Ankunft

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Als er seine feldgraue Uniform anlegte, verschwand der sanftmütige Blick in seinen Augen und wich einem ernsteren Ausdruck, welcher seinem eigentlichen Naturell viel eher entsprach. Die diversen Insignien und Abzeichen blitzen auf und so folgte das helle Blau in seinen Augen. Er trat vor den Spiegel seines Badezimmers, um zu überprüfen, ob er auch alles vorschriftsgemäß und im richtigen Winkel angebracht hatte. Dabei streifte er jeden Millimeter seines Körpers ab, bis er plötzlich bei seinen Augen verharrte. Erst ganz verloren, dann schlagartig zur Seite tretend, weichte er seinem eigenen Blick aus. Er konnte ihm nicht standhalten. Jeden Morgen wiederholte sich dieses Ritual und er hatte keine Ahnung, wieso er sich nicht selbst in die Augen sehen konnte, obwohl er sich bereits etliche Male das Hirn darüber zermartert hatte. Auch diesen Morgen konnte er keine Antwort finden, jedoch blieb ihm auch keine Zeit weiter darüber nachzudenken, und so verhärtete sich sein bereits ernster Blick nur noch weiter. Er schritt aus dem Badezimmer und lief quer durch sein Schlafzimmer, vorbei an seinem Bett, auf dem sowohl Bettdecke als auch Kissen sich wieder in dem Zustand befanden, als hätte niemand in ihnen die Nacht verbracht. Vorbei auch am großen Eichenholz-Schrank, in dem sich weitere Uniformen und ein paar alltäglichere Kleidungsstücke befanden. Nachdem er die breite Treppe hinuntergegangen war, verharrte er noch einen kurzen Augenblick in der prunkvollen Eingangshalle, um für ein paar Sekunden die Ruhe vor den vielen Stimmen, denen er heute noch Gehör schenken musste, zu genießen. Dabei legte er seinen pechschwarzen Ledermantel um und zog seine Schirmmütze auf. Dann trat er selbstbewusst vor die Tür und ging fast schon marschierend auf einen leicht untersetzten Mann zu, der ebenfalls eine feldgraue Uniform trug. "Guten Morgen, Herr Kommandant." Der untersetzte Mann erhob seine rechte Hand zum Gruß und sprach erst weiter, nachdem ihm der Gruß erwidert wurde. "Heute werden 43 neue Insassen erscheinen. Darunter überwiegend weibliche Juden aus Pommern, sowie zwei englische Spioninnen. Mechtner hat aber bereits den Auftrag erhalten, an acht von ihnen Studien durchzuführen, weshalb die Neuankömmlinge erst ausgemustert werden müssen. Die acht Ausgewählten dürfen dann nicht weiter hygienisch-präventiv behandelt werden. Ferner teilte er mir mit, dass er diesmal wohl nur weibliche Teilnehmerinnen benötigt. Die Ankunft beträgt punkt zehn Uhr. Haben Sie persönlich vor die Ausmusterung leitend vorzunehmen, Herr Kommandant?" Der Kommandant, der die ganze Zeit aufmerksam zugehört hatte, nickte einleitend und retournierte dann mit einem kurzen "Selbstverständlich." Schmunzelnd zog der untersetzte Mann von dannen. "Gewissenhaft, wie immer", murmelte er. "Schließlich könnte er das auch mich, seinen Adjudanten, allein erledigen lassen." Der untersetzte Mann, dessen Name eigentlich Hans Wehrer lautete, arbeitete zwar schon seit geraumer Zeit als Adjudant für den Kommandanten, doch er hatte noch nie erlebt, dass dieser eine Aufgabe auf ihn übertrug, die er nicht auch selbst hätte erledigen können. Wehrer war zwar auch nicht der Typ, den das wirklich störte, aber ihn beschäftigte die Frage, ob dies wohl an mangelndem Vetrauen ihm gegenüber liegen könnte, oder ob es nicht doch einfach nur an seinem imensen Pflichtbewusstsein lag.
Als um 10 Uhr der Zug mit den neuen Insassen eintraf, wurde dieser bereits von einer ganzen Schar uniformierter Männer erwartet. Begleitet von laut bellenden Schäferhunden, die kaum als der Zug angehalten hatte, begannen an ihrer Leine zu zerren und nur mit Mühe zurückgehalten werden konnten. Als die Neuankömmlinge ausstiegen, wurden sie von einem Schwall harsch klingender Zurufe begrüßt. "Alles aussteigen!", "Na los, weiter!" und "Schneller!", ertönte es immer wieder, bis auch wirklich jeder aus dem Zug ausgetreten war. Jeder, mit Ausnahme einer bereits ergrauten Frau, die regungslos in einer der Ecken des vorletzten Zugabteils zusammengekauert lag. Ihr Gesicht war der Zugwand zugekehrt. Einer der Uniformierten trat schimpfend in das Abteil und trat der Frau unsanft mit seinen Lederstiefeln gegen den Oberschenkel, doch diese entgegnete ihm nur mit weiterer Bewegungslosigkeit. Daraufhin packte er ihr Handgelenk, wartete einige Sekunden ungeduldig und ging dann zurück zu seinen Kameraden, denen er fast beiläufig "tot" entgegenrief. "Weiter geht's, macht schnell und lauft endlich weiter!" Die Neuen gehorchten dem Befehl und liefen weiter, bis sie nach mehreren Minuten Dauerlauf einen großen, freien Platz erreichten auf dem sie sich in Dreierreihen aufstellen mussten. Es war ein kalter Morgen obwohl es noch nicht einmal November war und so zitterten die Wartenden, von denen kaum jemand warm genug gekleidet war, bis endlich der Kommandant sein Gespräch mit Wehrer und dem Lagerarzt Ludwig Mechtner eingestellt hatte und die Ausmusterung begann. Dabei rief Wehrer den Namen jedes Einzelnen der neuen Insassen und forderte sie auf nach vorne zu treten. So überprüfte er gleichzeitig ihre Anwesendheit. Mechtner und der Kommandant begutachteten dann die Körper der Neuankömmlinge, wobei die wenigen Männer sofort aussortiert werden konnten. Die Frauen hingegen mussten ihre Mäntel ausziehen, sofern sie einen trugen, und sich den Berührungen des kritischen Mediziners hingeben. Außerden wurden ihre Augen, Ohren und das Innere ihrer Münder streng überprüft. Der Kommandant beobachtete alles scharf, wobei er keine Miene verzog, bis er eine junge Frau erblickte, die ihm ins Auge fiel.

Der Kommandant [PAUSIERT]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt