Schmerz

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Tuberkulose. Samira wusste nicht gerade viel darüber. Lediglich, dass es sich dabei um eine Infektionskrankheit handelte, die in der Regel die Lunge befällt. Außerdem würde es wohl einige Tage, vielleicht sogar Wochen, dauern, bis erste Symptome deutlich werden würden. Vor diesen fürchtete sie sich aber ungemein, denn Unwissenheit verursacht oft die größten Ängste. Es ist das Unbekannte, was das Hirn nicht einordnen kann und sich so weder Körper noch Geist darauf einstellen können. Tatsächlich war alles, wovor sie sich fürchtete, verbunden mit Unkenntnis. Beispielsweise war ihre Angst vor Schmerzen darin begründet, dass sie nicht wusste, ob, wann oder welchen Schmerz sie erleiden würde. Spürt man jedoch Schmerzen fürchtet man sich nicht mehr vor ihnen sondern höchstens davor, sie könnten noch intensiver werden. Angst ist unweigerlich mit fehlendem Wissen verbunden.
Nach der Injektion wurde Samira von einem anderen Aufseher den ganzen Weg wieder zurück geführt. Wieder musste sie laufen und wieder fuhr Wehrer dicht hinter den beiden her. Benommen fügte sie sich allem und ignorierte dabei fast vollständig Wehrers Drohung beim Abschied: "Wir sehen uns bald wieder, Sara, um dich endlich für deine Missetaten büßen zu lassen." Den restlichen Tag über, war sie zu nichts mehr zu gebrauchen. Sie konzentrierte sich nicht auf ihre Arbeit, was zur Folge hatte, dass sie langsamer war als sonst. Das bemerkten leider nicht nur Mitarbeiter sondern auch der Kapo, der mit wachsamem Auge die Reihen auf- und ablief. Als er Samiras Lethargie bemerkte, reagierte er sehr schnell. Er ging geradewegs zu ihr hin und weckte sie aus ihrer Abwesenheit mit einem gellenden Schrei:"Du nichtsnutziger Jude! Du sollst hier arbeiten, nicht schlafen, aber deine Rasse ist es ja nicht anders gewöhnt. Ehrliche und anstrengende Arbeit kennt ihr wohl nicht. Na warte, das wird Folgen haben!" Samira zuckte zusammen und blickte den Kapo verständnislos an. Seine Worte klangen so überzeugt, dass sie sich augenblicklich vergewissern wollte, ob nicht ein Aufseher vor ihr stand. Hätte sie nur sein Gesicht gesehen, dann wäre ihr auch kein Unterschied aufgefallen. Kein Funken Verständnis, Empathie oder zumindest Angst vor Konsequenzen, die ihn betreffen könnten, konnte sie erkennen. Im Gegenteil, vor ihr stand ein Mann, der aufrichtig gesprochen hatte und sie war sich sicher, dass er wohl nicht erst seitdem er hier ist, so denkt. Angespannt wartete Samira auf den Kapo und den Aufseher, den er sicher mitbringen würde. Ihre Gedanken und Gefühle überschlugen sich. Der Kapo kam tatsächlich nicht allein zurück, sondern wie sie sich es schon gedacht hatte, mit einer Aufsichtsperson. Doch es war kein unbekanntes Gesicht, was sich da näherte. Es war die dünne, rotblonde Aufseherin, welche Samira damals ihre Nummer gab. In einem kurzen Moment der Hoffnung weiteten sich Samiras Augen und sie lächelte kurz, bis ihr einfiel, dass sie gerade auf die Hilfe eines Nazis hoffte. Enttäuscht ließ sie den Kopf hängen und versuchte sich selbst Mut einzureden - vergeblich. "Sehen Sie. Ich sagte doch, dass Nummer 3895 weit zurück liegt." Siegessicher verschränkte der Kapo die Arme und lächelte gehässig. Die Aufseherin sah sich prüfend an Samiras Arbeitsplatz um. Sie musterte auch Samira genau, die völlig entkräftet mit immer noch hängendem Kopf da saß. Dann blickte sie auf die große Wanduhr und erwiderte endlich: "Nun, dafür, dass Nummer 3859 erst seit einer halben Stunde wieder da ist, hat sie aber bereits einiges an Gewehrmunition verpackt." Sowohl der Kapo als auch Samira sahen sie überrascht an. "Nein, nein, verzeihen Sie mir bitte, aber ich muss Sie korrigieren. Nummer 3859 arbeitet seit zwei Stunden nun schon wieder hier", verbesserte sie der Kapo entrüstet. Die Aufseherin sah ihn scharf an und ohne gewohntes Zittern in der Stimme fragte sie ihn vorwurfsvoll: "Willst du damit etwa sagen, dass ich lüge?" Der Kapo wich erschrocken zurück. Nun zitterte seine Stimme: "S-S-Selbstverständlich n-nicht! Ich meinte ja nur - ", die Aufseherin unterbrach ihn, bevor er seinen Erklärungsversuch beenden konnte und würgte ihn mit einem trockenen "Sehr gut" ab. Dann wandte sie sich an Samira, welche die Szene mit Staunen verfolgt hatte: "Bitte, führen Sie ihre Arbeit einfach genau so weiter." Samira nickte sprachlos. Völlig perplex glaubte sie im Nachhinein noch ein sanftes Lächeln bemerckt zu haben, aber vielleicht hatte sie sich das nur eingebildet. Der Kapo jedenfalls sah sie mit ähnlich verachtendem Ausdruck in den Augen an, wie Wehrer einst. Ganz plötzlich kamen ihr mehrere Gemeinsamkeiten der beiden in den Sinn: Sowohl Wehrer als auch der Kapo "duzten" sie verächtlich. Beide sahen sie mit diesem herablassenden Blick an, ließen bereits antisemitische Kommentare ab und beide wünschten ihr Schlechtes. Das teilte er natürlich mit vielen Aufsehern. Eigentlich mit allen, die Samira kannte, außer mit dieser hier. Sie erinnerte sie auch etwas an den Kommandanten. Nur wieso arbeitete sie hier, wenn sie nicht genauso überzeugte Nationalsozialistin war oder versteckte sie es einfach besonders gut? Aber warum half sie ihr dann? Erneut rettete sie ihr eigentlicher Feind hier. Diese Fragen verwirrten und beschäftigten sie sehr, aber zumindest lenkten sie sie von der Tuberkulose-Infizierung ab.
Völlig erschöpft von der ganzen Grübelei, fiel Samira wie ein Stein auf ihren Platz im Holzgestell. Dabei wunderte sie sich noch, wieso sie soviel Platz zu haben schien...
Die Antwort folgte am nächsten Morgen. Samira wurde schon vor der kreischenden Sirene durch ein leises, aber für sie dennoch hörbares Schluchzen geweckt. Verschlafen öffnete sie die Augen, die sich erst langsam an die herrschende Dunkelheit gewöhnten. Sie erkannte schemenhaft die Umrisse einer zusammengekauert daliegenden Person neben sich, die mit dem Rücken zu ihr gedreht war. Es war Helen, die da weinte. Sanft legte sie die Hand auf ihre Schulter und flüsterte: "Helen, he Helen, ist etwas geschehen? Wieso weinst du so?" Aber Helen antwortete nicht, stattdessen drehte sie sich ihr nur stumm entgegen. Samira musste erst genau hinsehen, wobei sich ihre Augen zu Schlitzen formten, bevor sie starr vor Schock die Augen weit aufriss. Helens Lippen sahen verbrannt aus, die Teile ihrer Arme und Beine, die nicht von Stoff verdeckt wurden, waren übersäht mit Schnittwunden und auf ihrem Kopf konnte Samira eine unsaubere kahle Stelle entdecken. Das Schlimmste war aber, dass sie genau wusste, dass sie noch nicht das gesamte Ausmaß der Verletzungen gesehen hatte, da war sie sich sicher. Nachdem sie sich wieder etwas gefangen hatte, fragte sie Helen mit ernster Miene erst völlig ohne jegliche Emotion: "Wer hat dir das angetan?" Ihre Frage erinnerte sie dabei selbst an das, was sie Cathy schon gefragt hatte. Helen antwortete aber nicht, stattdessen begann sie wieder stärker zu weinen. Samira nahm sie dabei stumm im den Arm und legte sich gemeinsam wieder mit ihr hin. Dabei streichte sie langsam und sanft ihren Rücken ohne noch irgendetwas in dieser Nacht zu sagen, denn sie konnte sich denken, dass Helen im Augenblick nichts mehr zu ihr sagen wollte und, dass Schlaf wohl das beste für sie jetzt sein würde. Sie hoffte sehr, dass Helens Schlaf erholsam für sie sein würde und ihr Unterbewusstsein sie die qualvollen Erlebnisse nicht noch einmal durchleben lassen würde, sondern sie ruhen lassen würde. Nur im Schlaf war es den Häftlingen möglich, dss Hier und Jetzt vollkommen zu vergessen, diesen Ort hinter sich zu lassen und sogar das Gefühl von Freiheit und Sicherheit zu verspüren. Auch wenn es nur für einen kurzen Moment war, so war er oftmals der wichtigste am ganzen Tag, sofern es einem eben gelingen würde, sich im Traum zu distanzieren.
Der nächste Morgen kam wie sonst auch viel zu früh. Samira erwachte wenige Sekunden vor Helen, aber sie konnte erkennen, dass sie sie noch immer im Arm hielt. Zum ersten Mal stand sie mit einem Lächeln hier auf. Während die anderen wie sonst auch hetzten, um nicht zu spät zu kommen - sofern sie dazu noch in der Lage waren-, ging Samira langsam mit Helen in den versifften Waschraum. Dort striff Helen nach etwas Zugerede von Samira ihr gestreiftes Kleid aus und Samira erstarrte von Neuem. Der Anblick schockierte. Überall an ihrem Körper befanden sich unterschiedliche Wunden und Verletzungen, darunter weitere Verbrennungen und Schnitte. "Bitte Helen, sag mir was passiert ist!" Samira klang nicht nur entgeistert sondern auch verzweifelt. Sie sah zwar, dass Helen im Moment nicht mehr so starke Schmerzen hatte, aber ihre Augen leideten und so leidete Samira. Endlich öffnete sich Helen ein wenig: "Damals sls wir ausgesucht wurden, da wusste ich nicht, dass ich für so einen Versuch hinhalten müsste. Hätte ich das gewusst, hätte ich mich auf der Stelle von ihnen erschießen lassen." Helen begann wieder zu weinen und Samira spürte Zorn in sich. Nachdem Helen kurz durchatmete führte sie fort: "Man hat mich zu diesem Sadisten geführt, der sich selbst als Arzt betitelte und ich war auch noch so naiv zu glauben, dass er tatsächlich eine Untersuchung an mir durchführen würde... Er plauderte ganz freundlich mit mir und bat mich dann höflich, mich zu entkleiden, doch ich Dummkopf schämte mich und zögerte. Daraufhin zeigte er sein wahres Gesicht: Ungeduldig befahl er dieser dicken Aufseherin mich auszuziehen und sie fesselte meine Hände über meinem Kopf. Danach...danach..." Weiter konnte sie nicht sprechen. Allein der Gedanke an das erlebte, brachte sie heftigst zum Zittern. Samira war mittlerweile ganz schlecht vor Wut. Gezwungenermaßen verließen beide die Baracke ohne sich an diesem Morgen zu waschen, doch kümmern tat sie das beide nicht. Samira wusste, dass Tuberkulose eine tödliche Krankheit war, ganz besonders hier, aber trotzdem war sie insgeheim dankbar nicht für Helens Experiment eingeteilt worden zu sein. Natürlich schämte sie sich dafür, aber das schlimmst Mögliche war doch von diesen Bestien hier gebrochen zu werden und wenn sie Helen so ansah, dann war sie dies mittlerweile. Keine Kraft, keine Ausdauer oder irgendeinen Willen erkannte sie in ihren Augen mehr. Nicht einmal mehr Lebenswille. Sie ähnelte immer stärker den lebenden Toten hier. Samira hingegen hatte diesen starken Willen noch und sie würde ihn auch um alles in der Welt verteidigen, aber jetzt hatte sie gerade noch ein Ziel. Kein nobles oder ehrwürdiges Ziel, sondern genau genommen ein recht primitives und eigentlich sogar niederträchtiges, denn es war Rache. Rache für Helen und Rache für die anderen Opfer, die sie kennenlernte und die sich zu Tode schufteten oder sonst wie qualvoll verendeten und denen man jede Art von Selbstbewusstsein nahm.
Der Appell verlief gewohnheitsgemäß und auch das sogenannte Frühstück bot keinerlei Überraschungen, doch fiel Samira auf, dass Helen sich seit dem heutigen Morgen kein Stück zu verändern schien. Der leere Ausdruck in ihren Augen blieb und ihre Miene zeigte, dass sie endgültig aufgegeben hatte. Ihre Würde wurde ihr genommen und sie hatte keine Kraft mehr, sie zurück zu erobern.
Eigentlich dachte und hoffte Samira, dass abgesehen davon, nichts weiter Ungewöhnliches an diesem Tag geschehen würde, doch wurde sie dahingehend bitterlich enttäuscht, denn vor der Baracke erwartete sie die breit grinsende Visage Wehrers erneut. Er glaubte wohl eine noch resigniertere und ängstlichere Samira als am Vortag zu treffen, doch bei seinem Anblick spürte Samira nur rasenden Zorn und tiefen Hass. Darum fiel es ihr leicht ihm selbstsicher und erhobenen Hauptes entgegen zutreten. Etwas verwundert verließ ihn sein Lächeln und seine Miene verdunkelte sich. Trotzdem gefiel es ihm sichtlich, folgendes ihr zu zurufen: "Es wird endlich Zeit für deine Bestrafung!"

Der Kommandant [PAUSIERT]Where stories live. Discover now