Kapitel 3 "Verständnissuche"

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Verunsichert leckte sich die Frau über die Lippen. „Ist das ein Streich?" Sie hatte das Kinn gehoben, als wollte sie sich ihren Schock nicht anmerken lassen. Obwohl sie keinen blassen Schimmer davon haben dürfte, was das fremde Mädchen im Spiegel zu bedeuten hatte, war ihre Selbstbeherrschung bewundernswert. Meine war es nicht gewesen, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte.

Ich seufzte. Ob das wohl schon als Antwort genügte? Den Ausdruck in ihren Augen kannte ich aus meinen eigenen. Es war Verunsicherung, mit einem kühlen Beigeschmack der Angst. „Ich wünschte, das wäre es", erwiderte ich ruhig. Noch nie, in den ganzen zwei Jahren, hatte sie sich geregt. Und jetzt weinte sie.

Mein Magen zog sich krampfhaft zusammen, bei dem Gedanken daran, was es zu bedeuten haben könnte. Wenn sie anfing sich zu verändern, was käme dann wohl als nächstes? Konnte sie den Spiegel verlassen? Mir wurde ganz übel bei dem Gedanken. Sie machte mir schon Angst, wenn sie gar nichts tat, aber jetzt, wo sie weinte, wollte ich weglaufen. Ich holte tief Luft.

„Würdest du es mir erklären?", fragte sie und kam mir damit zuvor. Obwohl sie sie sehen konnte, hatte sie offensichtlich nie zuvor etwas Ähnliches erlebt. Langsam nickte ich. Mir blieb wohl gar nichts anderes übrig, sonst würde sie am Ende noch die Polizei rufen, die sie dann in eine Irrenanstalt verfrachten würden. So was konnte ich nicht gebrauchen.

Außerdem wäre es dann meine Schuld, dass sie dort wäre. Deshalb konnte ich sie nicht einfach unwissend zurücklassen. Es wunderte mich ohnehin, dass sie nicht längst auf und davon war. Oder dass sie mich nicht als Hochstapler beschimpft hatte. Weglaufen konnte jeder, aber noch war sie hier. Sie sah nicht aus wie jemand, der sich mit schlechten Ausreden abspeisen ließ.

Allerdings hielt ich die Wahrheit bei weitem zu wahnwitzig, als dass ich sie jemandem zutrauen konnte. Dabei wusste ich ja selbst auch kaum etwas über das Spiegelbild, das nicht zu mir gehörte. „Aber nicht hier." Eigentlich befand ich mich nicht in der Position, irgendwelche Bedingungen zu stellen, aber es schien ihr gar nicht aufzufallen.

Sie starrte noch immer den Spiegel an. Ich konnte mich noch an meine eigene Reaktion erinnern, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Die Frau musste ungemein furchtlos sein, oder sie hielt es vielleicht trotzdem für einen Streich. Verübeln konnte man es ihr jedenfalls nicht. „Lass uns gehen. Ich zahle die Klamotten", sagte sie und ging in Richtung Kasse.

Ich hatte noch nie einen Laden gesehen, in dem man die neuen Kleider direkt anlassen konnte, aber sie schien wohl Stammkundin hier zu sein. Eine Extrabehandlung, um die ich jetzt froh war. „Schreib es auf die Rechnung, Mailee. Ich komme später oder morgen vorbei und zahle es", sagte sie zu der Kassiererin, welche lediglich nickte.

In der Zwischenzeit hatte ich unsere normalen Kleider aus den Kabinen geholt. „Es gibt ein Café hier, in dem ohnehin niemand ist. Dort können wir uns unterhalten", schlug ich vor. Sie nickte zustimmend und folgte mir in Richtung des kleinen Lokals, in dem ich zuvor die Cola getrunken hatte. Ich versuchte, in ihrem Auftreten irgendwelche Anzeichen der Angst zu erkennen.

Als Schauspieler wusste ich, wonach ich suchen musste. Kleine, versteckte Unsicherheiten, die ein Laie gar nicht wahrnahm. Unauffällig versuchte sie, ihre Hände stets ruhig zu halten. Ein zuverlässiges Anzeichen für Nervosität. Ich selbst hatte mich besser unter Kontrolle. Jemand der mich von außen betrachtet hätte, wäre wohl nie auf die Idee gekommen, was in meinem Inneren vorging.

An ihre Anwesenheit hatte ich mich inzwischen gewöhnt, auch wenn ich sie nicht etwa gerne hatte. Aber dass sie weinte, war neu. Und bei ihr war es mit Sicherheit kein gutes Zeichen, wenn sich etwas veränderte. Obwohl es mich krank vor Sorge machte, war es im Moment nicht meine größte Sorge. Wie sollte ich erklären, dass da eine Frau im Spiegel gestanden hatte?

Noch dazu eine, die weinte. Mit einem Scharren zogen wir beide jeweils einen Stuhl nach hinten. Ihr Gesichtsausdruck war bemüht neutral, doch dahinter sah ich die Aufregung. Sämtliche Muskeln waren angespannt, ihre Kiefermuskeln traten beängstigend hervor. „Wie heißt du?" Ihre erste Frage überraschte mich. Ich hatte damit gerechnet, dass sie mir Fragen zu dem Spiegelwesen stellen würde.

Aber darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Perplex antwortete ich: „Ross Lynch." Sie nickte: „Okay." Für einen sehr langen Augenblick herrschte Schweigen. Das gab mir die Zeit, um mich auf alles Kommende vorzubereiten. Vielleicht hatte ich sie falsch eingeschätzt. „Mein Name ist Juvia Morgan", sagte sie. Das kaum merkliche Beben in ihrer Stimme beruhigte mich.

Es bedeutete, dass sie unsicherer war, als sie sich selbst und mir eingestehen wollte. Ich hatte sie also nicht falsch eingeschätzt und das machte sie berechenbar. Erleichterung erfüllte mich; solange ich meinen Gegenüber einschätzen konnte, fühlte ich mich sicher. So konnte ich ihre Aktionen vorhersehen und mich darauf vorbereiten.

Solange ich wusste, was als nächstes kommen würde, konnte ich mir Worte zurechtlegen, die hoffentlich den gewünschten Effekt erzielen würden. „Was war das? Diese Frau im Spiegel, meine ich." Mit dieser Frage hatte ich gerechnet, allerdings schon von Beginn an. Jetzt musste ich aufpassen, wie viel ich preisgab. Wenngleich ich ja selbst kaum etwas wusste.

„Sie kommt seit zwei Jahren immer wieder zu mir. Nur im Spiegel. Und normalerweise tut sie nichts, als da zu sein." Ihre dunklen Augen suchten in meinen nach Details. Aber viel mehr gab es dazu nicht zu sagen. Ich wusste nicht, woher sie kam und ob sie eines Tages wieder verschwinden würde. Nachdem sie meine Augen ausführlich betrachtet hatte, nahm sie die gesamte Umgebung unter die Lupe.

„Da sind keine Kameras", stellte sie ruhig fest. Damit hatte sie schneller als ich erkannt, dass es sich nicht um einen Streich handelte. Ich spürte meinen Herzschlag gegen meinen Brustkorb. „Sie ist auch echt. Falls man das so sagen kann." „Warum weint sie?" Wir hatten die Stimmen gesenkt, für den unwahrscheinlichen Fall, dass uns jemand belauschte.

„Ich weiß es nicht. Das hat sie noch nie gemacht." Ich hörte, wie sie schluckte. „Okay. Nehmen wir an, dass ich dir das alles glaube. Wieso ist sie dann noch niemand anderem aufgefallen? Du müsstest längst in allen Nachrichten gewesen sein, falls es jeder sehen könnte." Langsam nickte ich, und signalisierte ihr damit, dass sie recht hatte. Ich nahm mir Zeit für meine Antwort, sie sollte wohl überlegt sein.

Doch bevor ich sie aussprechen konnte, kam die Bedingung von vorher, die unsere Bestellung aufnehmen wollte. Er sah mich zwar schief an, sagte allerdings nichts dazu, dass ich nun schon wieder hier war. Wir wollten ihn einfach nur schnellstmöglich loswerden und als hätte er es gerochen, brauchte er extra lange. Jeden einzelnen Tisch wischte er, in einem Tempo, dass selbst meine Großmutter noch toppen hätte können.

Er hatte uns sein Gesicht zugewandt, als wartete er gespannt darauf, worüber wir uns unterhalten wollten. Auch der jungen Frau schien es aufzufallen. „Also Ross, wie ist es dir seit unserem letzten Treffen so ergangen." Sie war keine gute Schauspielerin, aber es sollte reichen, um den Kerl abzuwimmeln. Mit einem Mal war er mir wirklich unsympathisch.

Vorhin hatte ich mir noch gar keine Gedanken darum gemacht, was für ein Mensch er sein könnte. „Mir ist nicht so sonderlich viel passiert. Ich bin umgezogen, habe einige Konzerte gegeben und bin jetzt vergeben. Und dir?" Einen Moment lang wirkte sie verunsichert, über den plötzlichen Wechsel in meiner Laune, doch dann hellte sich ihr Gesichtsausdruck auf: „Danke, dass du fragst. Ich war meine Familie in Afrika besuchen. Meine Eltern haben darauf bestanden, dass ich auch den Rest meiner Verwandtschaft kennenlernen sollte. Was Reisen betrifft, bin ich vorerst bedient, um ehrlich zu sein. Sie waren zwar eigentlich ganz nett, aber ich kannte sie eben nicht."

Ich nickte verständnisvoll: „Glaub ich dir gerne. Allerdings könnte ich mir auch nicht vorstellen, meine Verwandtschaft so wenig zu kennen." Der muskulöse Mann verschwand nach drinnen. Offenbar hatte er genug von unserer Unterhaltung gehört. Sobald er außer Hörweite war, fuhr ich dort fort, wo er mich unterbrochen hatte. „Ich dachte eigentlich, dass niemand außer mir sie sehen kann." Sie befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge, bevor sie grimmig antwortete: „Ich ja offensichtlich schon."

Reflektionen (Ross Lynch/R5)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt