08 - Als du perfekt warst

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Ich rief dich nicht an, aber das weißt du ja. Ich hatte einfach zu viel Angst vor dem Moment, in dem ich dich wiedersehen müsste, vor dem, was du mir sagen würdest. Ich verbrachte das Wochenende allein in meinem Zimmer und hasste mich dafür, dich einfach so geküsst zu haben.

Meine Mutter merkte, dass etwas mit mir nicht stimmte, doch als ich auf ihre Fragen nur mit unbestimmtem Murmeln antwortete, bohrte sie nicht weiter nach. Offensichtlich hatte sie meinen Vater angewiesen, das selbe zu tun; auch er ließ mich weitestgehend in Ruhe. Erst am Sonntagnachmittag klopfte er an meine Tür und forderte mich auf, doch mal Flöte zu üben, er wolle den Unterricht ja nicht umsonst bezahlen.

Obwohl mir der Kopf beinah platzte und ich mir nicht vorstellen konnte, dass das Üben sonderlich erfolgreich sein würde, holte ich mein Instrument aus seinem Köfferchen heraus, steckte die einzelnen Teile zusammen und begann zu spielen.

Entgegen meinen Erwartungen tat es gut, Flöte zu spielen. Die Konzentration auf die Noten, meine Finger und die Spannung meiner Lippen lenkten mich von meinen sich seit Stunden im Kreis drehenden Gedanken ab.

Als ich fertig war mit Spielen und die letzten Töne der Arie der Rache noch silbrig im Raum schwebten, musste ich zufrieden lächeln. Ich hatte das Stück zum ersten Mal fehlerfrei durchgespielt.

„Ich wusste gar nicht, dass du Querflöte spielst", erklang deine Stimme in meinem Rücken. Ich fuhr herum. Du standst im Türrahmen, die Hände fest um den Riemen deiner Tasche geschlossen, und lächeltest mich verlegen an.

„Was machst du denn hier?", fragte ich. Meine Stimme hatte die Tonlage einer Maus.

Zögernd kamst du auf mich zu, dann setztest du dich auf mein Bett und starrtest auf deine Hände.

„Deine Mutter hat mich reingelassen. Du..." Du stocktest und sahst mich an. „Du hast nicht angerufen."

Ich schluckte und konnte deinen Blick nicht erwidern. Stattdessen starrte ich auf meine nackten Zehen, die sich tief in meinen Teppich gegraben hatten. Angestrengt versuchte ich, mich zu entspannen.

Ich hörte, wie du die Luft ausstießt und „Ist schon okay" murmeltest. Dann schwiegen wir, ein langes, unangenehmes Schweigen.

„Hast du sonst noch irgendwelche geheimen Talente?", fragtest du nach einigen Minuten. Man konnte die aufgesetzte Fröhlichkeit in deiner Stimme deutlich hören.

Ich lachte verlegen. „Meine Mutter hat mir ein bisschen Tanzen beigebracht. Walzer. Soll ich... ich meine, wollen wir vielleicht tanzen?"

Überrascht sahst du mich an. „Ja, klar."

Du standst auf und hieltst mir deine Hand hin, doch ich schüttelte den Kopf. „Ich muss das Lied anmachen, mit dem Mama mir das beigebracht hat, sonst könnte das in einer Katastrophe enden."

Du lachtest, während ich zu dem Regal mit meinen und Kassetten ging, die richtige heraussuchte und sie auflegte.

„Du hast einen Plattenspieler? Cool." Dann, als das Lied anfing, sahst du mich ungläubig an. „Du hörst Frank Sinatra. Unfassbar. Was sollte ich noch so alles über dich wissen?"

Ich wurde rot und du lachtest und nahmst meine Hand und dann tanzten wir durch mein Zimmer.

Als Moon River vorbei war und nur noch das Rauschen und Knistern der leerlaufenden Platte mein Zimmer erfüllte, setzte ich dazu an, etwas zu sagen, zu sagen, dass es mit Leid tat, dich geküsst zu haben. Aber du legtest mir einen Finger auf die Lippen und so schwieg ich. Du sahst mir lange in die Augen und ich fragte mich, was dir durch den Kopf ging.

Bis du dich auf die Zehenspitzen stelltest und mich küsstest. In dem Moment war es mir egal, was du dachtest. Ich hörte selbst auf zu denken, war für einen Augenblick wie paralysiert. Dann schloss ich die Augen und erwiderte den Kuss genauso vorsichtig, wie er von dir ausging.

Wir berührten uns nicht, nur unsere Lippen und Nasen und dein Finger, der zu meinem Kinn heruntergerutscht war.

Das war mein erster Kuss – also, wenn man meinen Überfall auf Elis Party nicht mitzählt und ich finde, das kann man eigentlich nicht – und er war verdammt noch mal perfekt. Unschuldig und kribbelig und zart.

Als der Kuss vorbei war, nach wenigen Sekunden, die sich wie zwei Ewigkeiten anfühlten, und du mich anlächeltest, fing ich wieder an zu weinen. Damals wusste ich nicht warum und schämte mich dafür. Jetzt weiß ich, dass ich schlicht und einfach überfordert war, überwältigt von meinen Gefühlen.

Du tatst das beste, was du tu konntest; du schlangst deine Arme um mich herum und hieltst mich einfach nur fest. Ich versteckte mein Gesicht in deinen Haaren und als ich mich ausgeheult hatte und dich losließ, gingst du zur Tür und drücktest den letzten Spalt zu.

Du ließt dich auf mein Bett fallen und klopftest neben dir auf die Decke. Ich setzte mich und starrte meine Hände an.

„Wegen Freitag...", setzte ich an, doch ich wusste nicht, wie ich den Satz zu Ende bringen sollte.

„Es ist okay", murmeltest du, aber ich schüttelte den Kopf.

„Nein, Juli. Nein, das ist es nicht, verdammt. Ich hab mich total scheiße verhalten, als ich dich einfach da sitzen gelassen habe. Aber es macht mir Angst, verstehst du, es macht mir so verdammt Angst, was ich für dich fühle."

„Hey", sagtest du, nahmst meine Hand und verschränktest unsere Finger, „es ist wirklich okay. Ich... mir hat es auch Angst gemacht, als ich gemerkt habe, dass ich in ein Mädchen verliebt war. Aber das ist in Ordnung, Sanne."

Ich nickte und malte mit meinem Finger unsichtbare Muster auf mein Bein.

„Bin ich... ich meine, warst du..." Ich brach ab.

„Ob ich schon mal mit einem Mädchen zusammen war?"

Ich nickte.

„Ich war letzten Sommer in so einem Ferienlager. Sie hieß Lina und war ein Jahr älter als ich. Wir mochten uns und haben viel zusammen gemacht und irgendwie ist dann eins zum anderen gekommen."

Ich presste meine Lippen aufeinander. Du musstest es gesehen haben, denn du legtest eine Hand an mein Kinn und drehtest mein Gesicht zu dir.

„Sanne. Es waren zwei Wochen und danach habe ich nie wieder etwas von ihr gehört. Ich mochte Lina gerne, aber mit dir ist es etwas anderes. Mit dir ist das so anders." Und in deinen Augen konnte ich sehen, dass du es ernst meintest.

Als du gingst, kribbelten meine Lippen von den vielen Küssen und ich war so gut gelaunt, dass mein Vater mich beim Abendessen fragte, was du getan hättest, um mich aufzumuntern. Ich schüttelte nur lächelnd den Kopf.

Ich träume von SommerWhere stories live. Discover now