Gegenüber auch eigenartig fremd vor. Klar, es waren nicht nur die Haare. Auch meine Augen wirkten in dem Licht dunkler als sonst. Seufzend wandte ich mich ab und ging weiter die Straße hinab.

Einige Autos überholten mich auf meinem Weg. Dann bog ich in eine schmalere Seitenstraße ab, wo kaum noch Verkehr herrschte. Es gab einige kleinere Boutiquen hier, aber die interessierten mich nicht weiter. Etwa fünfzig Meter weiter fand ich ein winziges Café. Ich ließ mich auf einen der metallenen Sitze fallen und wartete auf die Bedienung. Es war ein Mann, groß und breitschultrig.

Nicht das, was man in so einem Café erwarten würde, aber es störte mich nicht. „Was kann ich Ihnen bringen?" Seine Stimme war rau und tief, passte damit also zu seinem Aussehen. „Eine kalte Cola, bitte." Er notierte sich nichts, sagte auch nichts mehr und verschwand dann nach drinnen. Ich schaute mich weiter um. Einige Mädchen bummelten durch die lichtgefluteten Geschäfte.

LA schlief nie wirklich und jetzt erstrecht nicht. Um diese Jahreszeit, machten einige Läden sogar erst um diese Uhrzeit auf. Mit einem Geräusch, als würde Glas splittern, stellte der Kellner meine Flasche auf dem Tisch ab. „Wollen Sie direkt zahlen?" Ich konnte mir durchaus vorstellen, dass er der Grund war, weshalb das Café so leer war.

Er sah wirklich gefährlich aus, auch wenn ich bezweifelte, dass er es tatsächlich war. Ich nickte zur Bestätigung. „Das macht 2 Dollar." Nachdem ich meinen Geldbeutel aus der Hosentasche gezerrt hatte, gab ich ihm das Geld und er verschwand wieder. Die Cola war nicht wirklich kalt, aber ich sah auch wenig Sinn darin, mich zu beschweren. Nach den ersten paar Schlucken gewöhnte man sich an den Geschmack und es schmeckte gar nicht mehr so abstoßend.

Nach wenigen Minuten war das Getränk bereits geleert. Die Hitze sorgte dafür, dass man sich rund um die Uhr dehydriert fühlte. In der Zeitung hatte gestanden, dass schon mehrere Menschen auf offener Straße umgekippt waren. Um ehrlich zu sein, war es nun auch wieder nicht so schlimm, als dass man gleich ohnmächtig werden musste. Es vergingen weitere Minuten, bevor ich mich dazu aufraffen konnte, aufzustehen.

Wenn ich schon einmal hier war, könnte ich vielleicht auch nach einigen Klamotten für mich schauen. Eigentlich war ich ganz und gar nicht in der Stimmung dazu, aber ich erhoffte mir, dass es mich für einige Zeit ablenken konnte. Die Läden waren alle nicht übermäßig voll, doch die meisten waren ausschließlich für Frauen.

Ein leuchtendes Neonschild machte mich letztendlich allerdings doch noch auf ein Geschäft aufmerksam, das mich ansprach. Die Puppen im Schaufenster trugen einen ähnlichen Kleidungsstil, wie ich ihn bevorzugte. Drinnen empfing mich angenehm gekühlte Luft. Ich nahm einen tiefen Atemzug, bevor ich mich genauer umsah. Es gab einen Teil der den Frauen gewidmet war, der für die Männer war jedoch wesentlich größer. Eine Seltenheit, wenn man einmal betrachtete, wie viele Läden ausschließlich für Frauen waren.

Es gab Jeans in allen Größen, Formen und Farben. Etwa auf Kopfhöhe hing eine Kollektion Lederjacken und direkt daneben eine Sammlung an T-Shirts. Ohne groß zu zögern, griff ich nach einer schwarzen Jeans und einem passenden Oberteil. Damit ging ich in Richtung Umkleidekabine. Nur kurze Zeit später stand ich vor einem breiten Spiegel. Ich lächelte mich selbst unsicher an, in der Angst, dass da gleich wieder sie stehen könnte. Die Sachen passten zu mir.

Es war nichts Außergewöhnliches, aber die Kleider waren bequem und sahen gut an mir aus. Ich beschloss, sie zu kaufen. Als neben mir ein Vorhang beiseitegeschoben wurde, zuckte ich kurz zusammen. Ich drehte mich nicht um, sondern behielt weiter den Spiegel im Blick. „Nettes Outfit." Jetzt drehte ich mich doch um. Vor mir stand ein dunkelhäutiges Mädchen. Sie trug ziemlich genau dieselben Sachen, wie ich, und sie lächelte. Für einen kurzen Moment hatte ich gedacht, sie wäre das Mädchen aus dem Spiegel.

Aber sie war es nicht. Ihre Augen und ihre Haare waren braun, nicht schwarz, wie die der Unbekannten. Außerdem konnte ja nicht jedes dunkelhäutige Mädchen auf diesem Planeten das Spiegelbild sein, das meines so oft ersetzte. „Du aber auch", erwiderte ich. „Danke." Sie machte einen Schritt an mir vorbei, um sich selbst ebenfalls im Spiegel ansehen zu können, doch dann erstarrte sie in der Bewegung.

Ganz langsam drehte ich mich wieder um. Ich atmete langsam aus, als ich sie im Spiegel entdeckte. Da standen zwei schwarze Mädchen im Spiegel. Eine von ihnen weinte. Große Tränen liefen über ihre Wange. Die andere starrte sie an. Die junge Frau mit dem Outfit, das fast genauso aussah, wie mein eigenes, sah sie also auch.

Ich war nicht alleine damit. Sie war keine Einbildung. Meine Stimme versagte für einen Moment, doch dann fiel mir auf, dass ich ohnehin nicht wusste, was ich sagen sollte. Kraftlos ließ ich die Arme hängen. Warum musste ich ausgerechnet heute auf jemanden treffen, der sie sehen konnte?


Reflektionen (Ross Lynch/R5)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt