Kapitel 16 "Schicksalsprojektionen"

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Es dauerte ewig, bis wir beide unten angekommen waren. Von oben hatte es nicht so weit ausgesehen. Was auch immer das da unten war, inzwischen war ich mir fast sicher, dass es kein Kraftwerk war. Ich kannte mich damit zwar nicht aus, aber so sahen sie sicher nicht aus. Je näher wir kamen, desto seltsamer wirkte das Gebäude. Es sah nun kaum mehr aus wie ein Golfball. Allerdings auch nicht wie ein Ufo. Eher nach einer bizarren Mischung aus eingefallenem Zirkuszelt altertümlicher Domkuppel.

Stahlstreben ragten wie gebrochene Knochen zwischen den Leinentüchern hervor. Seile waren gespannt worden, um die weißen Laken an ihrem Platz zu halten. „Sieht verlassen aus", stellte Juvia fest und ich musste ihr recht geben, denn es sah wirklich nicht so aus, als wäre jemand hier. Was sollte man auch hier wollen? Und wer ließ so was bauen? Hier gab es nicht einmal eine Straße, auf der die Materialien angeliefert werden konnten. Soweit ich das beurteilen konnte, musste man wirklich über den Kesselrand klettern, um aus diesem Loch zu gelangen. Wer kam schon hierher?

„Sollen wir reingehen?", fragte ich, wobei ich mir nicht sicher war, welche Antwort ich hören wollte. Juvia kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum, befeuchtete sie danach, wie immer, wenn sie nervös war und fing wieder von vorne an. „Hm", machte sie. „Wäre das eine gute Idee?" Ich fuhr mir durch die Haare, die mir an der Stirn klebten. Es war schon wieder extrem heiß, auch wenn das Tal noch immer im Schatten lag. Der Abstieg war auch nicht ohne gewesen und wir hatten nichts zu trinken mitgenommen. Ich war ein wenig fertig. „Wahrscheinlich nicht", gab ich ehrlich zu. In Horrorfilme war es immer eine komplett wahnsinnige Idee, sich in die Höhle des Löwen zu wagen.

„Gut, denn die schlechten Ideen sind immer sehr viel unterhaltsamer." Damit setzte sie sich in Bewegung und mir blieb aus Solidarität (und vielleicht auch aus Sorge) gar nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Da es keinen richtigen Eingang gab, schoben wir einfach eines der Laken aus dem Weg und schlüpften durch das entstandene Loch. An ihrer höchsten Stelle war die Kuppel vielleicht an die vier Meter hoch. Der Boden war mit Holzspänen bedeckt. Sie sanken unter mir ein, knirschten und fielen zur Seite in meine Schuhe. Der Wind zerrte an den Laken und ließ die Wände seltsam eingedellt aussehen. Von hier sah es noch mehr aus wie ein Zirkus.

Wären die unzähligen Computer nicht gewesen, die in der Mitte des gigantischen Zeltes standen. Es gab zwar nur vier Bildschirme, aber sehr viel mehr Laufwerke und den ganzen Kram. „Oh", sagte Juvia, „Computer sind nicht so meine Stärke." „Du wirst ihn ja wohl noch hochfahren können. Tu nicht so, als wärst du komplett hilflos." Sie schnitt mir eine Grimasse, die mit den tanzenden Strahlen, die von draußen hereindrangen, noch komischer aussah. „Dann eben nicht, du Schlauberger." „War das etwa eine Beleidigung?", fragte ich amüsiert.

Doch das Lächeln erstarb, als ich den Spiegel sah. Ein breiter Projektor versperrte die Sicht darauf, aber er war dennoch kaum zu übersehen. „Siehst du das auch, oder bilde ich mir das bloß ein?" Nervös hielt ich die Luft an. „Das ist nur ein Spiegel. Wir müssen vorsichtig sein, nicht total panisch", murmelte sie, wohl mehr für sich selbst, als für mich. „Was denkst du, wurde hier veranstaltet?" Misstrauisch und langsam näherten wir uns dem Spiegel.

„Schau dir das mal an, was ist das?" Gleichzeitig fiel unser Blick auf den Projektor. „Ein Projektor", sagte ich. „Aber was macht der vor dem Spiegel?" Darauf hatte ich keine Antwort. Die Luft unmittelbar vor der dem Glas begann zu flimmern. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und begann den Rückzug. „Können sie uns hören, oder spüren sie uns einfach nur?", fragte Juvia. Lauter Fragen, auf die ich keine Antwort hatte. Was erwartete sie von mir? Ich war nicht der Gott, an den sie glaubte. „Weiß ich nicht." Unruhig trat ich auf der Stehle herum.

Immer wieder warf ich nervöse Blicke in Richtung Spiegel. „Sollten wir nicht vielleicht lieber gehen?", gab ich vorsichtig zu bedenken. Ich wusste ja, dass Juvia etwas tun wollte, aber das hieß nicht, dass ich dabei zusehen würde, wie sie uns beide in den sicheren Tod führen würde. „Nein", antwortete sie, ohne mich anzusehen. Der Wind fuhr in ihre Locken, doch zum ersten Mal schien es, als würde es sie nicht im Geringsten stören. „Geh mal schauen, was die Computer so hergeben. Wenn es hier Strom gibt, gehen ja vielleicht auch die Internetverbindungen wieder."

Langsam nickte ich, auch wenn mir der Gedanken nicht wirklich behagte. Wir waren hier unbefugt eingedrungen und selbst wenn niemand hier war, den es hätte stören können, gab mir der Spiegel zu denken. Heute Nacht musste noch jemand hier gewesen sein, sonst hätten wir die Lichter nicht sehen können. Aber wo war dieser jemand hin? Das Tal hier glich einem gigantischen Kessel, man musste so oder so eine halsbrecherische Kletterpartie wagen, wenn man hier raus wollte. Wir hätten jemanden sehen müssen.

Oder zumindest irgendwelche Spuren, dass jemand an den Felsen herumgeturnt war. Den Lärm eines Hubschraubers hätten wir auf jeden Fall gehört und ansonsten fiel mir wirklich keine Möglichkeit ein, wie man hier rauskam. Vielleicht ging das Licht ja auch automatisch an und aus. Ja, das musste es sein. Obwohl ich kein gutes Gefühl dabei hatte, setzte ich mich vor einen der vier Bildschirme. Als ich den An-Schalter betätigte, passierte einige Sekunden gar nichts, dann flammte ein kleines blaues Licht auf und der Rechner begann zu brummen.

Der Bildschirm hellte sich auf und kurz darauf erschien der Startbildschirm. Ich blickte nach oben an die hohe Zeltdecke. In einen Zirkus gehörte ein Clown und ich hatte die unbestimmte Befürchtung, dass ich das war. „Hast du schon was gefunden?", fragte ich laut, damit Juvia mich hören konnte. Von hier aus war ich ein ganzes Stück von dem Spiegel entfernt und solange ich ihre Schritte hören konnte, machte ich mir nur wenige Sorgen.

„Ich weiß ja nicht mal, was ich überhaupt suche!", rief sie leise zurück. Das Scharren der Holzspäne entfernte sich weiter. Ihre Schritte kamen mir wesentlich leiser vor, als meine eigenen. Zögerlich bewegte ich die Maus. Der kleine Pfeil auf dem Bildschirm folgte meinen Bewegungen. Der Desktop war weiß. Es gab auch nur ein einziges Programm, das man anklicken konnte. Dateien, was auch sonst? Ich war mir nicht ganz sicher, ob es wirklich eine gute Idee war, in den Unterlagen anderer herumzustöbern. Aber dann war ich doch einfach zu neugierig.

Mit einem schnellen Doppelklick öffnete ich den Ordner. Für einen kurzen Moment passierte gar nichts, dann ertönte von irgendwoher ein Piepen und Juvia schrie. Ich sprang auf und wollte schon zu ihr rennen, als sie rief: „Alles okay. Du hättest mir ruhig sagen können, dass du den Projektor anschaltest. Ich hab mich echt erschrocken." Aber ich hatte den Beamer nicht angeschaltet. Zumindest nicht wissentlich. „Entschuldigung", sagte ich laut genug, damit sie es hören konnte. Wenn die Spiegelwesen uns auch hören konnten, hielten sie sich bisher bedeckt. Auf dem Bildschirm war inzwischen eine lange Liste mit Namen aufgetaucht.

Ich las wahllos einige Namen aus der Liste vor: „Ashlynn, Clement, Fayola, Reese, Valentin, Zorina. Sagt dir das irgendwas?" „Das eine ist afrikanisch und bedeutet gutes Schicksal, aber ansonsten sagen mir die Namen nichts." Juvia stellte sich hinter mich und legte mir eine Hand auf die Schulter, um sich darauf abzustützen. „Das ist einfach nur ein ganzer Haufen von Namen. Sie sind zwar alphabetisch geordnet, aber ansonsten kann ich kein System dahinter erkennen", stellte sie fest und ich konnte nur nicken.

„Was meinst du, wird passieren, wenn wir einen Namen anklicken?" „Keine Ahnung, vielleicht können wir dann irgendwelche Akten einsehen, oder sonst was. Probier es doch einfach aus." Ob das wohl eine gute Idee wäre? Ich musste an vorhin denken. Da hatte Juvia gesagt, dass die schlechten Ideen immer die unterhaltsamsten wären. Sie hatte recht. Ich wusste nicht so recht warum, aber ich klickte den Namen Fayola an. Gutes Schicksal klang auf jeden Fall nicht nach Tod und Verderben. Außerdem erinnerte mich der Name irgendwie an Juvia. Vielleicht war es nur wegen der afrikanischen Herkunft. Wieder ratterte es irgendwo. Es kam mir so vor, als käme es von unter der Erde. Als würden da unten irgendwelche Zahnräder ineinandergreifen und bald würde alles einen Sinn ergeben.

Damals konnte ich kaum darauf warten, dass endlich etwas passierte. Der Griff um meine Schulter wurde stärker, weshalb ich zu Juvia aufblickte. Sie lächelte nicht und ich hatte irgendwie das Bedürfnis, das zu ändern. Aber sie schaute nicht einmal in meine Richtung. Langsam drehte ich den Kopf. Der Projektor warf ein Bild auf den Spiegel. Das Bild eines schwarzen Mädchens, mit schwarzen Haaren und schwarzen Augen. Fassungslos sprang ich auf.

Das war mein Mädchen. Fayola war das Mädchen aus dem Spiegel.

Reflektionen (Ross Lynch/R5)Where stories live. Discover now