Erinnerung

751 30 5
                                    

Cathy war die Erste gewesen, die Samira damals angesprochen hat, als sie vor dem kleinen Café auf der Treppe saß. Samira hatte dort mehrere Stunden gesessen ohne dass sie jemand auch nur zu bemerken schien. Cathy war anders. Sogleich als sie Samira erblickte, entfachte dies ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht. Und auch Samira fiel das strahlende Mädchen mit den langen dunklen Locken auf der anderen Straßenseite auf. Sie lief direkt auf sie zu, setzte sich neben sie auf die Treppe ohne dabei den Eingang zu blockieren und richtete das Wort an sie. Glücklicherweise sprach sie deutlich und langsamer als der Durchschnitt, sodass Samira sie verstehen konnte. Ihre erste Frage war nicht die nach ihrem Namen, ihrer Herkunft oder warum sie hier vor dem Café saß, sondern die nach dem Namen der Farbe ihrer Augen. Samira hatte das zwar sehr verwundert, doch nach dem Cathy ihr bewundernd sagte, dass sie ihre Augen bezaubernd fand, antwortete Samira ihr immer noch etwas unsicher : "I guess it's a mixture between green, blue and maybe grey?" Cathy nickte zustimmend, doch erwähnte fasziniert, dass in der Mitte, wenn man ganz genau hinsieht, man auch einen kleinen goldenen Ring um die Pupille erkennt. Erst jetzt fragte sie Samira nach Namen, Alter und Herkunft. Brav erwiderte sie mit "Samira", "16" und "Germany", hing aber jeweils noch eine Gegenfrage hinterher. Das Mädchen mit den dunklen Locken schien kein Problem damit zu haben und so erfuhr Samira, dass sie Cathy genannt wurde, aber eigentlich Cathrine hieß, 17 Jahre war und in Burmingham lebte. Als Cathy sie jedoch fragte, warum sie plötzlich hier und scheinbar ganz alleine war, sprudelte es aus Samira förmlich einfach so heraus. Ihr gesamter Unmut über ihre Heimat und dass sie gezwungen war zu fliehen, solange sie noch konnte. Samira wusste in diesem Augenblick selbst kaum, weshalb sie dem Mädchen das alles erzählte, schließlich kannte sie sie kaum. Außerdem zeigte Cathy zwar deutlich Aufmerksamkeit, aber Samira erkannte in ihren rehbraunen Augen, dass sie diese nicht ganz aufrichtig war. Das war wohl auch der Grund, warum sie trotz langer Schimpftirade oberflächlich blieb und nichts allzu Persönliches preisgab. Dennoch fiel Samira schon damals Cathys unglaubliches Talent auf, durch ihre aufgeschlossene aber unscheinbare Art, jemanden dazu zubringen sich ihr zu öffnen. Als sie fertig war, lächelte Cathy sie aufmunternd an und machte das überraschende Angebot mit zu ihr zukommen. Samira war ganz verblüfft über die unbekannte Freundlichkeit, die ihr entgegengebracht wurde. Zwar hatte sie Zweifel und war sich unsicher, ob der Vorschlag sicher für sie sei, doch nahm sie ihn nach kurzem Überlegen dankend an. Sie hatte kein Geld mehr und kannte niemanden hier, was auch der Grund dafür war, weshalb sie die letzten paar Nächte in einem Hinterhof verbrachte. Das war eine unsichere Situation und wenn sie nicht mit Cathy mitging, musste sie wohl weiter dort schlafen, obwohl man das wohl kaum hätte Schlaf nennen können, dafür war die kontinuirliche Anspannung viel zu groß.
Zaghaft lief sie hinter dem Mädchen her, wobei sie versuchte sich den Weg einzuprägen, nur für alle Fälle. Nach nur wenigen Minuten stoppte Cathy mit ihr vor einem Haus, obgleich Haus es nicht ganz trifft, sondern viel eher einer Mansion. Samira staunte nicht schlecht, als sie das prachtvolle Domiziel erblickte, das ein steinernes historisches Gebäude darstellte. Vermutlich aus dem viktorianischen Zeitalter, aber mit modernen Elementen kombiniert, wie der neu angebauten Garage. Unglaübig und mit weit aufgerissenen Augen ließ sich Samira erst mehrmals von Cathy beteuern, dass das auch wirklich ihr Zuhause war, bevor sie die Marmorstufen hinauf zum Eingangstor stieg. Cathy läutete, woraufhin ein älterer Herr in Smoking ihnen die Tür öffnete und sie ins Wohnzimmer geleitete. Dort erwartete sie ein offener Raum in dessen Zentrum ein stark verzierter Kamin rückte. Vor ihm ein teurer Perserteppich und eine dunkelbraune Ledercouch, auf der Samira und Cathy platz nahmen. Samira fühlte sich wie die Hauptrolle in einem Kinofilm, was sie sich sogleich bildhaft vorstellte. "Would you like some tea?" Cathy riss sie damit aus ihren Gedanken. Sie schüttelte den Kopf, denn obwohl sie es besser wusste, hatte sie Angst danach eine imense Rechnung bezahlen zumüssen. Cathy hingegen trug dem älteren Herrn auf, ihr eine Tasse Earl Grey zu servieren. So vergingen einige Minuten, in denen sie sich nicht traute auch nur ein einziges Wort zu sagen, denn Cathys offensichtlicher Reichtum schüchterte sie ziemlich ein. Erst als ein stattlicher Mann in Anzug das Zimmer betrat, brach das Schweigen. Sofort fiel Samira seine breiten Schultern auf, seine tiefen Geheimratsecken und seine leuchtend waldgrünen Augen. Er begann sofort zu reden, doch so schnell, dass Samira kaum etwas verstand. Was ihr aber auffiel, war sein ernster und zugleich wohlwollender Ton. Erst richtete er sich ausschließlich an Cathy, welche ihm ebenso schnell antwortete, dann aber auch an Samira, wobei er sein Sprechtempo drosselte. Ruhig und freundlich fragte er nach ihrem Namen und ihrer Herkunft. Mit leicht zittriger Stimme antwortete sie gehorsam, doch noch wortkarger was Privates anging als bei Cathy. Er nickte und setzte sich dann auf einen dunklen Ledersessel schräg gegenüber des Sofas. Ohne weiteren Small-Talk unterbreitete er Samira dann ganz direkt ein Angebot: Informationen für Kost und Logie. Wie sie nämlich später erfuhr, war dieser Mann nicht nur Cathys Vater sondern arbeitete zudem auch für die britische Regierung, deren Appeasement-Politik zu scheitern drohte. Im Nachhinein erkannte Samira, dass wohl auch Cathy sie damals nicht angesprochen hatte, weil sie Mitleid mit ihr hatte oder wirklich von ihren Augen fasziniert war, sondern weil sie die Chance ergriffen hatte, günstig an eine neue Informationsquelle zu gelagen. Nichtsdestotrotz nahm Samira das Angebot an. Sie fühlte sich ihrer Heimat nicht mehr verpflichtet und war ihr nicht loyal ergeben. Hatte man sie verstoßen, so verstaß nun auch sie. Allerdings war sie sich bewusst, dass ihre Informationen wohl kaum der Regierung nutzen könnten, dennoch erzählte sie alles was sie wusste über die allgemein herrschenden Verhältnisse. Sie versuchte auch immer darauf aufmerksam zu machen, wie mit Minderheiten und gerade Juden in den letzten Jahren umgegangen wurde, doch erkannte sie schnell, dass diese Art von Information nicht die war, die diese Leute interessierte.
Den Rest der Zeit verbrachte Samira mit Cathy, die ihr voller Tatendrang weiter Englisch beibrachte und im Gegenzug Deutschunterricht von ihr erhielt. Obwohl Cathy anfangs nicht wirklich an Samira interessiert gewesen war, änderte sich dies je mehr Zeit sie miteinander verbrachten. Schon bald waren sie gute Freunde, die sich wie Schwestern behandelten. Trotz genügend Platz teilten sie sich beispielsweide ein Zimmer. Außerdem vertrauten sie sich immer mehr und so erfuhr Samira auch, dass Cathys Mutter früh verstarb und sie nun die einzige Frau in diesem Haushalt war. Welche Position genau Cathys Vater innehielt, das erfuhr Samira nie, jedoch war es offensichtlich, dass man dabei ganz gut verdiente und die Bewunderung seiner Tochter dafür erntete. Cathy wollte ihren Vater Stolz machen und in seine Fußstapfen treten, was der aber meist nur belächelte. Dennoch gab sie sich die größte Mühe und um dies zu würdigen, gab ihr Vater ihr ständig neue Aufgaben, die vor allem ihr Talent Leute in Plauderlaune zu versetzten würdigte. Er war es auch, der den Vorschlag machte, die beiden mit gefälschten Dokumenten nach Deutschland zu schicken. Eigentlich sollten sie nur ein paar Soldaten auf Heimaturlaub aushorchen, nicht dass das überhaupt nötig gewesen wäre, schließlich gab es genug Kriegsgefangene, auch im weiteren Verlauf. Ihr Vater wollte ihr wohl endlich das Gefühl vermitteln, dass er ihr vertraute und sie ihre Sache richtig macht, ohne dabei wirklich eine wichtige Mission für sie zu haben. Aber die Freude in Cathys Gesicht bewies ihm, dass sie das nicht gemerkt hatte. Sie glaubte fest daran, kriegsentscheidende Informationen beschaffen zu können, die ihrem Vaterland dienen würden. Samira kam nicht nur als Freundin und Wegbegleiterin mit ihr, denn Cathys Enthusiasmus beunruhigte ihren Vater doch sehr und so sollte Samira sie auch vor sich selbst schützen. Seine letzten Worte waren deshalb auch die Bitte an sie, gut auf seine "kleine Katze" aufzupassen. Im Nachhinein waren die zwei Jahre, die Samira bei Cathys Familie verbrachte, wohl die friedlichsten in ihrem Leben gewesen und sie war unentwegt glücklich dort gewesen. Oft hatte sie sich in den letzten Wochen gewünscht, dass sie nie diesen unwichtigen Auftrag erhalten hätten, aber was nützte es im Konjunktiv zu denken?
Die kleine Mission scheiterte jedenfalls. Letztlich übertreibte es Cathy, die inzwischen fast perfekt Deutsch sprach, und fragte wohl doch etwas zu neugierig nach. Der leicht untersetzte Herr am Nebentisch hatte mitgehört und entschied Cathy daraufhin mitzunehmen. Er arbeitete bei der Gestapo. Ihm war ebenfalls nicht entgangen, dass Cathy nicht allein gekommen war und so musste auch Samira ihm auf die Dienststelle folgen.
Dort angekomnen trennte man die beiden voneinander, um sie unabhängig "befragen" zu können, wobei die Verhörstrategie aus einem Wechsel zwischen wohlwollendem Zugerede und scharfen Drohungen und Unterstellungen bestand. Der Mann, der Samiras Verhör leitete, war zudem durch sein furchteinflößendes Erscheinungsbild dazu in der Lage, die meisten in Furcht zu versetzten: Eine große Narbe verlief quer über sein Gesicht und endete knapp über seiner linken Augenbraue. Kleine, aber scharf aufblitzende Augen fixierten sie ununterbrochen und seine prankenähnlichen Hände, die oft zum Schlag ausholten, aber sie dann doch verschonten, denn Samira hielt ihm stand und gab aufrichtig die einstudierte Geschichte wieder, die sie vor der Abreise zusammen mit Cathys Vater einstudierten für genau solche Fälle. Nach mehreren Stunden, es musste schon längst Mitternacht geschlagen haben, ließ er dann ab von ihr. Er glaubte ihr und wollte sie daraufhin gehen lassen. Genau in dem Moment, als Samira dann aber wieder aufstehen wollte, öffnete sich die schwere Tür zum Verhörraum und hinein trat ein junger Mann, der dem Narbengesicht eine Mitteilung überreichte. Nachdem dieser die Nachricht gelesen hatte, trat er dicht an Samira heran und schlug ihr mit voller Kraft ins Gesicht, sodass diese zu Boden fiel. Cathy konnte dem Druck nicht Stand halten und war zusammengebrochen. Ihr Geständnis führte dazu, dass beide in dieses Konzentrationslager gebracht wurden, wegen Spionage. Samira überdies auch, weil sie wegen Hochverrates angeklagt wurde, da man über ihre wahre Identität aufklären und ältere Dokumente auftreiben konnte. Wäre kein Krieg, so hätte man sie auf der Stelle hinrichten lassen, hatte der Richter gesagt, so aber hoffe er, dass sie doch noch diesem Land von Nutzen sein könne.
Beide hatten sich gut zugeredet, dass sie auch diese Zeit gut überstehen würden, schließlich waren sie jung und egal wie hart die Arbeit auch war, sie würden sich gegenseitig helfen und aufeinander aufpassen, hatte Samira das doch sogar Cathys Vater versprochen. Keine von beiden hätte aber mit dieser Hölle gerechnet, wo Willkür und Grausamkeit regierten. Eine Hölle, die letzten Endes auch Cathys Seele einforderte, obgleich sie eigentlich kein Verbrechen begangen hatte. Sie hatten nie wichtige Informationen erhalten, war das doch nie eigentliche Absicht ihres Vaters. Dennoch starb Cathy letztlich genau dafür nach nur wenigen aber qualvollen Wochen.

Als Samira die Augen öffnete sah sie in das Gesicht eines Mörders.
Der Kommandant saß auf einem Schemel und starrte sie an. Er schien sich zu kurz gefreut zu haben, denn sie bemerkte ein kleines Lächeln in seinem sonst so gequält dreinblickenden Gesichts, welches aber schnell wieder verschwand. Seine Augen wirkten seltsam traurig. Samira hingegen spürte nichts. Ausdruckslos nahm sie war, auf einem harten Bett in einem kahlen Zimmer zu liegen. Ein Zimmer auf der Krankenstation vermutlich, denn Samira erinnerte sich, dass sie das Bewusstsein verloren hatte. "Wieso - " setzte der Kommandant zur Frage an, wurde aber sofort von Samira unterbrochen: "Verschwinden Sie." Es war ihr egal, dass diese Worte einem sicheren Todesurteil glichen. Alles war ihr egal. Dann starb sie eben auch hier. Wen kümmert es? Soll er sie doch auf der Stelle erschießen. Der Kommandant aber stand auf und verließ tatsächlich wortlos das Zimmer. In seinen Augen war kein Anzeichen von Wut über die Respektlosigkeit Samiras, sondern nur tiefe Leere. Erst als die Tür hinter ihn zufiel, kehrten Samiras Gefühle zurück und sie brach in Tränen aus.

Der Kommandant [PAUSIERT]Hikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin