Kapitel 29 "Realitätswunden"

49 8 8
                                    

Ich hatte es geschafft. Fast schon fasziniert blickte ich an der Fassade hinauf und fragte mich, ob es nicht vielleicht doch nur ein Traum war. Der nächste Schritt erinnerte mich allerdings daran, dass Träume für gewöhnlich nicht so weh taten. Es war ziemlich unangenehm zu laufen, aber nachdem ich vom Dach aus nach hier unten geklettert (oder mehr gesprungen) war, machte es mir nicht mehr viel aus. Nachdem ich endlich auf dem Boden angekommen war, hatte ich mir eine lange Pause gegönnt.

Es hätte mich nicht unbedingt gewundert, wenn ich hier auf der betonierten Veranda eingeschlafen wäre. Meine Arme und Beine fühlten sich so schwer an wie Blei, jeder Muskel in meinem Körper schien sich persönlich bei mir beklagen zu wollen. Die Haut an meinen Händen brannte, da ich sie wohl mehrfach überlastet hatte. Für gewöhnlich klammerte ich mich allerdings auch nicht an Fenstersimse oder Dachkanten.

Eigentlich sollte man ja offen für Neues sein, aber für heute hatte ich definitiv genug. Um nicht zu sagen für mein ganzes Leben. Inzwischen hatte ich mir überlegt, dass es wohl gar keine dumme Idee war, wieder ins Haus zu gehen. Selbst wenn Dwight sich befreit hatte, was ich nach wie vor für wahrscheinlich hielt, würden wir uns in den verzweigten Gängen wohl kaum über den Weg laufen.

Solange ich mich leise verhielt und mich in den Zimmern aufhielt, die ohnehin nicht benutzt wurden, war das Risiko überschaubar. Außerdem war es unwahrscheinlich, dass er mich erwartete, schließlich war ich mit dem Helikopter davongeflogen. Jetzt saßen wir beide hier fest, zumindest, wenn man den Weg durch die Wüste nicht zu Fuß zurücklegen wollte. Langsam -schnell war aktuell keine Option- bewegte ich mich durch die Gänge.

Hinter jeder Ecke erwartete ich, von einem wütenden Mann angesprungen zu werden, aber es blieb still. Fast kam es mir wie ein Geisterhaus vor, ohne jegliche Spur von einem Bewohner. Während ich mir die Zimmer in der Nähe des Eingangsportals ansah, suchte ich auch nach möglichen Waffen. Mal abgesehen von den Stühlen schienen mir die meisten Dinge völlig ungeeignet. Da die Zimmer als Notunterkünfte konzipiert waren, gab es darin nicht übermäßig viel.

Die spärliche Einrichtung bestand in den meisten Fällen aus einem Bett, und einem Stuhl, wenn man viel Glück hatte, gab es auch einen Schreibtisch und eine Nachttischlampe, allerdings keinen Nachttisch, was die ganze Sache irgendwie unnötig machte. Zunächst hatte ich in Erwägung gezogen, die Lampe als Waffe zu benutzen, aber sie war am Boden festgeschraubt und ich hatte keinen Schraubenzieher zur Hand. Ansonsten hätte ich den wahrscheinlich ohnehin der Lampe als Waffe vorgezogen.

Ich konnte nicht von mir behaupten, sonderlich erprobt in irgendwelchen Kampfkünsten zu sein; Mum meinte immer, dass Wegrennen die beste Lösung sei. Im Nachhinein war es ziemlich kurzsichtig, anzunehmen, dass man immer weglaufen konnte. Vorhin hatte es mir zwar das Leben gerettet, aber ich hätte nicht ewig weiterrennen können. Was wäre dann aus mir geworden? Ein weiteres Opfer der Spiegelwesen? Höchstwahrscheinlich.

Die Vorstellung sollte mich wohl mehr ängstigen, als sie es tat. Hier im Haus trieb sich ein wahnsinniger herum, dessen Spiegelbild ich hoffentlich über den Jordan geschickt hatte. Was ihn aber erst richtig gefährlich machte, war der Spiegel um seinen Hals. Unter seinem Hemd war er mir natürlich nicht aufgefallen, aber jetzt, wo ich es wusste, machte ich mir Sorgen. Bisher hatte ich angenommen, dass ich hier zwar ein Gefangener war, aber wenigstens in Sicherheit.

Davon konnte jetzt keine Rede mehr sein. Mal ganz davon abgesehen, dass ich nicht wusste, was auf der Welt passiert war, während ich im Keller hockte und mir Fluchtpläne ausdachte, die letztendlich doch nicht geklappt hatten. Zumindest war ich jetzt nicht mehr eingesperrt und konnte mich frei bewegen. Trotzdem hatte sich nicht viel verändert, da ich aus diesem Haus nicht wirklich raus kam.

Ich wusste nicht wohin und selbst wenn, hatte ich keine Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen. Mit jeder Minute wurde ich sicherer, dass ich nicht dazu bestimmt war, diese Schlacht zu schlagen. Das sah man schon daran, dass ich mir bei der erstbesten Gelegenheit die Knochen brach und bei dem Tod meiner einzigen Verbündeten zusah und rein gar nichts machte.

Eigentlich hätte sie es mehr verdient, hier zu stehen. Ein plötzlicher Anflug von Trauer ließ mich gegen die Wand fallen. Ich verzog das Gesicht und verbarg es in meinen Händen. Meine Unterlippe bebte, während ich die Tränen zurückkämpfte. Wenn das alles hier vorbei wäre, hatte ich immer noch genug Zeit, mich zu bemitleiden. Wütend über meine eigene Schwäche fuhr ich mir ungestüm durch die Haare.

Meine schmerzende Rippe ignorierte ich einfach. Ich wusste genau, dass wenn ich noch länger über Juvia nachdenken würde, wirklich Tränen fließen würden. Es war so unfair, dass sie tot war. Vermutlich sah ich aus, wie ein Drogenjunkie, der in eine Schlägerei geraten war. Meine Augen waren gerötet, meine Haare zerzaust und an meinen Kleidern klebte Blut von etlichen kleinen Schürfwunden, die ich mir zugezogen hatte.

Mühsam richtete ich mich wieder auf. Ob es wohl eine große Dummheit wäre, duschen zu gehen? Wahrscheinlich schon, aber ich ignorierte die Stimme der Vernunft in meinem Kopf einfach. Ich hatte heute zu viel durchgemacht, um jetzt auf eine Dusche zu verzichten. Selbst wenn Dwight vom Rauschen des Wassers auf den Plan gerufen werden würden, war er um einiges besser als das Spiegelwesen, das zu ihm gehörte.

Ohne die Beeinflussung durch dieses Wesen war er möglicherweise sogar ganz normal. Zumindest einigermaßen. Danach würde ich mich um meine Rippe kümmern. Ich wollte seufzen, spürte aber, wie sie dagegen rebellierte, also unterdrückte ich den Impuls. Bisher hatte ich mir nie Gedanken um so einfache Bewegungen machen müssen. Eine Weile irrte ich durch die Gänge, bis ich die Duschen endlich fand.

Der Stapel von Handtüchern war zwar geschrumpft, würde für meine Bedürfnisse aber noch lange ausreichen. Das Wasser zu meinen Füßen färbte sich rötlich, während ich mir das Blut vom Körper wusch. Kühles Nass prasselte auf mich hinab und beruhigte meine aufgewühlten Gedanken. Mir war nicht mehr ganz so sehr zum Heulen zu Mute. Es gab Wichtigeres, um das ich mich kümmern musste.

Sobald das Wasser, das an mir hinuntergelaufen war, klar wurde, drehte ich den Hahn zu. Ich nahm mir ein Handtuch und rubbelte mich schnell trocken. Länger als nötig wollte ich nicht hier bleiben, da man hier logischerweise zuerst nach mir suchen würde. Da auch meine Klamotten eine Wäsche vertragen könnten, hielt ich sie alle unter den Duschkopf. Über mir in der Reihe fehlte einer.

Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wo ich ihn verloren hatte. Nachdem meine Kleider durchnässt waren, wrang ich sie schnell aus und umwickelte sie mit Handtüchern. Anschließend machte ich mich auf den Rückweg zu dem Zimmer, das ich mir ausgesucht hatte. Bei meinem Glück würde ich es zwar nicht mehr finden, aber hier machte das ohnehin keinen Unterschied. Die Zimmer sahen alle gleich aus und auch die Gänge unterschieden sich nicht.

Wenn ich hier wohnen würde, sähe es vermutlich ganz anders aus. Zumindest ein paar Bilder hätte man doch aufhängen können, damit man sich besser orientieren konnte. Während ich durch die Gänge schlich, lauschte ich auf jedes noch so kleine Geräusch, damit ich zur Not in einem der Zimmer unterschlüpfen konnte, bevor Dwight mich hier fand. Im Moment war ich nicht in der Verfassung, gegen ihn zu kämpfen.

Mal ganz abgesehen davon, dass ich mir fast sicher war, dass er weitere Waffen hatte. Als ich bei meinem Zimmer ankam, hielt ich es für fast schon zu einfach. Misstrauisch öffnete ich die Tür. Das Zimmer war genauso verlassen, wie ich es zurückgelassen hatte. Ich wurde wohl paranoid. Meine Kleider hängte ich über den Stuhl, dann knipste ich das Licht aus, damit man es nicht unter dem Türspalt durchfallen sah.

Die Müdigkeit, die die Dusche für eine Weile vertrieben hatte, kroch langsam wieder zurück in meinen Körper. Abermals musste ich dank meiner Rippe den Impuls des Gähnens unterdrücken, was gar nicht so einfach war. Da ich keinen Verband zur Hand hatte, der meinen Brustkorb zusammen halten konnte, begnügte ich mich mit einem Handtuch. Hoffentlich würde das reichen. Meine restlichen Wunden würden wohl auch heilen, wenn ich sie nicht verarztete.

Außerdem hatte ich hier auch gar keine Möglichkeit dazu, selbst wenn ich noch die Kraft dazu aufbringen hätte können. Schläfrig kroch ich unter die Decke. Es war noch nicht dunkel, weshalb das Licht der Sonne durch meine geschlossenen Lieder drang. Dennoch dauerte es nicht lange, bis ich einschlief. In dieser Nacht hatte ich zum Glück keinen Alptraum. Die Realität war wohl beängstigend genug geworden.

Reflektionen (Ross Lynch/R5)Where stories live. Discover now