Kapitel 6

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• W E S •

Das Klingeln meines Handys erweckt meine Aufmerksamkeit, als ich mir einen grauen Hoodie über den Kopf ziehe. Meine Stimmung sinkt, als ich lese, wer mich versucht zu erreichen. Es ist mein Vater.

Seufzend nehme ich den Anruf entgegen. "Gideon, was willst du?", frage ich ohne Umschweife und lehne mich an die Wohnungstür. "Ich wollte eigentlich gerade zur Arbeit."

"Das kannst du gleich. Ich möchte dich nicht lange aufhalten. Eigentlich wollte ich dich nur an den Geburtstag deiner Mutter erinnern. Sie würde sich freuen, wenn du kommst."

"Der ist doch erst in einem Monat", murmle ich und massiere mir die Schläfe.

Meine Eltern und ich haben ein angespanntes Verhältnis. Wegen unterschiedlicher Vorstellungen über meine Zukunft hat es schon die eine oder andere Diskussion mit den beiden gegeben. Während sie wollen, dass ich studiere, bin ich mit meinem derzeitigen Job in der Pizzeria zufrieden. Ich bin unabhängig von meinen Eltern, kann so leben, wie ich es mir vorstelle.

"Wesley, hörst du mir eigentlich zu?"

"Entschuldige, ich war in Gedanken."

"Es würde uns viel bedeuten, wenn du nach Hause kommen würdest. Es ist eine Weile her, seit wir dich zu Gesicht bekommen haben", erinnert er mich und versucht damit, mir ein schlechtes Gewissen zu machen.

Dabei weiß er genau, woran es liegt, dass ich sie so selten besuche. Eben weil ich keine Lust darauf habe, mich jedes Mal wieder für meinen Lebensstil rechtfertigen zu müssen.

"Ich weiß nicht, ob ich die Zeit dafür fi..."

"Du kannst gern jemand mitbringen, wenn du möchtest", schlägt er vor, was mich die Augen verdrehen lässt. "Gideon, lass es gut sein. Ich werde sehen, was sich machen lässt. Aber rechnet nicht damit, dass ich da sein werde", mache ich ihm klar und lege dann auf.

Für einen Moment verweile ich noch an der Tür gelehnt, drücke mich dann ab und schaue in den Spiegel, der im Flur an der Wand hängt. Ich betrachte mein müdes Gesicht, das mich schuldig anstarrt.

In meinem Umfeld wissen nicht viele darüber Bescheid, dass ich adoptiert bin. Es ist auch eigentlich keine große Sache. Gideon und Annabelle sind nach wie vor die Menschen, die mich aufgezogen haben. Aber es hat in der Vergangenheit zu einigen Problemen geführt, die ich vor allem mit mir selbst ausmachen musste. So hat mich etwa der Gedanke lange beschäftigt, warum man mich erst weggegeben hatte.

Für die beiden war es wie ein Traum, der sich endlich erfüllen würde, als sie zum ersten Mal mir gegenüberstanden haben. Sie haben zuvor viele Jahre versucht, schwanger zu werden. Jedoch ohne Erfolg. Daher haben sie beschlossen, mich zu sich zu holen. Und wir sind zu einer glücklichen Familie geworden.

Als ich vierzehn Jahre alt gewesen bin, haben sie dann auf einmal verkündet, dass sie schwanger seien. Jeder hatte sich für sie gefreut, und ich freundete mich mit dem Gedanken an, der große Bruder zu sein.

Nach ein paar Wochen hat Anna aber auf einmal über schlimme Schmerzen im Unterleib geklagt. Ein Besuch bei ihrem Frauenarzt hat dann herausgestellt, dass sie eine Fehlgeburt erlitten hat. Das scheint sie bis heute nicht verkraftet zu haben. An der Wand neben unseren Familienfotos hängt ein Ultraschallbild.

Seitdem hat sich für uns alles verändert. Meine Eltern haben auf einmal begonnen, alles für mich zu planen, und haben bestimmt, wie es für mich weitergehen soll. Die Fehlgeburt hat etwas in ihnen ausgelöst, das unser heutiges Verhältnis noch immer schadet.

Die Erinnerungen daran zur Seite schiebend, nehme ich meine Jacke vom Haken und öffne die Wohnungstür.

Sonst bin ich nicht allzu motiviert zu arbeiten. Aber gerade habe ich das Gefühl, dass Arbeit genau das Richtige ist, um mich abzulenken.

Someone like You [boyxboy] | ✔Where stories live. Discover now