Experiment

819 39 3
                                    

Es verging eine ganze Woche bis Doktor Mechtner alle Vorbereitungen getroffen hatte, um mit seinen medizinischen Untersuchungen zu beginnen. Samira hatte in dieser Zeit den Lageralltag immer besser kennengelernt und längst erkannt, dass sie dieses Leben hier nicht lange so unbeschadet überstehen würde. Das bereitete ihr zunehmend Sorgen, zumal sie wusste, dass die besondere Behandlung, die sie im Rahmen ihrer Ankunft als eine der acht Auserwählten erlebt hatte, in Zukunft auch noch von großer Bedeutung sein würde. Hinzu kam außerdem, dass sie immer noch nicht über ihre Bestrafung informiert wurde. Sie hatte Wehrer seit dem nicht wieder gesehen, außer bei den alltäglichen Appellen, bei denen er sie aber scheinbar nicht weiter beachtete. Dann schmerzte auch ihre Wange wieder. Vielleicht war das hier normal, weil es eine Angelegenheit war, die möglicherweise Bürokratie erforderte, redete Samira sich ein, doch ihre innere Stimme wusste natürlich, dass das Blödsinn und kein gutes Zeichen war. Dies bestätigten ihr auch einige andere Insassen mit denen sie mittlerweile Kontakte knüpfte, welche ihr von den drakonischen Bestrafungsformen berichteten. Allesamt wurden meist sofort vollzogen oder mit einer Gnadenfrist von maximal 24 Stunden. Samira machte dies immer nervöser.
Die Menschen mit denen sie sich unterhielt, waren in der Regel freundlich und höflich, trotz der schrecklichen Erlebnisse, die sie hier schon hinter sich hatten. Scheinbar wollten auch sie sich ihre Würde als Mensch nicht nehmen lassen. Starke Menschen. Doch man erkannte, dass der Großteil kaum noch Hoffnung auf ein besseres Leben und längst aufgegeben hatte. Gebrochener Wille, aber ein starker Geist, der unbändigen Selbsterhaltungstrieb verkörperte, auch wenn man die Freiheit längst vergessen hatte. Die Häftlinge weihten sie und Helen auch in die ungeschriebenen Gesetzte des Konzentrationslagers ein, wie beispielsweise den Aufbau der Lagerhierarchie, denn nicht jeder Häftling war gleich. Ganz oben rangierten die Kapos und andere Funktionshäftlinge, die bessere Behandlung erhielten und eine bessere Tätigkeit ausübten. Besonders interessant war die Tatsache, dass dieses bisschen an Zugeständnissen in Kombination mit mehr Verantwortung schon dazu ausreichte, dass diese Männer und Frauen die Grenzen zwischen Täter und Opfer zu verwischen begannen. Einmal hatte Samira selbst gesehen, wie ein Kapo einen der Häftlinge verprügelte, weil dieser nicht die erforderliche Mindestazahl an Munitionen verpackt hatte. Dabei hatte der Kapo aber, im Unterschied zu den Aufsehern, nicht diabolisch gegrinst oder sonstige Anzeichen von Genuss gezeigt, sondern deutlich Panik und Furcht in seinem Gesicht ausgedrückt. Er schüttelte ihn und schrie dabei, dass er ja keine Ahnung habe, was er ihm damit antue, nur weil er sich mal eine kleine Pause gönnen wolle. Manchmal, das erzählten andere Insassen, gab es aber auch keinen direkten Grund für deren Brutalität. Es wahr beinahe so, als ob das Vieh zum Schlachter selbst verkommt.
Unter den Funktionshäftlingen positionierten sich alle anderen Häftlinge mit einem besonderen Merkmal: Sie alle waren Blut-Deutsche und somit immernoch Teil der Volksgemeinschaft, was sie selbst hier spüren konnten. Auch sie litten unter der Willkür der Aufseher, aber es schien als hätten sie ihnen gegenüber doch noch so etwas wie Hemmungen. Zumindest manchmal.
Es folgten die Häftlinge aus anderen Ländern, wobei selbst hier innere Abstufungen unternommen wurden. Slawen galten allgemein als Untermenschen und wurden dementsprechend am schlechtesten behandelt.
Ganz unten in der Lagerhierarchie: die Juden.
Als Samira darüber nachdachte, kam sie zu dem Schluss, dass der Sinn hinter unterschiedlicher Behandlung wohl war, dass man so die Menschen untereinander aufreiben wollte und unbedingt verhindern, dass sich ein Netz aus Wiederständlern aufbauen konnte. Wenn das wahr sein sollte, dann mussten diese SS-Mitglieder ja vollständig paranoid sein, dachte sich Samira. In dieser Hölle gab es weder Zeit noch Möglichkeiten für so eine Form des Widerstandes. Außerdem betrachtete jeder hier die Aufseher als das personifizierte Böse und Entmenschlichte. Sie waren der Feind und damit war es unmöglich große Zwietracht untereinander zu sähen.
Was Samira auch im Kopf umherging, war die Tatsache, dass sie Cathy in den paar Tagen, nicht ein einziges Mal widersehen konnte. Sie machte sich große Sorgen, um ihre Freundin, zumal diese körperlich nicht viel kräftiger als sie selbst war, aber darüberhinaus auch ihr Wille gebrechlicher. Nicht gerade die besten Vorraussetzungen, um für die britische Regierung innerhalb feindlichem Territorium zu agieren, aber eigentlich war gerade die Unsicherheit und Hilfsbedürftigkeit, die sie ausstrahlte, etwas, das sie unschuldig wirken ließ und Leute dazu brachte ihr gerne mal etwas zu viel anzuvertrauen. Unscheinbar, aber niedlich.

Der Kommandant [PAUSIERT]Donde viven las historias. Descúbrelo ahora