Kapitel 37 "Konfetti-Herzen"

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Der Traum, der mich in der kurzen Zeit verfolgte, in der ich schlief, ließ mich hochschrecken. Für einen Moment wusste ich nicht, wo ich mich befand und bekam Panik, doch dann erinnerte ich mich. Der Felsen war unangenehm hart in meinem Rücken. Juvia saß nicht mehr neben mir, wahrscheinlich hatte sie sich zu den anderen gesellt. In meinem Traum hatte sie niemand sehen können, außer mir. Als hätte ich sie mir all die Zeit bloß eingebildet. Und auch wenn ich ganz genau wusste, dass das nicht sein konnte, stellte sich mir eine Frage: warum konnte sie jeder sehen?

Jetzt wo sie ein Spiegelwesen war, sollte es eigentlich nur noch jedem fünften möglich sein, sie wahrzunehmen. Trotzdem hatte meine ganze Familie sie gesehen und auch ihre eigene hatte keine Probleme damit. Ich wollte sie fragen, ob sie eine Ahnung hatte, warum das so war, also stand ich auf und lief auf schmerzenden Beinen zum Zelt. Nachdem ich den Kopf hineingesteckt hatte, konnte ich sicher sein, dass sie dort nicht war. Ein Schwall stickiger Luft kam mir entgegen. „Alles okay?", fragte Riker verschlafen.

Es fiel nur wenig Licht durch den dunklen Stoff der Zeltplane, weshalb ich gerade so seinen Umriss ausmachen konnte. „Ja", erwiderte ich, wenig überzeugt. Wo war Juvia, wenn sie nicht hier war? Wie lange hatte ich geschlafen? Wenn ich der Sonne Glauben schenken durfte, kaum mehr als zwei Stunden. Schon merkwürdig genug, dass ich in dieser Zeit überhaupt in die Tiefschlafphase gekommen war. Flüsternd, um die anderen nicht zu wecken, log ich: „Ich wollte nur kurz gucken, ob ihr noch schlaft."

Rückwärts schob ich mich wieder aus dem schmalen Spalt. Auch draußen war keine Spur von ihr zu finden. Sie hatte den Streit doch nicht ernsthaft als Anlass genommen, von hier zu verschwinden, oder? Zerknirscht kickte ich einige kleine Steinchen von mir weg. Ich konnte nicht einmal sagen, dass ich wirklich sauer war. Eigentlich sollte sie sowieso bei ihrer Familie bleiben, es gab wohl niemanden, der sie besser beschützen konnte. Aber genauso wusste ich, dass ihr Plan, die Welt zu retten, noch lange nicht in der Vergangenheit lag.

Ich würde gerne behaupten, dass ich ihr helfen wollte, aber es war wohl eher ein Zwang. Inzwischen gab es sicher kaum noch jemanden, der so viel über die ganze Sache wusste wie wir. Ob unfreiwillig oder nicht; etwas anderes blieb mir im Grunde doch gar nicht übrig. Die Frage war nur, wo wir überhaupt anfangen sollten. Dwight Sawyer war tot, allerdings auf jeden Fall mitverantwortlich für das Dilemma, in dem wir uns befanden. Ihn konnten wir nur schlecht fragen, was er getan hatte.

Laut Fayola musste es irgendwo Aufzeichnungen geben, mit deren Hilfe wir das Ganze vielleicht rückgängig machen konnten, aber sicher war ich mir da nicht. Und selbst wenn wir es irgendwie schaffen würden, die Spiegelwesen zurück in ihre Welt zu verbannen, gab es noch ein Problem: Was würde mit Juvia geschehen? War sie der Preis, den wir bereit sein mussten zu zahlen, um die Menschen zu retten, die wir liebten? Noch mehr Steinchen hüpften über den unebenen Boden von mir weg.

Ich zog die Kette hervor, an deren Anhänger ich den versiegelten Spiegel trug. Während ich meine Augen auf das Glas fixierte, hoffte ich, dass es funktionieren würde. „Wo bist du?", fragte ich leise. Keine Antwort. „Komm schon Juvia, antworte." Beschwörend ließ ich den Anhänger leicht pendeln. „Es tut mir leid, hörst du? Ich hätte nicht von ihr anfangen sollen." Immer noch keine Antwort. War ihr etwa etwas passiert? Das konnte ich mir kaum vorstellen, sie war stark genug, um sich selbst zu verteidigen. „Alles okay?"

Mein Ton war schon fast flehend. Ich musste ein jämmerliches Bild abgeben, wie ich mit dem Spiegel sprach und auf eine Antwort hoffte, die ich nicht erhalten würde. Seufzend gab ich es auf und ließ die Kette wieder unter mein Shirt gleiten. Das Metall fühlte sich nun kühl auf meiner nackten Haut an. Meine Müdigkeit war verflogen, deshalb ließ ich mich wieder an dem Felsen nieder und behielt die Landschaft im Blick. Was sollte hier schon passieren? Wer würde uns hier angreifen, wo wir doch offensichtlich selbst kaum noch etwas hatten?

Ich verschränkte die Arme und versuchte, nicht in die Sonne zu blicken. Stattdessen beobachtete ich die Wolken, die in weißen Fetzen über den Himmel getrieben wurden. Ich hatte schon so oft gesehen, wie die Welt von oben aussah und hatte trotzdem keine Ahnung, wie sich ein Vogel fühlen musste. Es erleichterte mich, ab und zu einen gefiederten Winzling über den Himmel gleiten zu sehen. Wenigstens einige Dinge hatten sich inzwischen normalisiert. Die Zeit verging quälend langsam, wie in zähflüssigem Honig schob sich die Sonne nur langsam voran und verbreitete ihr goldenes Licht.

Bereits jetzt versprach es ein heißer Tag zu werden. Dieser Sommer war selten trocken und warm; inzwischen müsste es eigentlich längst wieder kälter werden. Ich fragte mich, wie lange selbst die Langsamsten noch brauchen würden, um zu sehen, dass wir den Planeten kaputtmachten. Rydel stand als erstes auf und gesellte sich zu mir. Schweigend hingen wir unseren Gedanken nach, bis sie schließlich fragte, wo Juvia geblieben war. „Zurück zu ihrer Familie", sagte ich kurz angebunden.

Ich war nicht wirklich in der Laune, mit ihr zu reden. „Magst du sie?" Ich zuckte unentschlossen mit den Schultern. Natürlich mochte ich sie, wie könnte ich auch nicht? Aber ich hatte Courtney und außerdem hatten wir auch gar keine Zeit für sowas. „Selbst wenn, das ist aussichtslos." Sie rollte mit den Augen. „Es ist aussichtslos", äffte sie mich nach. „Wenn es eben so ist? Ich kann schließlich auch nichts dafür." Rydel stieß ein abfälliges Schnauben aus: „Ich weiß ja nicht, was du unter aussichtslos verstehst, aber wenn du es nicht mal versuchst, bist du natürlich von Vornerein zum Scheitern verurteilt. Warum bekommt ihr Jungs nicht in euren Schädel rein, dass wir auch nicht alles wissen? Woher soll sie denn wissen, dass du sie magst, wenn du es ihr nicht sagst? Woher willst du wissen, dass es aussichtslos ist, wenn du es gar nicht versucht hast? Du hast Courtney, ich weiß das. Ich mag sie, du hast in ihr echt einen Engel gefunden. Nur leider ist sie nicht hier."

„Wenn ich mit ihr reden könnte, hätte ich vielleicht eine Antwort auf meine eigenen Fragen." Meine ältere Schwester schüttelte ihren Kopf: „Nein, die hättest du nicht. Du hättest einen ganzen Haufen Probleme, wenn sie plötzlich hier auftauchen würde und nicht mal mehr weißt, ob du nicht doch eine andere liebst. Du hast ein Konfettiherz, Ross. Bevor du jemanden kaputt gehen sehen musst, machst du dich selbst kaputt. Du zerreißt dich für einen Konfettiregen, den eigentlich du verdient hättest und schenkst ihn jemand anderem."

Ich schüttelte den Kopf. Mein Mund wurde trocken. Nicht ich hatte ein Konfettiherz, sondern Juvia. „Nein." Auf meine Hände fixiert dachte ich fieberhaft nach. Rydels nächste Worte nahm ich nur noch am Rande wahr. „Doch, wirklich." Sie stand auf, klopfte sich den Dreck von der Hose und ließ mich mit meinen Gedanken alleine. Wenn Juvia wirklich ein Konfettiherz hatte und dabei war ich mir so gut wie sicher, würde sie alleine versuchen, die Spiegelwesen zurück in ihre Welt zu verbannen. Und wenn sie dabei draufginge.

Plötzlich war es ganz eindeutig; sie war nicht zurück zu ihrer Familie, sie war auf dem Weg, die Welt zu retten und mich hatte sie hier sitzen lassen. Ich musste sie finden, bevor sie irgendeine große Dummheit beging, aber wie sollte ich das meiner Familie sagen? Am Ende würden sie noch mitkommen wollen und das konnte ich nicht zulassen. Schließlich entschied ich mich dazu, sie zu Juvias Familie zu bringen. Selbst wenn sie sich dagegen sträuben würden, immerhin waren die Berge ihr Ziel, musste ich sie ganz einfach überreden.

Ich atmete tief durch. Warum konnte ich nicht mehr Zeit für alles haben und mir ernsthaft überlegen, was ich tun musste? Als ich aufstand, knackten meine steifen Gelenke vom langen Sitzen. Nervös ging ich die wenigen Meter bis zum Zelt, vor dem sich meine Familie um ein provisorisches Lagerfeuer versammelt hatte. Ein paar geöffnete Konservenbüchsen standen herum, in der Mitte des Feuers stand ein Topf. Die bräunliche Flüssigkeit darin warf hin und wieder Blasen. „Das wollt ihr ernsthaft essen?", platzte es aus mir heraus.

Rocky grinste mich an: „Das frag ich mich auch schon seit einer Woche." Auch Mum lächelte: „Es schmeckt wirklich besser, als es aussieht. Immerhin haben wir überhaupt etwas zu essen." Ich musste an die Vorräte denken, die in Dwights Keller waren und die keiner benutzte. „Wobei euch eine Diät...", fing Dad an, wurde allerdings von Mum mit ihrer behelfsmäßigen Schöpfkelle geschlagen. „Mark", sagte sie empört, „wir wollten doch keine Witze mehr darüber machen." Dad hob die Schultern: „Bevor wir gar keinen Grund mehr zum Lachen haben, sollten wir uns über alles lustig machen."

Unschlüssig stand ich da und überlegte, ob es Sinn machen würde, sich zu setzen. „Ich hab euch was zu sagen", fing ich an. Alle wandten sich zu mir. Ich hatte sogar das Gefühl, dass die braune Brühe mich anstarrte. „Ihr habt ja sicher schon bemerkt, dass Juvia weg ist." Schweigen. Ohne zu blinzeln oder zu jemand bestimmtem zu sprechen, fuhr ich fort: „Ich muss ihr folgen."

Reflektionen (Ross Lynch/R5)Where stories live. Discover now