Einweisung

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"Raya, Samira!" Sie zitterte bereits einige Minuten, bevor sie ihren Namen hörte. Vorsichtig arbeitete sie sich erst durch die zweite Reihe, aus der sie kam, dann durch die erste, bis sie sich vor Doktor Mechtner platzierte. Sie war fast einen ganzen Kopf kleiner als er und wirkte durch ihre leicht gekrümmte Haltung, die ihr vergebens Schutz vor der Kälte bieten sollte, noch mickriger. Ihren Kopf neigte sie gen frostiger Erde. Der eisige Wind wehte durch ihr feines dunkelblondes Haar, welches knapp unter ihren Schulterblättern endete. Ihre helle Haut hatte bereits etwas an Farbe verloren und sowohl Finger als auch Ohren brannten bereits vor Kälte. Doktor Mechtner, welcher selbst über seinem weißen Kittel einen dicken Ledermantel trug, hatte sie innerlich bereits aussortiert, bevor er mit seiner Untersuchung begann und sie aufforderte ihre Arme und Beine vom Körper abzuspreizen. Just in dem Augenblick, in dem Mechtner das Wort direkt an sie richtete, erhob sie ihr Haupt und starrte ihm direkt in seine hellen braunen Augen. Sie gehorchte zwar, doch in ihrem Blick erkannte dieser einen unbeugsamen Willen, der ihn für einen kurzen Augenblick erstarren ließ. Schnell fing er sich wieder und schob seine Brille zurecht, bevor er damit begann, ihren zierlichen Körper abzutasten. Er striff dabei jede Körperstelle, doch in ihrem Blick änderte sich nichts. Ihre grün-blauen Augen funkelten ihn aufmerksam an. Der Kommandant beobachtete die Szene, doch anders als bei den anderen Frauen, spürte er ein merkwürdiges Gefühl dabei. Er konnte einfach nicht aufhören, ihre Augen zu fixieren. "Geeignet." Die Worte des Doktors rissen ihn aus dieser Lethargie. "Mal sehen. Sie sind also 18 Jahre jung, Wohnsitz in Burmingham und ihre Rasse ist folglich...jüdisch, wenn ich dass ihrem Pass korrekt entnehme? Dabei sind sie doch eine der beiden englischen Spioninnen." Mechtner las dabei aus einem der Dokumente, die Wehrer ihm reichte. "Dieser Ausweis wurde mir damals in Deutschland so ausgestellt. Nach meiner Flucht aus diesem Tyrannenstaat, fand ich in England einen neuen Wohnsitz und die Möglichkeit,für die britische Regierung zu arbeiten, wenn das ihre eigentliche Frage beantwortet." Ohne jeglichen Ausdruck von Emotion kamen diese Worte aus ihr, wobei sie Mechtner noch immer anstarrte. "Tyrannenstaat?!" Wehrer hatte sich bis jetzt zwar zurückgehalten, doch konnte er diese Wortwahl nicht einfach ungestraft überhören und so marschierte er direkt auf Samira zu. "Was glaubst du eigentlich, wer du bist, du dreckige Judensau?!" Aus ihm Sprach pure Verachtung in diesem Augenblick. Er erhob die rechte Hand in Lederhandschuh und schlug Samira kräftig ins Gesicht. Diese taumelte erst und stürzte dann direkt zu Boden, wo sie sich erstmal fangen musste. Sie hatte den dicken Mann, welcher deutlich größer war, als sie selbst zwar auf sich zukommen sehen, doch anstatt zurückzuweichen, hatte ihr Blick nun ihn fixiert. Auch als der Schlag sie traf, versuchte sie sich weder zu wehren noch zu schreien. Sie berührte ihre schmerzende Wange, dort wo die Faust sie traf, und bemerkte wie langsam das Taubheitsgefühl dort einsetzte und den pochenden Schmerz überdeckte. Ungerührt richtete sie sich wieder auf und stand den beiden Männern stumm gegenüber. Der Kommandant war erstaunt. Er hatte zwar den Drang tief in sich gespürt einzugreifen, obwohl er nicht genau wusste wie, aber ging diesem Bedürfnis nicht nach. Stattdessen beobachtete er alles ganz genau und war überrascht, als das junge Mädchen so unbeeindruckt reagierte. Sie war zwar ein weiblicher Spion, doch so ein tapferes Verhalten war selbst für diese ungewöhnlich - noch dazu für eine Frau.
Nun musste er aber doch die Führung übernehmen, da Wehrer sich noch immer wutentbrannt vor ihr aufbäumte und die Situation sich so von allein wohl kaum auflösen konnte. Folglich stapfte er auf die junge Frau zu und sah ihr streng in die Augen. Er war zwar sowieso ein ziemlich großer und breitgebauter Mann, doch vor ihr wirkte er fast wie Golem, der das Mädchen ohne Probleme hätte zerquetschen können, wenn er denn gewollt hätte. Fast, schließlich war der Kommandant durch und durch arisch. Noch dazu vorbildhaft. Eine helle Haut kleidete ihn und eisig blaue Augen zierten sein markantes Gesicht. Seine honigblonden Haare hatte er wie jeden Tag erst leicht zur Seite gegeelt, dann nach hinten. Sein Haaransatz hingegen war ein wenig dunkler und glich so fast schon ihrem dunkelblonden Haar, ebenso wie seine Augenbrauen.  Einzig und allein die kleine Narbe über der rechten Augenbraue hätte man als sein einziges Manko aufzeigen können, doch viel diese nur bei genauerem Betrachten auf. Samira tat dies. Besonders die Insignien fielen ihr auf: Das SS-Symbol, wie es perfekt poliert aufblitzte, ebenso der Totenschädel, der plötzlich ein echtes Gesicht zu bekommen schien und Samira laut auslachte. Mit verachtender Miene nahm sie dies zur Kenntnis und fuhr dann fort. Sie untersuchte ihn ganz genau, bevor sie auch ihm eindringlich in seine Augen starrte. "Hör gut zu", begann er in bestimmt ernstem Tonfall. "Eine solche Ausdrucksweise dulde ich in keinster Weise und du kannst von Glück reden, dass dies heute dein erster Tag ist, denn ansonsten könntest du mir glauben, dass dies deine letzten Worte gewesen wären. Also wirst du in Zukunft in respektvoller Weise über diese glorreiche Nation und ihren Führer sprechen, der dieses Land von der Unmenschlichkeit der Niederlage befreite und uns zu neuem Ansehen verhalf. Verstanden?" Samira wusste, dass er es ernst meinte und sie gezwungen war auf diese Ansprache zu antworten und der darin enthaltenen Forderung zuzustimmen. "Verstanden", antwortete sie kurz und trocken. "Gut, dann können Sie nun fortfahren, Doktor Mechnter." Der Mediziner nickte und fuhr in gewohnter Weise fort. Samira versuchte währenddessen das Verhalten des Kommandanten zu analysieren, denn sie war felsenfest davon überzeugt, dass dieser Mann nicht aufrichtig gesprochen hatte. Sie kannte die Art und Weise in der Nazis dachten und sprachen und es war auch nicht die Wortwahl, die sie misstrauen ließ. Während er gesprochen hatte, war er nicht in der Lage gewesen sie so ruhig anzusehen wie seine Stimme erklang. Viel eher bewegten sich seine Pupillen dabei schnell hin und her, als ob sie eine kleine Fliege verfolgten, aber er konnte dennoch mühevoll den Blick in ihren Augen halten. Jedoch konnte sie ansonsten nichts Ungewöhnliches feststellen. Zumal der Blick des Kommandanten nun von ihr abgelassen hatte und nun die anderen Frauen musterte.
Schließlich hatte Mechtner sich für acht Frauen entschieden und zog sich vorerst zurück. Nun richtete der Kommandant das Wort an alle und begann mit der Lagereinweisung. Sie enthielt hauptsächlich die zu beachtenden Regeln und Strafandrohungen, sollten diese missachtet werden. Dabei fiel jedem auf, wie monoton er diese Ansprache hielt. Er musste sie wohl schon etliche Male gehalten haben, obwohl dieses Lager verhältnismäßig klein war. Schließlich, nach nun drei Stunden angespanntem Stillgestanden in eisiger Kälte, wurden die wenigen Männer endgültig von den Frauen getrennt und jeweils zu einer anderen Effektenkammer gebracht. Auffalend hierbei war auch die Tatsache, dass weibliche Aufseher deutlich in der Minderheit lagen, lediglich zwei Aufseherinnen befanden sich bei insgesamt 34 Insassinen und begleiteten sie als einzige in die Kammer hinein. Vier weitere männliche Aufseher warteten vor der Außentür. Auch die acht Auserwählten mussten den anderen Frauen in die Effektenkammer folgen, wo sie gezwungen wurden ihre Kleidung und persönliche Habe abzugeben. Samira streubte sich innerlich, denn sie wollte um jeden Preis ein kleines goldenes Armkettchen behalten. Ihre Kleidung war ihr egal, ebenso ihre echt silbernen Ohrstecker, aber dieses Kettchen hatte eine besondere Bedeutung für sie. Es war ein Geschenk. Panisch versuchte sie das Kettchen zusammenzupressen und irgendwie zu verstecken, als sie eine Aufseherin entdeckte, die geradewegs auf sie zulief. Allerdings war sie mittlerweile vollkommen nackt und sah keine andere Möglichkeit als es zu verschlucken. Sie steckte den Verschluss als erstes in den Mund, um dann alles in einem Zug herunter zu würgen. Doch als sie ihren Kopf schwungvoll in den Nacken warf, ließ eine innere Kraft nicht zu, dass sie ihr Kettchen verschluckte. Vielleicht war es auch einfach Angst, die sie hemmte. Verzweiflung kam in ihr auf, denn die Aufseherin näherte sich ihr nun schneller. Sie hatte sie gesehen. Gesehen, wie sie scheiterte und nun würde sie ihr das Letzte ihrer Besitztümer nehmen. Das letzte Stück greifbare Vergangenheit. Tatsächlich kam es so. Die Frau zögerte nicht lange und rieß Samira das Kettchen aus der Hand. Dabei stieß sie sie hart zurück und brachte Samira zu Fall, während sie laut umher zeterte. Ihre dicken Backen plusterten sich dabei auf und ihr Kopf wurde rot. Doch konnte Samira ihre Worte nicht hören. Sie wollte sich wehren, aber ihre Vernunft steuerte immer noch ihren Kopf und so auch ihren Körper. Würde sie die Aufseherin angreifen, dann würde sie damit ihr Todesurteil unterzeichnen und sie wollte doch um jeden Preis überleben. Sie hatte ein Ziel. Sich dieser Tatsache bewusst, blieb sie auf dem harten Boden liegen, bis die kräftige, aschblonde Aufseherin verschwunden war. Mit Wut im Bauch und Tränen in den Augen erhob sich Samira wieder. "Mach weiter"sagte sie sich immer wieder im Kopf vor und versuchte sich selbst damit zu motivieren.
Nach kurzem Warten wurden die Insassinen wieder aufgeteilt. Die Auserwählten wurden von der anderen Aufseherin in einen kleinen separaten Raum geführt, in dem sich acht kleine Zuber mit Wasser befanden. Sie schien auffällig dünn zu sein, denn ihre Wangenknochen traten stark hervor und auch ihre Finger wirkten ziemlich knochig, als sie die Frauen zu ihren Zubern zuwies. Streng hatte sie ihr rotblondes Haar zu einem Dutt zurückgebunden. Außerdem stotterte sie leicht, während sie die Anweisung vortrug, die acht Frauen müssen sich nun gründlich vor ihren Augen waschen. Ihre Augen waren klein und befanden sich tief in ihren Augenhöhlen, so konnte Samira nicht genau erkennen, wann sie es war, die gerade angestarrt wurde. Doch spürte sie ihren Blick. Diese Aufseherin schien ruhiger zu sein, als die "Diebin", da war sich Samira sicher und glaubte sie auch gesehen zu haben, wie diese Frau kurz gelächelt hatte, als sie Samiras prüfenden Blick bemerkt hatte. Nur ganz kurz und ohne dabei groß ihre Mundwinkel zu verziehen, aber dennoch sichtbar. Dabei war es ihr möglich gewesen, einen kurzen direkten Blick in ihre dunkelblauen Augen zu erhaschen. Diese schienen dabei etwas zu zeigen, dass Samira hier zum ersten Mal sah: Menschlichkeit. Sowohl Wehrer als auch Mechtner hatten nichts davon. Die kräftige Aufseherin genauso wenig wie der Aufseher, der nach der toten Frau im Zug gesehen hatte. Sie alle waren Monster, die sich in menschlichen Körpern versteckten, um so den Anschein vom Mensch-sein wahren zu können, doch Samira konnte die Wahrheit erkennen. Es war ihre Gabe, in den Menschen wie in einem Buch zu lesen. Schon als Kind wusste sie, welchen Freunden sie vertrauen konnte und von wem sie sich besser vernhalten sollte. Nur deshalb war es ihr auch möglich gewesen, bis zu diesem Tage überlebt zu haben. Nur einen Mann hatte sie hier noch nicht durchschauen können: Den Kommandanten, aber sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis auch er sich vor ihr bekennen musste.

Der Kommandant [PAUSIERT]Où les histoires vivent. Découvrez maintenant