Kaminfeuer

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Es war kalt, als sie damals in das Konzentrationslager des Kommandanten gebracht wurde. Noch kälter, als man sie der furchtbaren Krankheit auslieferte, die sie lang durchleiden musste. Als sie des Kommandanten Dienstmädchen wurde, war die Kälte jedoch längst gewichen. Nun aber, wurde es wieder kalt. Ähnlich wie damals bei ihrer Ankunft. 

Das war alles, was sie an Zeitangabe hätte nennen können, wenn man sie gefragt hätte, wie lange sie hier schon eingesperrt und misshandelt wurde. Es fragte aber nie jemand. Auch sonst hatte nach Helen niemand über sie selbst sprechen wollen, und auch sie hatte mit keinem mehr ein echtes Gespräch geführt, wenn man von dem doch sehr einseitigen Gerede, welches sie mit Adi führte, absah. Somit hatte sie aber auch nicht die leiseste Ahnung, wie der Krieg verlief, oder wie es den Menschen außerhalb der Mauern und des Stacheldrahtes, im In- und Ausland erging. Diese Abschottung hatte ihr schon oft zu schaffen gemacht. War es doch so wichtig, um der Hoffnung einen Nährboden bieten zu können. Auch deshalb hatte sie stets versucht, die Gespräche des Wachpersonals oder der Gäste des Kommandanten zu lauschen - erfolglos. Die Ungewissheit quälte sie und nur ihr einst geleistete Schwur an sich selbst, erinnerte sie daran, dass sie weitermachen musste. Doch je länger sie diesen Alltag ertrug, desto eher schwand die Hoffnung, dass sich jemals etwas ändern würde, und ihre Befürchtungen am Ende doch hier zu krepieren - sei es aus Mangelernährung, fehlender medizinischer Versorgung oder einer missgünstigen Laune des Kommandanten - wurden immer größer. Was sie hier veranstaltete, war nichts weiter, als ein Wettlauf gegen die Zeit.

Der geknickt dasitzende Kommandant nahm gerade einen weiteren Schluck aus der gläsernen Schnapsflasche, als er die verwundert dreinblickende Samira bemerkte, die seitlich und einige Schritte entfernt von ihm dastand. Es war bereits spät abends und das Tageslicht hatte das Lager längst verlassen. Der Kommandant setzte langsam die Flasche ab und versuchte dann ihren Blick zu erwidern. Vergeblich. Seine traurig aussehenden blauen Augen trafen die ihrigen nur für den Bruchteil eines Moments, bis er leicht verschämt zur Seite sah. Samira hingegen verwunderte dieses Verhalten nur umso mehr. Nie hatte sie den Kommandanten nicht vollkommen entschlossen und überzeugt erlebt. Allein diese Haltung lies sie darauf schließen, dass etwas Ernstes vorliegen musste, doch sie traute sich nicht recht, den Anfang zu machen, und den Kommandanten anzusprechen. Allerdings war es ihr auch nicht möglich, dem peinlichen Moment zu entfliehen, und einfach ihren Tätigkeiten weiter nachzugehen. Die ganze Situation hatte etwas Surreales, was sie in ihren Bann gezogen hatte. 

Glücklicherweise löste der Kommandant die Stille und Spannung selbst auf, indem er Samira plötzlich eine Frage stellte, noch immer ohne ihr einen Blick seinerseits zu schenken: "Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?" Perplex starrte Samira auf den Kommandanten. Sie hatte weder damit gerechnet, plötzlich mit einer solchen Frage konfrontiert zu werden, noch wusste sie, ob sie tatsächlich darauf eine Antwort geben sollte. Vermutlich interessierte den Kommandanten keine ehrliche Stellungnahme, sondern viel eher eine einfache Reaktion, um in der Konsequenz die Frage selbst zu beantworten. Wahrscheinlich führte der Alkohol gerade seine Gedankengänge und ließen ihn diese wirren Worte laut aussprechen. Als der Kommandant, welcher nur Samiras Schweigen erhielt, sie allerdings nun doch ansah, erkannte Samira ernsthaftes Interesse an ihrer Meinung in seinem Blick. Ferner erblickte sie die tiefe Unsicherheit und Ratlosigkeit in seinen Augen, welche dazu führten, dass Samira ihm letztlich doch eine Antwort gab. 
"Ja", sagte sie trocken und ungerührt von dem urplötzlich so emotional auftretenden Kommandanten. Dieser reagierte mit einem kurzen Lachen, welches eher abschätzig als wohlwollend klang. Er wandte sich von Samira und starrte auf die lodernden Flammen des Kamins direkt vor ihm. So verweilte er für einige Sekunden. Ratlos darüber, ob Samira nun weiterarbeiten oder doch besser verschwinden sollte, blieb auch sie weiterhin unentschlossen stehen. Sie wollte sich gerade wegdrehen, um der unangenehmen Situation zu entrinnen, da richtete der Kommandant erneut das Wort an sie: "Setz dich", befahl er sanft, nicht bestimmend. Samira versetzte diese Aufforderung in Fassungslosigkeit. War etwas geschehen, oder war tatsächlich nur der Alkohol schuld? Doch wieso hatte er dann angefangen zu trinken, wenn er unter Alkoholeinfluss ein solches Verhalten an den Tag legte, was seinem Charakter doch offensichtlich so widerstrebte? Ihre Gedanken überschlugen sich, doch ihr Körper gehorchte konditioniert wie er mittlerweile war den Befehlen des Kommandanten. Sie setzte sich an den Rand des Sofas, dort wo sie den größtmöglichen Abstand zum Kommandanten vorweisen konnte. Auch sie starrte angespannt auf die tanzenden Flammen im Kamin und hoffte darauf, dass diese verkrampfte Stille bald weichen würde. Die ungewissen Gedanken und Schlafmangel bereiteten ihr zunehmen Kopfschmerzen.
"Was macht dich da so sicher?" Die zweite Frage des Kommandanten kam unerwartet. Samira drehte ihren Kopf leicht in seine Richtung und schielte auf sein Gesicht. Eine undeutbare Mimik begegnete ihr und auch der Tonfall der Frage, ließen Samira nicht darauf schließen, welche Intention der Kommandant tatsächlich verfolgte. Sie entschied sich gewissenhaft zu antworten, aber auch so kurz wie möglich: "Das menschliche Dasein hätte ansonsten keinen Sinn mehr für mich. Wieso können wir frei denken und entscheiden, was uns ja gravierend von einem Tier unterscheidet, wenn uns am Ende dafür keine Konsequenzen nach einem universellen Maßstab drohen? Einem Maßstab, der nicht davon abhängig ist, zu welchem Zeitpunkt an welchem Ort man gerade ist." Der Kommandant schien ihren Standpunkt nicht nachvollziehen zu können, denn er retournierte mit einem argwöhnischen Blick gen Samira. "Mir ist nicht klar, wieso du aufgrund des Vorhandenseins des menschlichen Verstandes auf ein Leben nach dem Tod schließt, welches scheinbar von einer zuvor richtenden Instanz bestimmt wurde. Zumahl ich dachte, dass es bei euch gar keine Hölle gibt." Die letzte Bemerkung wurde durch einen abfälligen Tonfall untermalt. Samiras Gesichtsausdruck hingegen verhärtete sich ein wenig. "Ein gläubiger Jude kennt keine Hölle, wie sie sich die meisten vorstellen würden, das ist korrekt, falls Sie das denn meinten." Der Kommandant lächelte gehässig und musterte Samira etwas genauer. Halb sarkastisch fragte er dann nach: "Bist du denn keine Jüdin, oder warum ist deine Aussage so allgemein formuliert?" Ohne mit der Wimper zu zucken, begegnete Samira ihm mit zwei Gegenfragen: "Spielt das denn eine Rolle? Habt ihr denn nicht längst aus Religion Rasse gemacht, die nach besiegelten Papieren geht, statt auf persönliche Gesinnung zu achten?" Der Kommandant reagierte daraufhin nur belustigt und mit einem breiten Grinsen antwortete er: "Persönliche Gesinnung... Dann würde ja kein einziger Parasit von euch mehr zugeben, dass er Jude ist, und sich somit weder selbst seine Schuld eingestehen noch vor uns. Diese Schuld hat sowieso schon längst nichts mehr mit Glaube zu tun, sondern mit euren natürlichen biologischen Voraussetzungen. Das ist Wissenschaft. Wer in dieser Zeit noch glaubt, außer an sich selbst oder den Führer, der muss zweifelsfrei ein Idiot sein und sich lieber mal bei einer unserer Heilanstalten für geistig Zurückgebliebene melden." Er lachte.
Samira war während seiner Antwort schon ganz schlecht vor Zorn geworden. Ihr inneres Ich hätte nur zu gern zum verbalen Gegenschlag ausgeholt, doch sie musste sich zügeln, saß doch der Kommandant am längeren Hebel, was ihr Schicksal betraf. Stattdessen ignorierte sie seine Beleidigungen sowie seine Haltung zu pseudowissenschaftlichen Aussagen und konzentrierte sich auf seine Meinung bezüglich des Glaubens im Allgemeinen - etwas worin sie keine Gefahr sah, sich zu sehr hineinzusteigern:" Jeder Mensch glaubt an irgendetwas, auch die Leute, die behaupten nur die Wissenschaft zu "kennen", zumahl nur die Wenigsten von ihnen tatsächlich auf diesen vielfältigen Gebieten, die die Wissenschaft ja umfasst, hinreichend bewandert sind, um mir auf meine Fragen plausible Antworten zu geben. Doch selbst die, die das können, landen irgendwann an einem Punkt, an dem sie nicht mehr weiter wissen und plötzlich behaupten "Das wird die Wissenschaft noch herausfinden". Diese Leute sind jedoch keine Hellseher, sie können nur vermuten oder eben glauben, dass sich irgendwann einmal alle Fragen, wie die nach dem "Woher", geklärt haben werden. Was soll also so idiotisch daran sein, für dieses etwas, das alles andere in Bewegung gebracht hat, das ganz am Anfang vor allem anderen war, ein oder mehrere göttliche Wesen verantwortlich zu machen? Zumahl ich es doch für eine wissenschaftliche Aussage halte, wenn man sagt "Von nichts kommt nichts", oder können Sie mir erklären, wie aus dem Nichts Materie geschaffen worden sein soll?" Der Kommandant starrte Samira überfallen an. Ihm war das Lachen sprichwörtlich in der Kehle stecken geblieben. Er selbst war mit der Wissenschaft seit seiner Schulzeit nicht mehr in Berührung gekommen. Er wusste nicht, wie er Samiras Aussage bewerten sollte, nicht einmal ob er das, in angetrunkenem Zustand, so nachvollziehen konnte und überlegte, ob er mit der Antwort, dass es eben etwas Zeitloses geben musste, aus dem alles andere entstanden ist, eine wissenschaftliche Position vertrat oder ob er Samira nicht dadurch sogar in die Karten spielte.
Nach kurzer Stille und angestrengtem Überlegen, bemerkte auch er immer stärker werdende Kopfschmerzen. Er legte seine Hand auf seine Stirn und atmete tief ein und aus. Samira blickte triumphierend auf den angespannten Kommandanten. Zeitgleich überkam sie ein plötzliches Gefühl der Panik. Was, wenn der Kommandant sich durch ihr forsches Auftreten und seine eigene Sprachlosigkeit gekränkt und gedemütigt fühlte? Sie konnte sich denken, was das für sie zur Folge gehabt hätte, und das beinhaltete vor allem körperliches Leid. In ihrer Hilflosigkeit versuchte sie sich an ihr "Spiegel-Ich" zu wenden und tatsächlich gelang es ihr, die Maske wieder aufzusetzen. Mit einer Miene, die unschuldiger nicht hätte aussehen können, erkundigte sich Samira mit einer Stimme voller Besorgnis, nach dem Wohlergehen des Kommandanten: "Herr Kommandant, fühlen Sie sich nicht wohl? Haben Sie Schmerzen? Verzeihen Sie vielmals, ich hätte Sie durch mein Geschwätz nicht so anstrengen dürfen. Ich bringe Ihnen sofort ein Glas frisches Wasser." Samira sprintete los, ohne auf eine Amtwort seitens des Kommandanten zu warten, viel zu groß war ihr Befürchten, ein plötzlicher Wutanfall hätte sie treffen können. Trotzdem erkannte sie im Augenwinkel beim Hinausgehen ein vorsichtiges Nicken des Kommandanten.

Als sie wieder in das Zimmer trat, überraschte sie der Kommandant mit einem Gesichtsausdruck, den Samira nie erwartet hätte: Er lächelte. Nur sanft, aber deutlich genug, dass Samira erkannte, dass dieses Lächeln ihr golt. Etwas verlegen stellte Samira das Glas voll Wasser auf den kleinen Tisch vor dem Sofa, genau neben die Schnapsflasche. Der Kommandant trank sofort einen großen Schluck Wasser und blickte Samira dann direkt in ihre blau-grünen Augen.
Es muss an der Hitze liegen, die das Feuer aus dem Kamin erzeugte, denn Samira spürte deutlich, wie ihr auf einen Schlag ganz Warm wurde, und sie errötete, als hätte sie wieder dieses hohe Fieber, unter welchem sie während ihrer langen Krankheit litt. Sie stand vor dem Kommandanten, ihre Hände berührten sich unbeholfen hinter ihrem Rücken. Sie entschied sich schnell, lieber den teuren Teppich anzusehen, statt dem Kommandanten in die Augen.
"Du scheinst ziemlich aufgeweckt zu sein, für einen Untermenschen." Der Kommandant schien dies wirklich als eine Art Kompliment zu meinen, und Samira fühlte sich wirklich weniger angegriffen als geschätzt. Dennoch brachte sie es nicht über sich, sich für diese Bemerkung zu bedanken. So nickte sie einfach lächelnd und erwiderte dann doch den Blick des Kommandanten, obgleich es ihr sichtlich schwerfiel. "Ich denke, ich werde mich in Zukunft öfter mit dir unterhalten. In solchen Zeiten brauche ich jemanden, der mich sowohl mit seiner Gesellschaft als auch mit seinen Gesprächen von meinem Alltag ablenken kann." Der letzte Satz ließ die Miene des Kommandanten wieder verdunkeln. Er richtete sich kurz darauf auf, und führte Samira in ihr Kellerloch, nachdem sie sowohl Wasserglas als auch Schnapsflasche wieder aufgeräumt hatte.

In ihrem dunklen Verließ lauschte Samira den langsam verstummenden Schritten des Kommandanten und begann die frühe Nacht Revue passieren zulassen. Gerne hätte sie den Kommandanten danach gefagt, was er mit "solchen Zeiten" gemeint hatte, doch sie wusste, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt gewesen wäre. Sie war sich aber sicher, dass dieser kommen würde. Ferner freue sie sich schon auf das nächste nächtliche Gespräch mit dem Kommandanten, denn sie erhoffte sich dadurch endlich Antworten auf ihre lang gestellten Fragen zu erhalten. Gleichzeitig ging ihr aber auch nicht mehr dieser eindrickliche Blick und das warme Lächeln des Kommandanten aus dem Kopf. Sie wunderte sich über sich selbst, denn dieses Gefühl von Fieber, nach dem sie sich plötzlich scheinbar zu sehnen schien, hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht gekannt.

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⏰ Last updated: Aug 03, 2018 ⏰

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Der Kommandant [PAUSIERT]Where stories live. Discover now