Spiegel

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Wer ist das? Samira berührte das ausgemergelte Gesicht einer jungen Frau. Die blasse Haut sah kränklich aus und fühlte sich rau an. Ihre Wangenknochen traten deutlich hervor und ihre einst strahlend blau-grünen Augen hatten zwar das Funkeln nicht verloren, aber den Glanz. Außerdem wirkten sie ungeheuerlich müde, so als hätten sie sich schon monatelang nicht mehr ausruhen und entspannen können.
Samira streichte das Haar der jungen Frau und hielt danach einen Büschel davon in den Händen. Zwar hatte die junge Frau nie dichtes, kräftiges Haar gehabt, aber so ausgedünnt und strohig war es nie gewesen. Schlimmer aber noch als das, war es, den Anblick ihres Körpers zu ertragen. Keinerlei Rundungen waren mehr zu erkennen - der Körper eines Kindes - dafür waren aber die Abdrücke von Knochen gut zu erkennen, welche haufenweiser blauer Flecken zierten.
Was war diesem armen Ding nur widerfahren, fragte Samira sich instinktiv. Die junge Frau sah aus, als hätte man sie Ewigkeiten als Sklavin gehalten, die irgendwann halb verhungert sich aus den Klauen ihrer Peiniger befreit hatte, und nun verloren in der Wildnis stand. Langsam und zitternd streckte Samira ihre Hand der jungen Frau entgegen, immer weiter weg von sich selbst, bis sie gegen eine spiegelglatte Oberfläche fasste, und erschrocken zurückwich. Dann endlich erkannte sie, was sie sowieso schon die ganze Zeit wusste: Die junge Sklavin war sie selbst.
Samira brach widerstandslos in Tränen aus. Bitterlich schluchzend war sie einerseits nicht mehr in der Lage, sich ihrem Spiegelbild abzuwenden, andererseits aber auch nicht den Anblick mit Fassung zu ertragen. Trotz allem, was sie erlebt hatte und allem, was sie durchgestanden hatte, war der Preis des Verlustes ihres einztigen Erscheinungsbildes zu hoch. Dabei ging es ihr in erster Linie gar nicht um Schönheit, denn sie selbst hatte sich nie als besonders schön empfunden und auch nie gewusst, ob andere ihren Körper für "schön" gehalten hatten. Viel eher hatte sie das Gefühl wieder ein Stück Vergangenheit, einen Teil ihrer Identität, verloren zu haben. Was blieb ihr noch von Früher, außer ihrer Erinnerungen? All ihrer Habe und ihres Guts enteignet blieb ihr nicht einmal das goldene Armkettchen, was einst das letzte Geschenk ihrer Mutter war. Die Menschen ihrer Vergangenheit waren tot oder verschwunden, zuletzt selbst Cathy. Und schließlich hatte sie sogar ihre Gesundheit und ihr Aussehen verloren. Was also, wenn auch noch ihre Erinnerungen irgendwann verblassen sollten, sei es wegen Krankheit oder Alter? Ihr blieb nichts und auch kein Beweis, dass es wirklich so war, wie sie sich erinnerte. Nicht einmal ein Beweis wirklich als Samira Reeza gelebt zu haben blieb, denn würde sie jetzt sterben, würde sie keiner mehr erkennen können und um sie trauern.
All diese Erkenntnisse führten dazu, dass es Samira so vorkam, als würde sie in ein tiefes, schwarzes Loch gezogen werden, aus dem sie sich selbst wohl nie hätte befreien können, hätte sie sich jetzt nicht gegen dieses Gefühl gewehrt. Wofür hatte sie überlebt, wenn sie sich jetzt der Trauer und der Verzweiflung hingegeben hätte? Es wäre seelischer Selbstmord gewesen. Darüberhinaus lebte sie nicht mehr allein für sich selbst, sie lebte für die Wahrheit. In ihr hatte sich ein enormes Urvertrauen entwickelt, dass diese Zeit des Terrors irgendwann enden würde, und sie war jung genug, diese Zeit noch miterleben zu dürfen. Dann aber würde man Menschen benötigen, die das Leid, den Schmerz, die Erniedrigung und Ungerechtigkeit erfahren hatten und ihre Stimme erhebten, den Leuten die Wahrheit mitzuteilen. Sie würde eine dieser Personen sein und ihre ganz persönliche Geschichte teilen, sodass sadistische Werter wie Wehrer, mordende Ärzte wie Mechtner und organisierende Verbrecher wie der Kommandant ihre gerechte Strafe erhalten würden. Auch sah sie sich verpflichtet, den Stimmlosen eine Stimme zu geben und Cathys und Helens Geschichte Publik zu machen. Außerdem wollte sie es sein, die Cathys Vater irgendwann gegenüberstand und ihre Schuld eingestand, seine Tochter nicht hatte schützen zu können. Der Tod wäre viel zu einfach gewesen, sie musste aber seinem Blick und seinen Worten standhalten, egal wie viel Trauer, wie viel Schmerz und wie viel Hass sie auch beinhaltenden - selbst wenn er sie verstoßen würde und sie bis in alle Ewigkeiten verfluchte.
Mit neuer Kraft und eisernem Mut versuegten Samiras Tränen und ein kämpferischer Ausdruck in ihren Augen entstand und dem sie sich nun zuerst selbst im Spiegel stellte. Ohne einen weiteren klaren Gedanken, fischte die daraufhin eine einzelne lose Scherbe aus dem halb gesprengten Spiegel, und schnitt sich damit tief in ihre linke Handfläche. Ein Ritual, der diesen gerade gefassten Schwur ein für alle Mal festhalten würde, auf dass sie ihn nie wieder vergessen oder zweifeln würde. Sie spürte dabei auch keinen Schmerz, selbst dann nicht, als sie die Scherbe sacht auf den Boden legte und ihr warmes rotes Blut ihren Untersrm entlang rann. Zu groß waren die vergangenen Qualen, als dass sie dieser verhältnissmäßig kleiner Schnitt hätte schmerzen können. Ein trauriges jedoch zugleich auch entschlossenes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht auf, als sie sich vom Boden erhob und begann mit dem eiskalten Wasser, dass aus einem Hahn am anderen Ende des Schlauchs aufgedreht werden konnte, ihren geschundenden Körper und das frische Blut abzuspülen.
Das Wasser verschwand in einem kleinen Abfluss neben dem Hahn, doch eine kleine Pfütze bildete sich unweigerlich auf dem Boden. Es gab kein Tuch oder etwas Ähnliches, mit dem sie ihren nassen Körper hätte abtrocknen können, weshalb sie gezwungenermaßen ihr altes Drillich-Kleid zusammen knäulte und sich damit trocknete, obwohl dieses gefühlt ihren Körper mehr beschmutzte als Nässe zu entfernen. Sie hätte zwar auch das Laken auf dem Strohsack nehmen können, aber fand sie, dass diese kleine Kammer schon genug Schimmel an Wänden, Decke und Boden beheimatete, und nicht auch noch ihre zukünftige Decke befallen musste.
Sie betrachtete sich erneut im Spiegel. Ihre neue Kleidung war schlicht, nichts Außergewöhnliches. Ein einfaches, knielanges schwarzes Kleid mit Ärmeln bis zu den Ellenbogen, geschlossenem Kragen und einer Knopfleiste bis zum Nabel. Darüber eine saubere weiße Schürze ohne doppelte Rüschen, Schleifen oder sonstigem unnützen Kitsch. Dazu schwarze Lackschuhe, die sichtlich abgenutzt waren und helle knielange Strümpfe. Als sie sich so betrachtete, war sie einerseits dankbar ihren abstoßenden Körper wieder bedeckt zu sehen, andererseits lenkte sie dies auch dazu, sich wieder Gedanken um den Kommandanten zu machen. Sie blickte auf ihre selbst zugefügte Wunde, die sie mit einem abgerissenen Stück Stoff ihres ehemaligen Kleides verbunden hatte, und dachte an ihren Schwur. Dieser Mann war ein eiskalter Mörder, der keinerlei Empathie für andere zeigte und keinerlei Respekt vor den Leben hier. Nein, er musste dieses Leben hier so verachten, dass er dazu bereit war all diesen Terror zu leiten, ihn zu verantworten und ihn voranzutreiben. Wie lange hatte er wohl absurderweise hart bei der SS gearbeitet, im Glauben für Sicherheit und Recht zu sorgen, nur um dann irgendwann Kommandant einer Massenvernichtungsanstalt zu werden? Und doch... Wieso hatte er gleichzeitig entschieden, Samira so oft das Leben zu retten? War es wirklich nur, weil er sie besonders lange quälen wollte, um am Ende selbst ihren Tod zu besiegeln? Und wieso ausgerchnet sie, tatsächlich bloßer Zufall? Dazu passte aber nicht dieser Blick in seinen Augen. Dieser Blick, den Samira nicht deuten, nicht "lesen", konnte. Ihr Gegenüber legte er nie ein sadistisches Verhalten an den Tag und nie hatte er auch nur ein einziges herablassendes Wort gegen sie gesagt. Selbst als sie ihn dem Krankenzimmer verwiesen hatte, blieb er ruhig, schien sogar ehrlich niedergeschlagen. All das passte nicht zusammen.
Samira hätte sich gern noch mehr Fragen gestellt, doch sie hörte Schritte, die sich ihr zielstrebig näherten. Ihr Herz begann unweigerlich schneller zu schlagen und sie wich intuitiv zurück, obwohl sie genau wusste, dass es nur der Kommandant war, der sie abholen kommen würde. Nur der Kommandant? Sie lauschte, wie der klappernde Schlüssel in das Türschloss eingeführt wurde und sich drehte. Dann öffnete sich die Tür und im Rahmen stand stramm der Kommandant, vollständig uniformiert. Als er auf sie zukam, bemerkte sie erst richtig, wie einschüchternt dieser große, breit gebaute Mann eigentlich war. Sie war ganz allein mit ihm und plötzlich spürte Samira eine Furcht, die sie hier zum ersten Mal spürte. Angst, dass dieser Mann - wenn er es wollte - sie verletzten könnte, auf eine Art und Weise, wie sie noch nie zuvor verletzt worden war, und vor der sie sich selbst nach allem Erlebten schrecklich fürchtete. Am liebsten wäre sie noch weiter zurückgewichen, doch wollte sie sich nicht eingestehen, ihren Mut so schnell wieder verloren zu haben. Erst recht wollte sie um jeden Preis verhindern, dass der Kommandant ihre Angst bemerken konnte, weshalb sie tapfer stehen blieb, als der Kommandant etwa einen halben Meter vor ihr stehenblieb. Zitternt wagte sie es kaum aufzusehen, denn hätte sie die Gier in seinen Augen erkennen können, wäre jede Art von Hoffnung augenblicklich nichtig gewesen. Gleichzeitig war jede Sekunde in Ungewissheit die reinste Tortur. Sie ballte leicht ihre Fäuste, ließ jedoch gleich wieder locker, nachdem sie dabei Druck auf ihre Wunde ausgeübt hätte. Plötzlich endete ihr Zittern und es schien ihr auf einmal so leicht, ihren Kopf zu erheben, und dem Kommandanten ins Gesicht zu sehen. Dieser lächelte sie an.
Irritiert starrte sie auf dieses Lächeln, welches so sanft und harmlos wirkte, sie jedoch vollkommen verwirrte. Trug er eine Maske? Sie versuchte zu erkennen, ob dieses Lächeln ehrlich war, doch es war ihr unmöglich. "Gut, die Kleidung passt dir." Die Worte des Kommandanten klangen freundlich und passten zu diesem Gesichtsausdruck, doch passte der Gesichtsausdruck nicht zu diesem Mann.
Samira nickte zögerlich. "Folge mir nun. Ich werde dir zeigen, welche Räume für dich relevant sein werden und erkläre dir, welche Pflichten du von nun an zu erfüllen hast", befahl der Kommandant höflich. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, von der gerade noch so schüchtern wirkenden Samira eine Antwort zu erhalten, doch hatte sie dieses Lächeln schlagartig auf die Idee gebracht, selbst eine Maske aufzusetzten. Sie war nie eine heuchlerische Person gewesen, doch wollte sie jetzt, um ihr Ziel zu überleben zu erreichen, getreu dem Motto Der Zweck heiligt die Mittel folgen. "Sehr wohl, Herr Kommandant", antwortete Samira voll Demut dem Kommandanten, welcher sich überrascht noch einmal zu ihr umdrehte. Der Anblick, der mit gesengtem Haupt dastehenden, gehorsamen Samira, schien ihn ebenso zu irritieren, wie es sein Lächeln bei Samira getan hatte. Es schien ihn jedoch nicht zu stören, er konnte aber auch nicht sehen, wie viel Überwindung es Samira kostete, sich so devot zu verhalten.
Als sie das Kellerloch verließen, drehte Samira sich zum Abschied noch einmal dem Spiegel entgegen. Merkwürdigerweise spürte sie ein ähnliches Gefühl, wie beim ersten Mal. Sie kam sich fremd vor, aber dieses Mal erfüllte sie der Anblick nicht mit Entsetzten. Im Gegenteil sogar, sie fühlte sich stolz, denn sie würde ihre Identität nicht aufgeben, sie würde eine weitere schaffen, die sie schützen würde und von der sie sich vornahm, diese hier auch wieder zu begraben, wenn alles vorbei war oder sie keinen Schutz mehr benötigen würde. Zufrieden vernahm sie, dass sie sich endlich selbst schützen können würde.
Als sie Treppe hinaufstiegen, grinste Samira hinter dem Rücken des Kommandanten, denn ihr war klar, dass sie zwar von nun an widerwortslos jeden Befehl des Kommandanten befolgen würde, aber es nicht wirklich Samira sein würde, die die Dienerin spielt. Samira würde etwas anderes tun. Sie wollte Antworten. Fast genauso stark, wie der Wunsch zu überleben, war mittlerweile das Verlangen, endlich verstehen oder wenigstens nachvollziehen zu können. Sie wusste zwar noch nicht wie, aber sie würde den Kommandanten schon dazu bringen, vor ihr die ganze Wahrheit zu offenbaren.

Der Kommandant [PAUSIERT]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt