Kapitel 36 "Fingerring"

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„So haben wir uns kennengelernt", schloss ich meine Geschichte, die zwar leicht von der Realität abwich aber letztendlich alles enthielt, was meine Familie wissen musste. Ich konnte mir schon denken, dass sie nicht übermäßig begeistert davon wären, wenn ich mein Leben aufs Spiel setzte, nur um einer Spur nachzugehen, die keine richtige war. Juvia und ich wussten nicht wirklich viel, aber was wir wussten brachte uns kaum weiter.

Trotzdem verstand ich ihr Verlangen danach, alles wieder in Ordnung zu bringen. „Was ist mit deiner Familie?", fragte Rydel mitfühlend. „Der geht's soweit ganz gut. Sie brauchen meine Hilfe nicht." Mit einem Seitenblick zu mir lehnte sich meine Mutter nach vorne: „Also hast du sie für Ross zurückgelassen?" Diese Frage schien Juvia nicht sonderlich zu behagen. Für meine Familie musste es jetzt so wirken, als hätte sie es nur wegen mir getan und auch wenn ich absolut nichts dagegen hätte, wusste ich es besser.

Aber das konnten wir ihnen natürlich nicht sagen, weil sie sonst von meinem Aufenthalt in Dwights Gefangenschaft erfahren würden. Was allerdings noch schlimmer wäre, war die Tatsache, dass sie auch hinter Juvias Geheimnis kommen würden. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie meine Familie es aufnehmen würde, aber ich konnte mir schon vorstellen, dass sie sie nicht mehr hierhaben wollten. Und das Schlimme war, dass ich es nachvollziehen konnte.

„Wieso habt ihr eigentlich erst nachts an meine Scheibe geklopft? Von hier aus kann man den Wagen doch sehen, also müsst ihr schon Stunden vorher gewusst haben, dass dort jemand ist." „Wir wussten ja nicht wer, also haben wir gehofft, dass in der Dunkelheit der Überraschungsmoment auf unserer Seite ist. Außerdem dachten wir, dass derjenige so spät wahrscheinlich schlafen würde und damit leicht zu überwältigen wäre."

Verwundert sah ich meine Brüder an, vor allem Riker, der mir die Antwort auf meine erste Frage gegeben hatte. „Mit einer Taschenlampe?" Rocky zuckte mit den Schultern: „Wir haben nichts Besseres. Noch können wir uns keine urzeitlichen Waffen basteln." Rydel gähnte verschlafen; offenbar hatten sie und meine Eltern geschlafen, während die Jungs Wache gehalten hatten. Sie hatten uns erklärt, dass sie in Schichten darauf achteten, ob sich jemand näherte.

Eigentlich waren sie immer zu Zweit, aber um mich zu überwältigen, hatten Rocky und Ryland Riker geweckt. „Am besten wir gehen alle wieder schlafen", meinte Dad und alle stimmten ihm zu. Mal abgesehen von Juvia, die keinen Schlaf brauchte und ich, weil ich durch das Wiedersehen mit meiner Familie so aufgedreht war, dass ich wohl ohnehin kein Auge zubekommen würde. Deshalb schlugen wir auch vor, zusammen die letzte Schicht dieser Nacht zu übernehmen.

Ich war mir ziemlich sicher, dass Rydel dadurch nur noch mehr vermuten würde, dass ich und Juvia in irgendeiner Weise etwas am Laufen hatten, aber es war mir im Moment recht egal. Nachdem wir das große Familienzelt verlassen hatten, machten wir es uns an zwei Steine gelehnt bequem und unterhielten uns leise. „Vielleicht solltest du deiner Familie vorschlagen, sich mit meiner zusammenzutun." Juvia legte den Kopf in den Nacken und blickte in den sternenklaren Himmel hinauf.

„Es würde sie mindestens zwei Tage kosten, bis sie hier wären und sie wollen nicht mal in die Berge. Jackson hält das nicht zu Unrecht für Schwachsinn; dort oben ist man kein bisschen sicherer. Die Leute verwechseln die Spiegelwesen mit Zombies, aber das sind sie nicht. Sie sind nicht so dumm und ich glaube, sie sind wesentlich gefährlicher." „Ich glaub nicht, dass die Leute das tun. Aber sie wollen auch nicht tatenlos dabei zusehen, wie alles den Bach runter geht. Was sollen sie denn machen? Sie wissen nicht, woher die Wesen kommen und was sie von uns wollen. Natürlich tun sie etwas, auch wenn es vielleicht gar nichts bringt."

Ich kannte dieses Gefühl der Hilflosigkeit, man wollte etwas unternehmen und wusste genau, dass es nichts bringen würde, doch tat es trotzdem. „Wenn du meinst", sagte sie. Nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten, wurde ich doch noch schläfrig. „Weckst du mich auf, wenn ich einnicke?" Sie schüttelte den Kopf: „Du musst auch mal schlafen. Die Ringe unter deinen Augen haben nämlich nichts damit zu tun, dass du Gandalf hinterherrennst. Am besten du schmeißt sie nicht in den Vulkan, sondern schläfst."

Grinsend stieß ich sie mit dem Ellenbogen an: „Du bist schon ein ziemlicher Geek, oder?" Sie zuckte mit den Schultern: „Ich kann schließlich nicht den ganzen Tag herumrennen und Traumfänger sammeln. Außerdem kenne ich das ganze Zeug nur oberflächlich." Sie legte ihren Kopf auf meine Schulter und ihre Haare kitzelten mich überall, aber ich sagte nichts, weil ich Angst hatte, sie würde sich wieder von mir entfernen. Aus irgendeinem Grund freute es mich, dass sich wieder wie die alte Juvia verhielt und nicht mehr so tat, als wäre sie weniger menschlich, nur weil sie eben kein Mensch mehr war.

„Als er dich erschossen hat, hab ich gedacht, dass das noch nicht alles sein kann. Du hast nichts mehr gesagt und ich weiß noch, dass ich mir sicher war, dass von dir irgendwelche letzten Worte kommen würden, die nicht nur mein Weltbild, sondern auch das von anderen auf den Kopf stellen würde. Aber du konntest nichts mehr sagen." Bei der Erinnerung versagte mir fast die Stimme. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass ich sie damals fast verloren hatte. „Es waren ja auch nicht meine letzten Worte", flüsterte sie und ihre Haare wippten so leicht, dass sie noch mehr kitzelten.

„Was hast du gedacht?" „Ich hab an Gott gedacht. Daran, dass ich jetzt endlich den Himmel sehen würde. Doch als ich tot war, war ich nicht wirklich weg. Ich war in einem dunklen Raum, der genauso endlos sein könnte, wie winzig klein. Nichts ist passiert. Vielleicht komme ich ja doch in die Hölle, aber falls es so ist, will ich nicht jeden Tag in Furcht davor leben." Sie zog die Kette mit dem Kreuzanhänger aus ihrer Hosentasche. „Ich hab überlegt, ob ich sie wieder anziehen soll. Aber ich weiß nicht mal, ob ich jetzt noch an Gott glaube."

Vorsichtig nahm ich ihre Hand und verschränkte ihre Finger mit meinen. Sie zog sie nicht zurück. „Glaub nicht an irgendwas, glaub an dich." „Manchmal fällt mir das schwer, wenn ich nicht mal genau weiß, was ich bin." Aufmunternd drückte ich ihre Hand leicht, um sie daran zu erinnern, dass sie nicht alleine war. „Du bist Juvia Morgan, eine Traumfängersammlerin und eine Abenteurerin, reicht das nicht?", fragte ich.

Sie hob den Kopf und schaute mich an: „Danke." Verwirrt schaute ich zurück: „Für was?" „Einfach alles." Vielleicht sollte ich sie doch einfach küssen. Jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt dafür; wir waren uns ohnehin schon nahe, so nahe, dass ich die winzigen Reflektionen der Sterne in ihren Augen sehen konnte. Wie kam es, dass ich schon wieder daran dachte? Ich wusste nur so wenig über sie und glaubte trotzdem, sie inzwischen gut genug zu kennen, um sie küssen zu wollen. Auch wenn es darum gar nicht ging. Es ging darum, ob ich sie mochte und das tat ich.

Ich konnte sie trotzdem nicht einfach so küssen, während Courtney irgendwo da draußen war und vielleicht darauf hoffte, dass wir uns wiederfinden würden. „Woran denkst du?", fragte sie, da sie offenbar meinen Gesichtsausdruck bemerkt hatte. „An Courtney", sagte ich ohne nachzudenken. Anschließen hätte ich mir auf die Zunge beißen können, so verletzt sah sie für einen Moment aus. Sie löste ihre Hand aus meinem Griff: „Willst du sie suchen gehen?"

Zögernd schüttelte ich den Kopf. Dafür hatten wir zum einen keine Zeit, und zum anderen wollte ich nicht, dass sie dachte, sie würde mir nichts bedeuten. Denn das tat sie, sonst würde ich nicht so oft darüber nachdenken, sie zu küssen, wenn ich doch eigentlich eine Freundin hatte. „Wenn das Alles vorbei ist vielleicht", sagte ich. „Bei deinem Glück werden wir ihr noch zufällig über den Weg laufen."

Ich sah, wie sie die Kette samt Anhänger wieder in ihrer Hosentasche verschwinden ließ. „Falls sie noch lebt", fügte ich nachdenklich hinzu. Den Gedanken hatte ich schon mehrfach gehabt, es überraschte mich also nicht, aber ich hoffte, dass es nicht so war. Ich bekam keine Antwort. „Jackson kümmert sich um Nicole, während ich hier bin", sagte sie unvermittelt. „Weiß er es?" Mit einem Kopfschütteln verneinte sie: „Er weiß, dass ich für eine Weile weg bin, aber er weiß nicht, dass ich durch einen Spiegel zu dir gegangen bin. Du bist drei Tage vor mir los, ich bezweifle, dass er denkt, ich würde dir folgen."

„Und was denkt er dann?" Sie machte eine abwehrende Bewegung: „Ich weiß auch nicht alles. Frag ihn doch einfach, wenn ihr euch das nächste Mal seht." Der zickige Ton in ihrer Stimme entging mir nicht. Alles nur, weil ich Courtney erwähnt hatte. Wenn ich nicht so müde gewesen wäre, hätte ich zurückgezickt, aber so beließ ich es bei einem Schnauben und anschließendem Schweigen. Ich hatte keine Lust darauf, mich mit ihr zu streiten, während die Sonne bereits den unteren Teil des Himmels erhellte.

Reflektionen (Ross Lynch/R5)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt