Kapitel 33 "Wachsweg"

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Lange später wachte ich auf. Mal abgesehen von meinen Händen erinnerte nichts mehr daran, was gestern geschehen war. Vielleicht hatte ich es mir ja doch bloß eingebildet. Das Haus lag vollkommen still da, nicht einmal der Boden knarzte unter meinen Füßen. Im Vergleich dazu kam mir mein Atem laut und unregelmäßig vor. „Juvia?", fragte ich laut, und hoffte, dass sie mich hören würde.

Da ich keine Antwort bekam, nahm ich an, dass sie entweder nicht mehr im Haus war, oder am anderen Ende und mich deshalb nicht hörte. Deshalb lief ich zurück zu meinem Zimmer, der Boden unter meinen bloßen Füßen war kühl und rau. Während ich etwas aß und trank, machte ich mir Gedanken darüber, wie es von jetzt an weitergehen sollte. Falls es wirklich keine Möglichkeit gäbe, von hier wegzukommen, musste ich mich wohl oder übel zu Fuß auf den Weg machen.

Ich hatte keine Ahnung, wie weit der nächste Ort von hier entfernt war und ich befürchtete, dass es ein ganzes Stück war. Mit meiner gebrochenen Rippe und den Wasservorräten, die ich mitnehmen musste, wäre ich zudem noch um einiges langsamer, als normalerweise. Es würde Tage dauern, bis ich einen fahrbaren Untersatz gefunden hätte. Allerdings glaubte ich nicht, dass Dwight wirklich nur den Hubschrauber hier gehabt hatte.

Er musste gewusst haben, dass die Möglichkeit bestand, dass jemand ihn hier fand. Der Hubschrauber konnte nicht sein einziger Ausweg gewesen sein. Nachdem ich gefrühstückt hatte -laut Sonnenstand war es zwar bereits später Nachmittag, aber das machte nichts- begab ich mich auf die Suche nach Juvia. Ich vermutete zwar, dass sie zurück in den Spiegel hatte müssen und ich von nun an erst mal auf mich alleine gestellt war, aber ich hatte ohnehin nichts Besseres zu tun.

Schon im zweiten Gang stieß ich auf den Hinweis, den sie mir in der Holzvertäfelung hinterlassen hatte. Ein dicker Pfeil war in die Platten geritzt worden, wie ein unübersehbarer Wegweiser. Im nächsten Flur verhielt es sich genauso und so führte mich ihre Spur durch das Haus, bis ich vor einer Tür stand. Obwohl hier alles gleich aussah, kam mir der Raum dahinter bekannt vor. Das hier war die vermeintliche Folterkammer, in der mir der echte Dwight begegnet war.

Ich fragte mich, wann ich mit ihm geredet hatte und wann mit seinem Spiegelbild. Das war auch die Erklärung dafür, warum er sich manchmal nicht an Dinge erinnerte, die er mir erzählt hatte. Im Nachhinein hätte ich es mir vielleicht denken können. Ich schaute mich ein wenig im Raum um, bevor ich einen weiteren, sehr viel kleineren Pfeil bemerkte. Fast hätte ich ihn übersehen und meine Besichtigung fortgesetzt.

Diesmal war er direkt in die weiße Tapete geritzt, die den Spalt zu schließen versuchte, wie eine Wunde. Etwa auf Schulterhöhe befand sich eine kleine Erhebung dort, worauf der Pfeil zeigte. Ich hob den Arm und drückte dagegen. Fasziniert beobachtete ich, wie sich ein Teil der Wand nach hinten schob und auf Rollen zur Seite glitt. Tatsächlich war diese Tür nur drei Zentimeter dick, verschmolz aber trotzdem perfekt mit ihrer Umgebung. Alleine hätte ich den Mechanismus wohl nicht gefunden.

„War ja klar, dass ich in so einem Haus mit Geheimtüren rechnen muss", murmelte ich leise. Der Lichtschein fiel nur wenige Meter tief in den Gang hinein. Er war bei weitem schmäler als die normalen Flure, aber schien nicht möblierter. Bereits nach wenigen Schritten verlor ich vollkommen die Orientierung und hatte ständig das Gefühl, gegen eine Mauer zu laufen. Mit ausgestreckten Armen tastete ich mich voran, damit ich mich zur Not mit den Armen abfangen konnte. Die Luft hier war staubig und kitzelte mich in der Nase, bis ich schließlich einige Male nießte.

„Gesundheit", sagte eine Stimme und ich machte einen Satz nach vorne, prallte gegen die Wand und fiel um wie ein gefällter Baum. Während ich mich aufrappelte, rieb ich mir die Stirn. „Was zum Henker soll das? Das ist kein bisschen lustig", wütend starrte ich in die Dunkelheit, konnte allerdings nichts erkennen. Juvia kicherte: „Es ist schon ein bisschen witzig." Ich schnaubte nur abfällig und schwieg dann. Es ärgerte mich, dass sie sich über mich lustig machte, vor allem, nachdem sie erst vor einigen Stunden von den Toten zurückgekehrt war.

Ich hatte um sie geweint und kaum war sie wieder da, rannte ich dank ihr gegen eine Wand. „Bist du jetzt beleidigt?", fragte sie. Ich war versucht, zu verneinen, aber dann ignorierte ich sie doch lieber. Vielleicht war ich ja wirklich beleidigt, aber wenn dem so war, hatte das ja wohl auch einen Grund. „Ich zeig dir jetzt, was ich gefunden hab, okay? Dann machst du hoffentlich nicht mehr eins auf beleidigte Leberwurst."

Offenbar konnte sie im Dunklen sehr viel besser sehen als ich, deshalb nahm sie meine Hand und führte mich hinter sich her. Nur zwei Minuten später stieß sie eine Tür auf, zumindest hörte es sich so an. „Hier irgendwo ist ein Lichtschalter, warte kurz." Ihre Hand ließ meine los. Es wunderte mich immer noch, dass sie warm und weich und nicht schneidend wie gebrochene Scherben waren. Schließlich vernahm ich ein Klicken und ein grelles Licht flammte auf.

Ich kniff die Augen zusammen, blinzelte einige Male und endlich schälten sich Konturen aus der Helligkeit. „Na, hab ich zu viel versprochen?", fragte Juvia und grinste mich an. Zugegebenermaßen war ich überrascht; ich hätte ihr nicht zugetraut, einen Geheimgang zu finden, vor allem, wenn ich selbst schon Stunden in diesem Raum verbracht hatte, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben. Ich starrte das Auto an, das mehr von einem großen Spielzeugwagen hatte.

„Soll das ein Auto sein?" „Es nennt sich Strandbuggy", korrigierte Juvia mich. Die Räder des Fahrzeugs waren klein, ihr Radius war vermutlich kaum 15 Zentimeter. Dafür waren sie allerdings erstaunlich breit, was irgendwie Sinn machte, wenn man sich damit in einer Wüste fortbewegen sollte. Schmale Reifen würden natürlich viel schneller im Sand einsinken. Das war also Dwights Plan B gewesen, mit dem er jetzt wohl nichts mehr anfangen konnte.

„Bist du sowas schon mal gefahren?" Ich schüttelte den Kopf: „Warum sollte ich sowas schon mal gefahren sein?" „Na dann, müssen wir eben hoffen, dass es sich nicht allzu sehr von einem normalen Auto unterscheidet." Mal abgesehen von den Reifen gab es auch noch andere Dinge, die ganz offensichtlich anders waren. Die Fahrerkabine zum Beispiel sah eher aus wie bei einem normalen Kart. Es war auch nur für eine Person Platz. Besorgt sah ich sie an: „Ich werde alleine fahren, richtig?"

Sie nickte: „Du hast es erfasst. Aber mach dir keine Sorgen, ich hab dich schon mal gefunden. Um auf Nummer sicher zu gehen, dass dich niemand vor mir entdeckt, nimm den hier." Juvia hielt mir einen kleinen Spiegel entgegen, in dessen Oberfläche eine Sigille geritzt war. „Die", sie tippte auf das Zeichen, „verhindert, dass irgendwas von drüben hierher kommt. Aber ich kann mit dir reden. Im Übrigen können wir das nicht bei allen Spiegeln machen, weil ihre Kraft nachlässt, je mehr von ihnen benutzt werden."

Zweifelnd verstaute ich den Spiegel in meiner Hosentasche. „Ich nehme mal an, dass sich, falls du deine Familie findest, keine Spiegel in der Nähe befinden. Am besten du bringst sie irgendwie hierher, dasselbe werde ich auch mit meiner Familie versuchen." Es war irgendwie klar gewesen, dass sie einen Plan hatte, der sich nicht mit Details aufhielt. „Wir sehen uns dann." Sie machte schon Anstalten, zurück in ihre Welt zu verschwinden, als ich sie an der Hand festhielt. „Viel Glück", sagte ich ernst und umarmte sie kurz. Sie nickte: „Dir auch."

„Kann ich durch deinen Spiegel gehen? Sonst muss ich mir beim nächsten Mal einen neuen suchen." Unsicher lächelte ich: „Na klar." Ich hatte mich wohl immer noch nicht so richtig an den Gedanken gewöhnt, dass Juvia kein Mensch mehr war. Es fühlte sich nicht so an, als wäre sie jetzt eine andere. Und trotzdem hatte sich so vieles verändert. Sie nahm mir den Spiegel aus der Hand, ganz vorsichtig, als wäre er aus Porzellan.

Behutsam schob sie einen Finger in das Glas und ihr Körper begann sich zu verflüssigen und in den Spiegel zu fließen. Plötzlich fiel mir ein, dass ich mich noch gar nicht bei ihr dafür bedankt hatte, dass sie mir das Leben gerettet hatte. „Danke übrigens dafür, dass du mich gestern Nacht nicht draufgehen lassen hast." Sie versuchte zu lächeln, aber ihr Mundwinkel wurde von einer unsichtbaren Kraft nach unten gezogen. Es sah aus, als wäre sie aus Wachs und würde schmelzen.

„Kein Problem. Es kann ja nicht jeder eine Jungfrau in Nöten sein." Dann wurde ihre Erscheinung wieder silbern und der Sog verstärkte sich. Innerhalb weniger Herzschläge war sie verschwunden. Den Spiegel konnte ich gerade so auffangen, bevor er auf dem Boden landen und zerspringen konnte. Ich holte tief Luft, bevor ich mich dem Wüstenfahrzeug widmete. Da ich so schnell wie möglich aufbrechen wollte, machte ich mich sofort an die Vorbereitungen. Ich ahnte bereits, dass es eine lange Nacht werden würde.

Reflektionen (Ross Lynch/R5)Where stories live. Discover now